Und nun ist Krieg, großer Krieg. Unser Deutschland hat so furchtbar viel Feinde, die müssen wir nun alle totschießen; und Vater und Onkel Joachim wollen auch mithelfen. Eigentlich sollte man das doch nicht tun. Eigentlich lernt man doch immer: liebet eure Feinde! Aber ich habe das gewiss wieder nicht rich
Heute ist es leise über den Feldern an der Somme. Im Beinhaus von Douaumont kann man noch heute die Knochen von jenen 130.000 Toten der Schlacht von Verdun sehen, die nicht identifiziert werden konnten. Ausgedehnte Kraterlandschaften zeugen von 50 Millionen verschossenen Granaten. Nirgends kann Sinnlosigkeit auch nach 100 Jahren so unmittelbar erspürt werden.
Der Erste Weltkrieg markiert die Industrialisierung des Krieges, die Systematisierung und Technisierung massenhaften Todes. Technisierung bedeutet: Entpersonalisierung und Ungerechtigkeit, das Sperrfeuer der Granaten und das Verrecken in der Giftgaswolke kennen keine Unterscheidung mehr. Das Töten aus der Distanz schafft auch Abstand für den Schützen – bis heute. Daneben traten Größenwahn und zynische Verachtung der Opfer durch Kaiser, Generalität, Eliten und eine absurde Verklärung des Todes. Aber der Schlamm von Verdun ist nicht heroisch, so wenig wie es abgerissene Arme und Beine sind.
„Der ungerechteste Frieden ist besser als der gerechteste Krieg“, sagt Cicero. Ich hätte erwartet, dass in dieser Verurteilung des Krieges und dem Gedenken an seine Opfer Einigkeit besteht: Was, wenn nicht dieses Thema, hätte sich für den neuen Stil, den Versuch einer gemeinsamen Position angeboten? Warum diese Abgrenzungssymbolik durch einen Koalitionsantrag?
Zumal Ihr Antrag im Historischen stecken bleibt. Gedenken zum 100. Jahrestag ist richtig, aber es reicht nicht. Das Beinhaus von Douaumont ist eindrucksvoll, aber es schafft Distanz des Beobachters. Krieg und Gewalt sind auch heute real, alltäglich und gegenwärtig: Jeden Tag sterben Menschen durch Waffen. Wer über historischen Krieg spricht, kann zu den heute lebenden Menschen, die nicht erschossen werden wollen, nicht schweigen. Deshalb kann auch die erste Gewalt nicht im historischen Gedenken bleiben, vielmehr muss sie den Bezug zur Gegenwart, zum realen Leben realer heutiger Menschen herstellen.
Wie also kam es zum Krieg? Waren es wirklich nur tumbe Toren, die schlafwandelnd gar nicht sahen, wie sie sich auf die Katastrophe zubewegen? – Ich persönlich finde Schulddebatten der Historiker interessant, aber wenig hilfreich. Es sind die politischen Interpretationen, die uns Hilfestellung geben.
Die erste Ursache liegt, so glaube ich, in der Selbstüberschätzung der Sieger von 1871, ihren Symbolen und Gesten einer gewollten Demütigung der Besiegten im Schloss von Versailles. Nach dem letzten Schuss wären die Besonnenheit, die Demut, die Bescheidenheit der Sieger gefordert gewesen – sie hatten ja schon gewonnen. Das gilt auch heute: Bedenke das Ende.
Diese Lehre haben wir bis heute nicht richtig verstanden. War es wirklich klug, die Besiegten aus der Petersberger Afghanistan-Konferenz auszuschließen? Liegt hier nicht eine Ursache für anhaltende Probleme und Instabilitäten im heutigen Afghanistan?
Auch wenn es schwerfällt: Wer nicht allen, die hinterher zusammenleben müssen, die Gewissheit einer Perspektive und eines Ansehens in Respekt gibt, legt den Grundstein für den nächsten Konflikt. Das gilt auf dem Balkan, in Palästina, in Afrika und überall sonst. Denn Krieg ist auch falsch, wenn man recht haben oder recht gehabt haben könnte.
Nein, tragisch ist eine Situation, wenn man schuldig wird, ganz gleich, was man tut. Natürlich wird man schuldig, wenn man Bomben wirft. Die Frage ist doch nur, wie man noch schuldiger wird.
Weil es beim Einsatz von Waffengewalt kein „richtig“, sondern nur unterschiedliche Grade von „falsch“ geben kann, gibt es hinterher auch keine moralische Überlegenheit, sondern vor allem Pflichten der Sieger. Der Irakkrieg war ohne jeden Zweifel falsch. Da sind wir uns wohl einig. Jetzt sieht man aber, was Sich-Davonmachen ohne Stabilität bedeutet. Bei allem Respekt für die gute Absicht, die bei Willi von Ooyen dahintersteht: Wer fordert, sofort alle Interventionen in Afghanistan abzubrechen, hat aber gerade in den letzten Wochen etwas nicht mitbekommen.
Wer sieht, welche Gewalt es im Irak danach gab, kann nicht ernsthaft den bedingungslosen Abbruch aller Interventionen fordern.
Man kann darüber streiten, ob die Intervention richtig war. Man kann darüber streiten, ob das Verhältnis zwischen Aufbauhilfe und Militär richtig war. Es war nicht richtig, meine Damen und Herren. Man kann aber nicht abhauen und die Menschen ihrem Schicksal überlassen.
Meine Damen und Herren, der Erste Weltkrieg ist auch die Globalisierung des Todes. Vermeintlich kolonial zu kurz gekommen, betrieben vor allem Deutsche einen Krieg, der in die ganze Welt reichen musste; denn darum ging es ja. Er war auch möglich, weil Bismarcks System der verbundenen Sicherheit nicht gewollt und nicht verstanden war.
Deshalb bleibt die Aussöhnung mit Frankreich ein unglaubliches, ein unerhörtes Ereignis, wenn man bedenkt, dass unsere Kinder niemals auf die Idee kämen, vom „Erbfeind“ zu sprechen, der unseren Großvätern doch so eingängig war.
Viel entscheidender sind aber die Lehren der KSZE, der Ostpolitik und des Konzepts von Frieden durch Annäherung für die Gegenwart. Das gilt noch heute und muss auch an den Grenzen einer gewachsenen Europäischen Union gelten. Die Grenze zwischen k. u. k.-Monarchie und Russland, die vor 100 Jahren mitten durch die Ukraine lief, wirkt noch heute, meine Damen und Herren. Das können wir doch gerade beobachten.
Globaler Frieden braucht globale Systeme der Anerkennung, des Ausgleichs und des Respekts der Staaten. Dieser Appell kann aber immer nur an uns selbst gehen; denn würde er an andere gerichtet, wäre er selbst schon respektlos.
Denn nicht gerechte oder ungerechte Empörung verhindert Gewalt, sondern nur systematische Deeskalation – „Lieber 100 Tage verhandeln als eine Minute schießen“, hat Helmut Schmidt einmal gesagt –, wie es die Bundesregierung mit Frank-Walter Steinmeier gerade in der Ukraine oder im Nahen Osten macht; Diplomatie eben.
Nur die Anerkennung, dass sich jeder Beteiligte im Recht fühlt, nur die Arbeit am wechselseitigen Verständnis und nur die Anerkennung der berechtigten Interessen aller Beteiligten sind geeignet, Gewalt zu verhindern. Nur ein von allen als gerecht erlebter Ausgleich der Interessen, der wirtschaftlichen und sozialen Bedingungen, wird auf Dauer den Kriegstreibern und den Kriegsgewinnlern das Handwerk legen. Wer ein gutes Leben und etwas zu verlieren hat, der ist nicht verführbar, meine Damen und Herren.
1914 waren es ganz handfeste machtpolitische Interessen der sich so hoch vermutenden gekrönten Häupter und ebenso handfeste wirtschaftliche Interessen ihrer Vasallen, die dann den ermordeten Erzherzog als Anlass nutzten. „Der Mensch“ dient dazu, „durch den Soldatentod Petroleumaktien in die Höhe zu treiben“, ironisierte Kurt Tucholsky.
Ist das heute anders? Geht es nicht in all den kleinen Kriegen immer auch um handfeste Interessen und um Interessierte, die einen Anlass suchen? Ich erinnere nur an die Privatisierung des Todes als Geschäft. Die Söldner mit Straffreibrief von Halliburton und Blackwater sind ein Rückfall in die geistige Steinzeit mit den technischen Möglichkeiten des 21. Jahrhunderts. Platz drei auf der Liste der Waffenexporteure ist auch nicht erstrebenswert.
Man muss gestehen: dass die größten Übel, welche gesittete Völker drücken, uns vom Kriege, und zwar nicht so sehr von dem, der wirklich oder gewesen ist, als von der nie nachzulassenden und so gar unaufhörlich vermehrten Zurüstung zum künftigen, zugezogen werden.
Wie können wir uns selbst vor uns selbst schützen? Wie kann Gedenken das Grauen jenseits des Wissens auch emotional und damit wirksam erfahrbar machen? Ist der Verweis auf die Historie und die Belehrung darüber wirklich ausreichend?
Niemand wird mehr mit Hurra in den Krieg ziehen. Diskurse über den Krieg und seine vermeintliche Unendlichkeit werden aber auch heute aus einer Position der funktionalen Distanz über eine Sache geführt. Diese kühle Akzeptanz, diese zu wenig schmerzhafte Hinnahme ist schon zu viel, glaube ich. Krieg muss sich unerträglich anfühlen. Nur das schützt vor den Automatismen der politischen Momentlogik, mit der 1914 der Absturz seinen Lauf nahm.
Vor einigen Jahren sind regelmäßig Marburger Primaner nach Israel gereist und haben dort mit Gleichaltrigen in Uniformen gesprochen, für die Kriegsgefahr und Schützengräben tägliche Realität sind. Das schafft eine ganz andere Realität von Erfahrung, meine Damen und Herren.
So weit braucht man aber gar nicht zu gehen. Auch wenn 70 Jahre Frieden bei uns kaum mehr Zeitzeugen finden lassen, leben hier doch Tausende von Menschen, die der konkreten Gefahr von Krieg und Bürgerkrieg vor ganz Kur
zem entflohen sind. Wer diesen Flüchtlingen aus all den kleinen terroristischen und den großen staatlichen Kriegen der Welt zuhört, kann erfahren, wie dünn die Firniss der Zivilisation doch ist. Er bekommt nicht nur Wissen, sondern auch ein Gefühl für das Elend des Krieges.
Es gilt, der Entmenschlichung durch den technisierten Krieg das Weiße im Auge der Opfer entgegenzustellen. Das macht Krieg unerträglich, meine Damen und Herren. Es macht uns vielleicht auch etwas menschlicher gegenüber denen, die fliehen müssen.
Wer über den historischen Krieg spricht, kann zu den heute lebenden Menschen, die nicht erschossen werden wollen, nicht schweigen. Empathie mit den realen Opfern ist das beste Mittel gegen die Kriege der Gegenwart. Lassen Sie uns danach denken und handeln. – Vielen Dank.
Frau Präsidentin, meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Wenn man sich dieser Tage die vielen Dokumentationen über die Zeit Anfang des 20. Jahrhunderts mit Blick auf 1914 anschaut – es war die Zeit, als die Bilder laufen lernten –, sieht man auf Bildern aus den Monaten unmittelbar davor, egal ob sie aus der deutschen Hauptstadt Berlin, aus Paris, aus London oder aus einer sonstigen europäischen Stadt stammen, Menschen in meist heller Kleidung, die freundlich über europäische Straßen flanieren. Wenn man sich dann die Bilder aus den Kriegszeiten anschaut, sieht man einen ganz harten Schnitt: zerbombte Häuser, Schützengräben, Stapel von Toten.
Dazu ist es gekommen, obwohl in dieser Zeit zu Beginn des 20. Jahrhunderts die verschiedenen Nationalstaaten meist noch durch Königshäuser geführt wurden, deren Angehörige in irgendeiner Art und Weise miteinander verwandt oder verschwägert waren und sich in der Sommerfrische und bei Familienfesten gegenseitig besuchten. Deshalb hätte man eigentlich annehmen müssen, dass bei so engen Beziehungen vernünftigere Argumente tragen als Waffen.
Trotzdem wurde in genau dieser Zeit ein Krieg vom Zaun gebrochen, der schlimmer nicht hätte sein können, weil er einen Wandel in der Auseinandersetzung der Völker einleitete – und das, obwohl die Ermordung des österreichischen Thronfolgers Franz Ferdinand am 28. Juni 1914 vielen europäischen Zeitungen, z. B. den Berliner Zeitungen, am nächsten Tag nicht mehr als eine kleine Randnotiz wert war.
In den Köpfen war es sicherlich bei vielen der damaligen Zeit zunächst eine Auseinandersetzung der alten Art: schnelle Erfolge in Schlachten Mann gegen Mann, ver
brämt als Sache der Ehre. Doch tatsächlich und real – das wurde sehr schnell deutlich – war es eine ganz andere Art der Auseinandersetzung: die Mechanisierung des Krieges mit Massenproduktion von Bomben, Granaten und Minen, dem Einsatz von Flammenwerfern, Maschinengewehren, Flugzeugen mit Bombenteppichen, Panzern und U-Booten.
Diese Mechanisierung des Krieges führte zu einem technisierten Sterben, und zwar über Jahre, ein technisiertes Sterben, das eine Entmenschlichung dieser Auseinandersetzung mit sich brachte. Ein französischer Veteran hat einmal diesen Kampf auf den Schlachtfeldern beschrieben, indem er sagte: Man bekämpfte sich, aber man sah sich nicht. – Das war nicht wie in den Kriegen alter Zeiten, in denen manchmal Mann gegen Mann gekämpft wurde.
36 Staaten waren involviert, 66 Millionen Soldaten, 10 Millionen tote Soldaten gab es, 20 Millionen Verletzte. Auch bei der Zivilbevölkerung gab es 6 Millionen Tote – Auswirkungen, die man sich 1912, 1913, 1914 noch nicht hätte vorstellen können, sowohl in der Art als auch in der nahezu unfassbaren Quantität dieser Zahlen, die doch eine Addition von Einzelschicksalen sind, die Zivilbevölkerung mit einbezogen. Es war eine Entmenschlichung, die nachher zu Abstumpfung und Verrohung in der Auseinandersetzung führte. Dort, wo man sich in den Weihnachtstagen 1914 über die Schützengräben hinaus während des Waffenstillstands noch die Hände gereicht hat, ist dies 1915 und die folgenden Jahre nicht mehr vorstellbar gewesen.