Protocol of the Session on June 23, 2016

Entweder bringt die Erweiterung der Liste der sicheren Herkunftsländer in der Praxis überhaupt nichts, weil trotzdem eine individuelle Prüfung erfolgt und weil damit das Grundrecht auf Asyl eben nicht beschnitten wird; so hat Herr Schäfer-Gümbel argumentiert: dass das mitnichten eine Einschränkung sei.

(Florian Rentsch (FDP): Der Ministerpräsident hat es doch klar erklärt!)

Dann frage ich mich: Warum machen wir das überhaupt? Warum wollen Sie das überhaupt durchsetzen, wenn es doch gar nichts bringt?

(Beifall bei der LINKEN und der Abg. Mürvet Öz- türk (fraktionslos) – Thorsten Schäfer-Gümbel (SPD): Das steht im Antrag!)

Auf der anderen Seite wurde doch vom anderen Teil der Großen Koalition argumentiert, es bewirke eben doch etwas, Menschen bekämen doch weniger Schutz. Dann allerdings würden wir von einer Aushöhlung des Asylrechts sprechen – die die SPD jetzt gerade verneint hat.

Wenn man argumentiert, grundsätzlich gelten diese Staaten als sicher, und im Zweifelsfall müssen die Menschen aus diesen Staaten in irgendeiner Form widerlegen, dass sie in diesen Staaten sicher sind – das hat auch der Ministerpräsident gesagt –, dann frage ich mich: Wie soll denn, bitte, ein Flüchtling das tun – ein Flüchtling, der keinen Rechtsschutz hat? Wie soll denn dieser Mensch nachvollziehbar beweisen können, dass er beispielsweise Folterungen ausgesetzt war? Wie soll das jemand beweisen können, wenn es allenfalls Zeugenaussagen gibt, auf die man sich beziehen kann, es aber natürlich nicht amtlich dokumentiert ist?

Sie erlegen Flüchtlingen – also Menschen, die wir schützen müssen – mit dieser Beweislast eine solche Bürde auf, dass es völlig unverantwortlich ist.

(Beifall bei der LINKEN und der Abg. Mürvet Öz- türk (fraktionslos))

Ich habe doch aus Berichten zitiert. Das ist aber genau das Problem: Bei der Bundesregierung geht es offensichtlich überhaupt nicht um die tatsächliche Situation in diesem Land, wenn ein Land sicheres Herkunftsland wird. Dafür ist doch der Kosovo das beste Beispiel. Zuerst verlängert man den Bundeswehreinsatz im Kosovo – und dann erklärt man es zum sicheren Herkunftsland.

(Zustimmung der Abg. Mürvet Öztürk (fraktions- los))

Man muss sich doch wenigstens entscheiden, welche dieser beiden Möglichkeiten man wählt. Wenn man sich anschaut, wie beispielsweise die Bundesverteidigungsministerin aussieht und wie geschützt sie ist, wenn sie in den Kosovo fährt, dann frage ich mich: Sieht so ein sicheres Herkunftsland aus?

(Beifall bei der LINKEN und der Abg. Mürvet Öz- türk (fraktionslos))

Kommen wir jetzt noch einmal zu den Ländern in Nordafrika, zu den Maghrebländern.

Willi van Ooyen und ich, wir waren im letzten Jahr auf einer Reise in Nordafrika und auf Sizilien. Wir wollten uns dort anschauen, wie die Flüchtlingssituation vor Ort ist. Denn wir reden viel über die Westbalkanroute, das ist wichtig, aber die tödlichste Route über das Mittelmeer ist

nach wie vor die zwischen Nordafrika und Spanien bzw. zwischen Nordafrika und Italien.

(Thorsten Schäfer-Gümbel (SPD): Stimmt!)

Wir haben mit dem Bürgermeister von Palermo gesprochen. Er hat uns erzählt, dass er an der Gemeindevertretung eine Tafel hat anbringen lassen, auf der alle Menschen vermerkt sind, die im Mittelmeer ertrunken und tot an Land gespült worden sind. Mittlerweile befinden sich auf dieser Tafel 23.000 Menschen – nur die Hälfte mit Namen, von der anderen Hälfte war die Identität nicht mehr zu ermitteln.

Das sind 23.000 Menschen, die sich vor Not, Hunger, Elend, Unterdrückung und Krieg auf den Weg gemacht haben, in der Hoffnung auf ein besseres Leben für sich, für ihre Familien und ihre Kinder, und die im Mittelmeer ertrunken sind.

Thorsten Schäfer-Gümbel hat eben den Begriff der Abschottung kritisiert, den ich gewählt habe – als ich gesagt habe, dass das EU-Regime ein Regime der Abschottung ist. Ich will das erklären. Wenn in Italien Fischer, die Ertrinkende aus dem Wasser retten, wegen Beihilfe zu illegaler Einreise angeklagt werden, dann ist das menschenverachtend und zynisch,

(Thorsten Schäfer-Gümbel (SPD): Ja!)

und dann gehört das genau zu dieser Abschottungspolitik der Europäischen Union.

(Beifall bei der LINKEN und der Abg. Mürvet Öz- türk (fraktionslos))

Wenn das Seenotrettungsprogramm „Mare Nostrum“ eingestellt wird, das im Monat 9 Millionen € gekostet hat, ein Seenotrettungsprogramm, das Zehntausende Menschen aus dem Wasser gerettet hat – es wird eingestellt, nicht nur aus Kostengründen; und damit bin ich wieder beim Bundesinnenminister, der gesagt hat, „Mare Nostrum“ war als Nothilfe gedacht und hat sich als Brücke nach Europa erwiesen –, wie zynisch ist das, den Menschen die Brücke zu nehmen, wenn die Alternative ist, dass noch mehr Menschen im Mittelmeer ertrinken? Das ist zynisch.

(Beifall bei der LINKEN und der Abg. Mürvet Öz- türk (fraktionslos) sowie bei Abgeordneten der SPD)

Zu dieser Abschottung gehört es eben auch, wenn eine Bundesregierung schmutzige Deals mit Leuten wie Erdogan macht und wegschaut, wenn dort Menschenrechtsverletzungen passieren – damit jemand wie Erdogan die Grenzen hochzieht und dafür sorgt, dass die Flüchtlinge nicht mehr bis nach Deutschland kommen.

Diese Deals hat man nicht allein mit Erdogan gemacht, die hat die Europäische Union damals auch mit Gaddafi gemacht. Diese Deals macht man jetzt mit den nordafrikanischen Regimen. Die eine Seite ist, dass man jetzt sagt, Marokko sei ein sicheres Herkunftsland; die andere Seite der Medaille aber ist, dass der Innenminister nach Marokko fährt und denen auch noch politische Zugeständnisse verspricht, wenn sie die Flüchtlinge zurücknehmen. Das ist doch die Politik, die Sie machen. Damit verschlimmern Sie doch die Situation in diesen Ländern. Die Bundesregierung hat Anteil daran, dass die Lage in diesen Ländern noch schlimmer wird, statt die oppositionellen Kräfte dort zu stärken.

(Beifall bei der LINKEN und der Abg. Mürvet Öz- türk (fraktionslos) – Michael Boddenberg (CDU): Das ist abenteuerlich, was Sie da sagen!)

Herr Boddenberg, wir können gern einmal über die Westsahara sprechen. Willi van Ooyen und ich waren in Nordafrika und haben uns dort mit Menschenrechtsorganisationen getroffen. Die Menschenrechtsorganisationen haben uns gesagt, dieser Aufbruch, den es dort gab – der Arabische Frühling, der Tunesische Frühling –, ist versandet.

(Michael Boddenberg (CDU): Daran ist auch die Bundesregierung schuld?)

Sie haben wörtlich gesagt: Der Tunesische Frühling hat in Lampedusa geendet.

Für viele junge Menschen in den Maghrebstaaten gibt es zwei Perspektiven in ihrem Leben, zwei Möglichkeiten, auf die sie ihre Hoffnung setzen: Die eine ist Europa, die andere ist der IS. Es gibt unglaublich viele junge Menschen aus diesen Ländern, die sich dem IS anschließen. Das sind nicht alles überzeugte islamistische Fundamentalisten, sondern zum Teil machen sie das auch einfach, weil die eine ganze Menge Geld dafür bezahlen.

Das heißt, die Perspektivlosigkeit in diesen Ländern ist so groß, Perspektiven für junge Menschen sind quasi nicht vorhanden. Deswegen lautet doch die Frage: Wie kann man dagegen vorgehen?

(Thorsten Schäfer-Gümbel (SPD): Ökonomisch und sozial aufbauen! Diese Länder gemeinsam durch die EU unterstützen!)

Da muss man doch dafür sorgen, dass man diese Regierungen nicht noch stärkt, indem man sie als sichere Herkunftsstaaten anerkennt.

(Beifall bei der LINKEN)

Amnesty International und die Kirchen warnen genau davor, einer solchen Regierung zu attestieren, dass das ein sicheres Herkunftsland sei. Die Kirchen warnen davor, dass man solche Menschenrechtsverletzungen quasi legitimiert, statt deutlich zu machen, dass man sie nicht akzeptiert. Deswegen finde ich die Unterstellung, die Menschen seien in diesen Ländern, pauschal gesehen, sicher – wenn nicht, sollen sie das Gegenteil beweisen –, völlig unverantwortlich.

Die Kollegin Öztürk hat bereits darauf hingewiesen, dass die Verschärfung des Asylrechts auch beinhaltet, dass wir so etwas wie das Dublin-System haben, dass die Menschen auf normalen Wege gar nicht mehr nach Deutschland kommen und hier einen Asylantrag stellen können. Über den Landweg können sie nämlich nur über einen sicheren Drittstaat einreisen und müssen dort ihren Asylantrag stellen.

Herr Ministerpräsident, ich finde es ebenfalls unverantwortlich, dass Sie von „60 Millionen Flüchtlingen“ reden, als seien die alle auf dem Weg hierher. Sie sagen natürlich nicht, dass von den insgesamt 60 Millionen Flüchtlingen 40 Millionen Binnenflüchtlinge sind, die ihr Land überhaupt nicht verlassen. Sie sagen nicht, dass die Länder auf dieser Welt, die die meisten Flüchtlinge aufnehmen, die Türkei, Pakistan, der Libanon, Äthiopien, der Iran und Jordanien sind und dass Deutschland als eine der reichsten Volkswirtschaften der Erde nur einen winzigen Bruchteil der Flüchtlinge aufnimmt, die diese Länder aufnehmen.

(Beifall bei der LINKEN)

Herr Ministerpräsident, ich weise die Angriffe auf die LINKE, die Sie eben vorgetragen haben, entschieden zurück. Sahra Wagenknecht hat jede Asylrechtsverschärfung im Deutschen Bundestag abgelehnt. Sie unterstützt die Initiative „Aufstehen gegen Rassismus“ – im Gegensatz zu Ihnen, Herr Ministerpräsident, denn wenn es darum geht, gegen Rassismus aufzustehen, bleibt die CDU bekanntermaßen meistens sitzen.

(Beifall bei der LINKEN – Michael Boddenberg (CDU): Jetzt kommt das wieder! – Zurufe von der CDU: Unverschämtheit!)

Sie sagen, unsere Argumentation sei verlogen. Verlogen finde ich es, in einer solchen Debatte zu verschweigen, dass die hessische CDU quasi das Geburtsnest der AfD ist – mit den Gaulands, Hohmanns, Hemzals, und wie sie alle heißen.

(Beifall bei der LINKEN – Lebhafte Zurufe von der CDU)

Herr Ministerpräsident, solange Sie einen Rechtsradikalen in Ihrer eigenen Fraktion sitzen haben,

(Michael Boddenberg (CDU): Jetzt reicht es aber! – Lebhafte Zurufe von der CDU)

solange Frau Steinbach unwidersprochen rechte Parolen verbreiten kann, verbitte ich mir jegliche Belehrung von Ihnen oder irgendeinem anderen Mitglied der hessischen CDU in dieser Frage.

(Beifall bei der LINKEN – Lebhafte Zurufe von der CDU)

Frau Kollegin Wissler, ich halte fest, dass Sie einen Kollegen dieses Hauses als „Rechtsradikalen“ bezeichnet haben.

(Janine Wissler (DIE LINKE): Nachdem wir tausendmal als linksradikal bezeichnet wurden!)

Das halte ich für nicht zulässig. Ich halte das für unparlamentarisch und weise Sie in aller Form darauf hin.

Als Nächster hat Herr Wagner, Fraktionsvorsitzender der GRÜNEN, das Wort.