Protocol of the Session on April 29, 2015

Bundesweit haben wir nirgends eine kostendeckende Pauschale, außer in Bayern, so heißt es, und auch da müsste man einmal nachschauen.

Das aber ist genau der Grund, weswegen wir sagen, der Bund muss auf der anderen Seite mehr Mittel zur Verfügung stellen. Es bringt doch nichts, bei den unterschiedlichen Situationen, wie sie bundesweit organisiert sind, so zu tun, als wären die Hessen die Einzigen.

(Thorsten Schäfer-Gümbel (SPD): Das hat auch niemand getan! Der erste Satz beschäftigt sich mit den anderen Bundesländern!)

Wir haben die Mittel erhöht. Damit haben wir fast 80 % der entstehenden Kosten gedeckt. Wir müssen aber auch mit den Kommunen darüber reden, was sie mit den Pauschalen machen und an welcher Schraube wir gemeinsam drehen können. In diesem Dialog sind wir schon.

Sie versuchen, immer wieder das Bild zu zeichnen, in Hessen würde man der Verantwortung nicht gerecht. Wir werden der Verantwortung genauso wie andere Bundesländer mehr oder weniger gerecht. Die Herausforderung ist eine gemeinsame große. Es ist auch nicht das Beste, was wir schon erreicht haben. Deswegen sind wir in einer Diskussion. Aber so zu tun, als wären wir die Schmuddelkinder der Nation, finde ich falsch. – Herzlichen Dank.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der CDU – Zurufe von der SPD)

Vielen Dank, Frau Kollegin Öztürk. – Als nächste Rednerin hat sich Frau Kollegin Cárdenas von der Fraktion DIE LINKE zu Wort gemeldet. Bitte schön, Frau Kollegin, Sie haben das Wort.

Frau Präsidentin, meine Damen und Herren! Die dramatischen Bilder von den Flüchtlingstragödien im Mittelmeer haben uns den dringenden Handlungsbedarf in der Flüchtlingspolitik wieder einmal vor Augen geführt. Innerhalb weniger Tage sind rund 1.000 Geflüchtete bei der Überfahrt nach Europa ertrunken, und ich befürchte, es ist nur dieser quantitativen Größe zu verdanken, dass bei uns wieder einmal über die europäische Asylpolitik diskutiert wird.

Nur wenn sich eine Katastrophe größeren Umfangs ereignet, steht die Not der Flüchtenden zumindest für einige Tage wieder im Fokus der Öffentlichkeit. Das Sterben vor den Küsten aber ist nicht die Ausnahme – es ist die Regel, es ist alltäglich, und es ist ein wohlkalkulierter Baustein in einer auf den Prinzipien von Abschreckung und Abwehr basierenden Flüchtlingspolitik in Europa.

Über 23.000 Menschen sind seit dem Jahr 2000 bei dem Versuch, die Europäische Union zu erreichen, ertrunken, erstickt, verdurstet oder auf andere Weise ums Leben gekommen.

Meine Damen und Herren, diese ungeheuerliche Zahl an menschlichen Tragödien verpflichtet uns zu einer Abkehr von der bisherigen Flüchtlingspolitik, deren vorrangiges Ziel es ist, Schutzsuchenden den Weg nach Europa zu versperren – egal um welchen Preis.

(Beifall bei der LINKEN)

Wir LINKE treten ein für einen grundlegenden Wandel, hin zu einer auf solidarische Hilfe gerichteten Asylpolitik, bei der Humanität und Menschenrechte keine leeren Floskeln sind, sondern Richtschnur unseres politischen Handelns.

(Beifall bei der LINKEN)

Wir brauchen diesen Wandel in Europa ganz dringend, wir brauchen ihn im Bund, und, meine Damen und Herren, wir brauchen diese Umkehr zu einer humanitären Flüchtlingspolitik auch hier bei uns in Hessen.

Mit unserem mit aufgerufenen Antrag möchten wir für einen Paradigmenwechsel in der hessischen Asylpolitik werben, und zwar in einem Bereich, der zum Kernbereich der dem Land zugewiesenen Aufgaben auf dem Gebiet der Asylpolitik zählt, nämlich bei der Aufnahme und Unterbringung von Geflüchteten.

(Beifall bei der LINKEN)

Wir haben uns mit unserem Antrag – wie die SPD in ihrem etwas umfangreich geratenen Antrag ja auch – an Empfehlungen der Liga der Freien Wohlfahrtspflege in Hessen orientiert, die von der Liga bereits 1992 verabschiedet wurden und seitdem regelmäßig aktualisiert werden.

Bevor ich auf die heute vorliegenden Anträge eingehe, möchte ich, wie auch die SPD, vorab doch auf eine Sache hinweisen, weil die Regierungsfraktionen in ihren Reden manchmal den Eindruck erwecken, als entspringe die Aufnahme von Asylsuchenden einer besonderen Gutmütigkeit und Großzügigkeit der politisch Verantwortlichen.

Meine Damen und Herren, Deutschland ist verpflichtet, Flüchtlinge aufzunehmen. Dies folgt aus zahlreichen internationalen Übereinkommen zum Schutz von Flüchtlingen und zum Schutz der Menschenrechte, denen der Bund beigetreten ist. Flüchtlingsaufnahme ist keine freiwillige Aufgabenerbringung oder etwas in der Art.

(Beifall bei der LINKEN)

Auch Hessen ist verpflichtet, die Aufnahme und die Unterbringung von Asylsuchenden so zu gestalten, dass sie menschenrechtlichen Standards entsprechen. Damit wir wissen, ob die hessische Unterbringungspraxis menschenrechtlich akzeptabel ist, müssen diese Standards erst einmal niedergelegt werden. – Dazu, liebe Mürvet, hast du überhaupt nichts gesagt.

Doch die Hessische Landesregierung wehrt sich mit Händen und Füßen gegen die Einführung solcher Mindeststandards. Unumwunden gibt die Landesregierung zu, wie von Staatssekretär Dr. Dippel kommuniziert, den Kommunen deshalb keine Vorgaben zu Art und Weise der Unterbringung machen zu wollen, weil sie befürchtet, für dann möglicherweise höhere Kosten aufkommen zu müssen. Wenn das Landesaufnahmegesetz in seiner aktuellen Formulierung einen menschenwürdigen Aufenthalt einfordert, dann ist das in der Realität daher kaum mehr als eine hohle Phrase.

Wir wissen doch: Für Geflüchtete ist es in Hessen reiner Zufall, ob sie dezentral untergebracht werden und in einer eigenen Wohnung wohnen dürfen, wie das in Darmstadt offenbar ganz gut klappt, oder aber in einem Gemeinschaftslager in einem Industriegebiet, wofür Oberursel ein unrühmliches Beispiel ist. So bringt ausgerechnet der Hochtaunuskreis – einer der reichsten Kreise Deutschlands – Flüchtlinge in einem Containerlager im Gewerbegebiet unter.

Wer dort mit einer anderen Person über Monate und Jahre hinweg einen kaum 15 m2 großen Container teilen muss, wird diese Art der Unterbringung wohl kaum als menschenwürdig erachten. Wer in den hessischen Gemeinschaftslagern in überbelegten Zimmern und oft unter be

denklichen hygienischen Zuständen leben muss, kann die von der schwarz-grünen Landesregierung angekündigte Willkommenskultur nur als Spott empfinden.

(Beifall bei der LINKEN und des Abg. Gerhard Merz (SPD))

Aber es ist ja nicht nur die Unterbringungssituation in manchen Kommunen, für die die Landesregierung jegliche Verantwortung von sich weist.

Auch die Situation in der Erstaufnahmeeinrichtung in Gießen, für die das Land unmittelbar zuständig ist, ist den Betroffenen kaum zumutbar. Zelte, die als Notmaßnahme angekündigt worden waren, um Spitzen bei den Zugängen im Winter abzufangen, sind dort offensichtlich inzwischen der neue Standard. Sozialräume können seit über einem Jahr nicht genutzt werden, weil sie zur Unterbringung verwendet werden.

(Mathias Wagner (Taunus) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Was?)

Und die neuen Erstaufnahmeeinrichtungen, mit denen das Sozialministerium schon seit Monaten die Öffentlichkeit hinhält? Bislang nicht in Sicht.

Meine Damen und Herren, die Zahl der Asylsuchenden in Hessen ist zweifelsohne gestiegen, und sie wird in den kommenden Monaten und Jahren noch weiter steigen. Wenn das Land nicht handelt, wird die Unterbringungssituation weiter eskalieren. Die Landesregierung muss endlich ihr Phlegma überwinden und so etwas wie politischen Gestaltungswillen entwickeln. Soll die viel beschworene Willkommenskultur nicht nur reines Lippenbekenntnis bleiben, soll sie sich entwickeln können auf einer Willkommensstruktur, dann brauchen wir verbindliche Kriterien darfür, wie Menschen, die Schutz bei uns suchen, untergebracht und betreut werden sollen. Dann brauchen wir diese Standards.

(Beifall bei der LINKEN)

Wir brauchen Vorgaben, wie diese Menschen, die überwiegend dauerhaft hier bleiben werden, sozialarbeiterisch und therapeutisch begleitet, wie sie in das Bildungssystem und das Berufsleben integriert werden können, damit sie möglichst gleichberechtigt – und früh gleichberechtigt – am gesellschaftlichen Leben teilhaben können. Wir denken, dass die Empfehlungen der Liga eine gute Grundlage bilden, um im Gespräch mit Kommunen und Flüchtlingsorganisationen verbindliche Mindeststandards für menschenwürdige Unterbringung zu entwickeln.

Im Vordergrund muss dabei das Bestreben stehen, Geflüchtete dezentral in Wohnungen unterzubringen. Klar ist, dass eine solche nachhaltige Flüchtlingspolitik, die sozialräumlich ausgerichtet ist, begleitet werden muss von einem Programm des sozialen Wohnungsbaus, wovon auch weitere bedürftige Personengruppen profitieren werden.

(Beifall bei der LINKEN)

Wir wollen außerdem den Betrieb bestehender Gemeinschaftsunterkünfte – davon spricht der SPD-Antrag meines Wissens auch nicht – und die Betreuung von Asylsuchenden in die Hände öffentlicher oder gemeinwohlorientierter Einrichtungen legen, bei denen wir davon ausgehen können, dass sie eine professionelle und kultursensible Betreuung gewährleisten. Ich denke, die erschreckenden Vorfälle in nordrhein-westfälischen Flüchtlingsunterkünften geben uns dabei recht. Wir sind weiterhin generell der Überzeu

gung, dass die Unterbringung in Gemeinschaftsunterkünften nur als vorübergehende, zeitlich klar begrenzte Notlösung hingenommen werden kann.

Ein allerletztes Wort noch zum SPD-Antrag. Sie haben viele wichtige und richtige Punkte aufgeführt und von der Liga übernommen. Aber an einem Punkt hätten Sie besser beim Original bleiben sollen: Während die Liga bei der Frage, welche Gebäudearten zur Wohnraumnutzung geeignet sind, Containerlagern diese Eignung abspricht, wollen Sie Asylsuchende auch in Containern unterbringen.

(Gerhard Merz (SPD): Das wollen wir nicht!)

Das ist wahrscheinlich Ihren kommunalen Vertretern geschuldet. Das kann ich mir vorstellen. Dabei sind es doch gerade diese zum Überdauern tendierenden Provisorien, meine Damen und Herren, die einer integrativen und nachhaltigen Flüchtlingspolitik entgegenstehen. – Ich bedanke mich herzlich bei Ihnen.

(Beifall bei der LINKEN – Zuruf des Abg. Gerhard Merz (SPD))

Vielen Dank, Frau Kollegin Cárdenas. – Als nächster Redner spricht Kollege Rock von der FDP-Fraktion. Bitte schön, Herr Kollege, Sie haben das Wort.

Frau Präsidentin, sehr geehrte Damen und Herren! Einmal wieder diskutiert der Hessische Landtag über Flüchtlinge. Wir machen das intensiv seit über einem Jahr. Wir überlegen, was wir tun können, um die Situation der Flüchtlinge in Hessen, aber auch der Flüchtlinge in Europa und in Deutschland zu verbessern und uns der Herausforderung zu stellen, die Aufnahme der Flüchtlinge zu organisieren.

Seit über einem Jahr halten wir Reden im Hessischen Landtag. Und was ist passiert? Was ist seit diesem Jahr passiert? Wir sehen die schrecklichen Bilder vom Mittelmeer. Wir erleben, wie die wichtigsten Politiker der Europäischen Union sich mit diesem Thema auseinandersetzen, und lesen im Ticker darunter: „Brüssel beschließt das Aus für die Plastiktüte“. – Ich kann langsam nicht mehr nachvollziehen, wie man mit diesem Thema in Deutschland umgeht.

(Beifall bei der FDP und bei Abgeordneten der LIN- KEN)

Ich erinnere mich an eine Rede des Ministerpräsidenten des Landes Hessen und eine Presseerklärung, dass die Frage der Flüchtlinge für ihn als Präsident des Bundesrates eine der wichtigsten Fragen ist, derer er sich annehmen will. Das ist mittlerweile auch fast ein Jahr her. Ich bin immer noch entsetzt, dass wir bis heute keinen ernsthaften hessischen Flüchtlingsgipfel haben. Warum ist das nicht möglich?

Jetzt will ich an die Fakten gehen. Es ist unglaublich, dass bis heute die Arbeitsaufnahme in Berlin noch nicht vernünftig geregelt ist. Es ist unglaublich, dass es noch kein Zuwanderungsgesetz gibt. Es ist unglaublich, dass die Länder vom Bund mit der Finanzierung völlig alleingelassen werden.

(Beifall bei der FDP und des Abg. Gerhard Merz (SPD))

Wenn ich die Millionen betrachte, die den Ländern jetzt zugesprochen worden sind, dann stelle ich fest, das ist zum einen kommunales Geld. Das sind die Reste der Fluthilfe. Der zweite Teil ist ein Kredit für die Länder. Das ist doch kein gemeinsames Schultern einer so wichtigen Aufgabe in Deutschland.

(Thorsten Schäfer-Gümbel (SPD): Das stimmt!)