Protocol of the Session on July 22, 2015

Montag sind über 900 neue Asylbewerber und Flüchtlinge in Gießen angekommen. Schon über das Wochenende wäre also die volle Kapazität der Alheimer-Kaserne ausgeschöpft worden. Da ist die Zeit von Dienstag auf Mittwoch noch nicht mit dabei, in der noch einmal fast 600 Personen gekommen sind: 1.500 Personen in drei Tagen.

Wer uns erklärt, dass wir das absehen und entsprechende Vorsorge treffen können, der irrt. Unsere Aufgabe ist es, diesen Menschen als Allererstes ein Willkommen zu bieten, ein Bett zu geben, eine Decke, mit der sie sich zudecken können, Sachen, mit denen sie sich waschen können, und etwas zu essen und zu trinken; denn diese Menschen hatten das möglicherweise seit Jahren nicht mehr.

(Beifall bei der CDU, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN und der FDP)

Die Menschen, die zu uns kommen, sind in der Regel lange unterwegs. Sie haben eine Reise ins Ungewisse angetreten, um Gewalt und Elend zu entkommen. Sie sind verzweifelt, aber auch voller Hoffnung. Ich sage Ihnen, wenn Sie mit ihnen reden, dann werden Ihre hehren Grundsätze, die Sie hier vortragen, zuerst einmal ganz weit hinten anstehen; sie haben nämlich ganz existenzielle Bedürfnisse, und diese befriedigen wir.

(Manfred Pentz (CDU): Ganz genau! – Zurufe von der SPD)

Diese befriedigen wir durch den unglaublichen Einsatz von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern vor Ort, von Ehrenamtlichen und vielen, die dort mithelfen.

(Beifall bei der CDU und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der FDP)

Deswegen ist es schon inhaltlicher Natur, was hier dargestellt wird. Ich empfinde die Unterstellung vom Kollegen Rock, die Union hätte Probleme mit Flüchtlingen, als geradezu fehl am Platze;

(Lachen der Abg. Janine Wissler (DIE LINKE))

denn wir sind natürlich alle miteinander politisch verantwortlich – vor Ort in den verschiedenen Bereichen und als Abgeordnete. Die Unterstellung zeigt die Hilflosigkeit in der Argumentation, die sich in der gesamten Rede dargestellt hat, die sich überhaupt nicht mit der Erstaufnahme auseinandergesetzt hat, sondern mit der Zuweisung sowie mit der Unterbringung vor Ort,

(Zurufe der Abg. Janine Wissler und Willi van Ooyen (DIE LINKE) – Gegenrufe von der CDU)

und die dann auch noch ohne jegliche differenzierte Betrachtung – da bin ich Herrn Merz schon etwas dankbarer, weil er das etwas differenzierter eingebracht hat – ein Zuwanderungsgesetz in das Gespräch bringt, als ob das Zuwanderungsgesetz das Asylrecht ablösen würde. Das ist doch Quatsch.

(Beifall bei der CDU und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Zuruf des Abg. Gerhard Merz (SPD))

Herr Merz, ich habe Ihnen die Differenziertheit gerade zugestanden. Ich habe Ihnen gerade in meinen Ausführungen gesagt, dass der Kollege Rock nicht so differenziert argumentiert hat wie Sie; Sie haben das Thema Zuwanderungsrecht, das in der üblichen Weise eigentlich mit der Zuwanderung in den Arbeitsmarkt verknüpft ist, mit humanitären Punkten verbunden, was eine solche Möglichkeit

ist. Das hat bei Herrn Rock gefehlt. Stattdessen wird der Weg gegangen.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU und des BÜND- NISSES 90/DIE GRÜNEN – Zuruf der Abg. Nicola Beer (FDP))

Dann sage ich Ihnen sehr deutlich: Das Mädchen Reem hat bundesweite Beachtung gefunden. Frau Merkel war nicht in der Rolle als Privatperson, sondern als Bundeskanzlerin dort. Ich finde, in diesem Verhältnis gesehen, war das eine ganz bemerkenswerte Leistung von Frau Merkel; sie war sich der Verantwortung ihres Amtes bewusst: Sie kann in einer solchen Situation keine Einzelfallentscheidung treffen. Aber sie muss gleichzeitig Mitgefühl und Fürsorge zeigen, und das hat sie hervorragend geschafft.

(Beifall bei der CDU und bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Zuruf der Abg. Janine Wissler (DIE LINKE))

Dann spricht Herr Rock von Kommunikation. Das will ich Ihnen einmal sagen: Wir stehen seit Wochen in Kommunikation mit den Verantwortlichen in unterschiedlichen Bereichen vor Ort, was die Alheimer-Kaserne anbelangt. Nachdem wir alle – Bürgermeister, Stadtverordnetenvorsteher, Landesregierung und Abgeordnete – davon überrascht waren, dass die Bundeswehr bei der Ortsbesichtigung am 1. Juli gesagt hat: „Ihr könnt in einem Monat belegen“, war die erste Reaktion des Abg. Franz: Da kommen nur Albaner und Kosovaren hin.

(Dieter Franz (SPD): Das ist doch dummes Zeug!)

Das hat er vor Ort in der Öffentlichkeit dargestellt, wohl wissend, dass das schlicht und einfach falsch ist und nur von Angst, Sorgen und Vorbehalten zeugt, die damit verbunden sind – eine Unverantwortlichkeit. Wohl wissend, dass das nicht stimmt, hat er es gesagt – wenn nicht, war er nicht informiert.

(Beifall bei der CDU und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Zurufe von der CDU: Hört, hört!)

Um das deutlich zu sagen: Was Willkommenskultur und Kommunikation auch im Rhein-Main-Gebiet anbelangt, sind wir seit einiger Zeit am Überlegen, ob wir die HutierKaserne in Hanau nutzen können. Das Erste, was wir gemacht haben, war, den Oberbürgermeister anzurufen, der gesagt hat: „Macht ein bisschen langsam, ich bin gerade im Wahlkampf“. Dann haben wir gesagt: „Okay, erste Information – er ist noch nicht so weit, warten wir noch zwei Minuten, bis der Wahlkampf vorbei ist“. Dann war er vorbei, und wir haben gesagt: „Wir sind nach wie vor dran“. Das Erste, was er gemacht hat, war, in einen Bericht in der Stadtverordnetenversammlung zu sagen: „Wir werden alle planungsrechtlichen und anderen Mittel in die Hand nehmen, die uns zur Verfügung stehen, um eine Erstaufnahme in Hanau zu verhindern“.

(Zurufe von der CDU)

Sehr sozial und ein echtes Beispiel für Willkommenskultur des Oberbürgermeisters Kaminsky. So weit zur Wirklichkeit vor Ort und zur Kommunikation an dieser Stelle.

(Zuruf des Abg. Holger Bellino (CDU))

Wir sind vor Ort. Heute Abend findet in Limburg die Bürgerversammlung zu der Fragestellung statt, welche Alternativen wir haben. Wir können – gehen Sie davon aus, dass das passiert – sehr genau schauen, wo wir Flächen ha

ben, welche Flächen wir brauchen und wie das im Grunde genommen aussieht, um insbesondere für den Herbst und die darauffolgende Zeit feste Unterkünfte zu haben.

(Zuruf des Abg. Willi van Ooyen (DIE LINKE))

Keiner von uns will eine dauerhafte Unterbringung in Zelten. Aber: Wo sollen wir die Leute für den Anfang zuerst einmal unterbringen?

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Wir brauchen zuerst einmal das Dach über dem Kopf, das Bett und die Bettwäsche. Deswegen gehen wir nach Limburg. Deswegen werden wir auch noch in andere Orte gehen. Wir werden quer über das Land ganz genau schauen, wo wir freie Flächen haben, in denen wir Einrichtungen schaffen können, die dafür genutzt werden können. Dies alles ist auch mit der Vorstellung eines sukzessiven Ausbaus verbunden – was ich auch in Rotenburg gesagt habe und was selbstverständlich ist: zuerst die Infrastruktur, zuerst die soziale Betreuung, zuerst die verwaltungsmäßige Betreuung, und dann können die Asylbewerber und Flüchtlinge hin.

(Willi van Ooyen (DIE LINKE): Die Security macht das!)

Dass das ein Thema ist, das nicht nur die Ehrenamtlichen vor Ort, sondern auch die gesamte Landesverwaltung beschäftigt, zeigt sich schon allein daran, dass wir gesagt haben: „Menschenskinder, wir haben gar nicht so viele Leute, die das verwaltungsmäßig und sozialarbeiterisch machen können, wie wir zum jetzigen Zeitpunkt angesichts des Zugangs an Flüchtlingen brauchen; fragen wir einmal in der Landesverwaltung, ob es Freiwillige gibt, die in den Erstaufnahmeeinrichtungen arbeiten wollen“.

Ich muss Sie an die Redezeit erinnern.

Innerhalb von 14 Tagen haben sich 120 Leute gemeldet, die gesagt haben: „Wir sind bereit“. Das ist ein Zeichen dafür, dass diese Landesregierung Empathie hat, dass ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter Empathie haben und dass wir versuchen, dabei zu helfen, aus dieser Not das Beste zu machen – mit einem riesigen Einsatz auch von Freiwilligen der eigenen Landesverwaltung. Es ist ein Schlag ins Gesicht dieser Menschen, wenn ihnen vorgehalten wird, sie müssten in menschenunwürdigen Unterkünften arbeiten, und Asylbewerber würden menschenunwürdig unterkommen.

(Beifall bei der CDU und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der FDP – Zuruf des Abg. Willi van Ooyen (DIE LINKE))

Wer sich dieser Verantwortung dadurch entzieht, Plakativforderungen aufzustellen, die bar jeglichen Verantwortungsbewusstseins sind, und wer sich dieser Verantwortung nicht stellt, indem er versucht, eine Stimmung zu erzeugen, die der Aufnahme und Betreuung tatsächlich eher entgegensteht als hilfreich ist, erschwert die Arbeit derjenigen, die versuchen, aus einer schwierigen Situation das Beste zu machen – derjenigen, die die Verwaltung machen, die die ärztlichen Untersuchungen oder Registrierungen organisieren.

Vorhin gab es einen kleinen Zwischenruf, und es wurde gefragt: Warum kommen jetzt erst die Erstaufnahmeeinrichtungen mit dem BAMF? – Herr Merz, wir wollten, wir hätten die Mitarbeiter vom BAMF schon bei uns; das wären 2.000 neue Leute. Das kann ja sein. Aber wo sind sie in Hessen? Das ist Bundespolitik; das müssen wir einfach sehen. Deswegen erheben wir beim Bund auch alle gemeinsam die Stimme und sagen: Ihr könnt euch an dieser Stelle nicht eurer Verantwortung entziehen, weder organisatorisch noch strukturell, noch finanziell, sondern es ist eine Gemeinschaftsaufgabe, bei der man die Länder und Gemeinden nicht im Stich lassen kann. – Dies geschieht alles unter der Überschrift: Wir sorgen dafür, dass Menschen, die Elend und Leid erfahren haben, in unserem Land eine menschenwürdige Aufnahme erfahren.

Natürlich greifen im Anschluss daran auch die normalen Verfahren Platz: die normalen Verfahren nach dem Asylverfahrensgesetz, so wie es unsere Rechtsordnung vorschreibt. Auf diesem Wege sind wir. Ich verwahre mich wirklich dagegen, dass Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, aber auch denjenigen, die Verantwortung tragen, Leichtsinnigkeit, Unverantwortlichkeit und gar Menschenunwürdigkeit vorgeworfen wird.

(Beifall bei der CDU und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Janine Wissler (DIE LINKE): Das hat doch niemand gesagt!)

Vielen Dank, Herr Staatsminister Grüttner. – Es liegen weitere Wortmeldungen vor. Herr Kollege Merz von der SPD-Fraktion hat sich zu Wort gemeldet. Bitte schön, Herr Kollege. Sie haben fünf Minuten.

Frau Präsidentin, meine Damen und Herren! Herr Minister, es ist immer schlecht, wenn man nicht über das redet, was hier im Saal gesprochen worden ist, sondern Behauptungen in den Raum stellt.

(Zuruf von der CDU: Was sagen Sie denn zu dieser Wahl?)

Dazu komme ich noch; vielleicht hören Sie einfach einmal zu.

(Manfred Pentz (CDU): Das fällt schwer!)

Ich habe Ihnen, glaube ich, bisher in dieser Debatte keinen Anlass geboten, hier fuchsig und unleidlich zu werden.

(Zuruf von der CDU: Ich habe Ihnen auch nur eine Frage gestellt!)

Dann ist es gut; und jetzt hören Sie einfach einmal zu.

Es ist nie gut, Behauptungen in den Raum zu stellen, die keiner überprüfen kann. Wir haben jetzt versucht, dies zu überprüfen. Der Hanauer Oberbürgermeister hat gesagt, er habe zugesagt, dass er diese Angelegenheit prüfe, nicht mehr und nicht weniger. Ich kann mir, ehrlich gesagt, auch nicht vorstellen, dass der Oberbürgermeister von Hanau, Claus Kaminsky, etwas anderes sagt. Ich kann mir nicht vorstellen, dass er sich sozusagen mit Händen und Füßen dagegen wehrte, dass in einer Stadt wie Hanau, die größer ist als die Stadt Gießen, eine Erstaufnahmeeinrichtung eingerichtet werden soll, wenn es denn nötig ist. Wenn dies so

wäre, wenn dies mit Argumenten, die nicht in der Sache liegen, tatsächlich so wäre, dann würde das unsere Missbilligung finden – damit das auch klar ist.