Protocol of the Session on June 1, 2017

(Beifall bei der LINKEN und bei Abgeordneten der SPD)

Vielen Dank. – Das Wort hat der Wissenschaftsminister, Herr Staatsminister Boris Rhein.

Herr Präsident, meine sehr geehrten Damen und Herren! 70 Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg und damit auch 70 Jahre nach der Schoah gibt es Menschen, die sagen, die Vergangenheit sei aufgearbeitet. Es gibt Menschen, die sagen, man könne langsam mal wieder zur Tagesordnung übergehen. 81 % der Befragten – eine Zahl, die ich mir so zwar nicht vorstellen kann, die aber durch eine Studie der Bertelsmann Stiftung hinterlegt ist – befürworten ausdrücklich, dass ein Schlussstrich gezogen und nicht mehr so oft über die Judenverfolgung gesprochen werden soll.

Meine Damen und Herren, ich schließe exakt an das an, was Herr May gesagt hat. Es wird, es kann und es darf diesen Schlussstrich niemals unter in deutschem Namen erfolgtes und mit Worten nicht zu fassendes Unrecht geben.

(Allgemeiner Beifall)

Die Generationen, die nach dem Krieg aufgewachsen sind, haben im Sinne strafrechtlicher, individueller Schuld natürlich keinen Anteil an dem Geschehen – ich schließe an das an, was Frau Wissler gesagt hat –, aber jede Generation von Deutschen hat Verantwortung für die Gegenwart und für die Zukunft zu übernehmen. Das ist meine feste Überzeugung.

Genau das hat das Land Hessen mit der Einrichtung der bundesweit ersten Professur an der Goethe-Universität in Frankfurt für die Erforschung der Geschichte und der Wirkung des Holocaust getan. Es ist in der Tat die erste Professur dieser Art in Deutschland. Deswegen glaube ich nicht, dass es übertrieben ist, die Berufung von Frau Prof. Dr. Steinbacher als einen historischen Moment und als einen Meilenstein für die Forschung in Deutschland zu bezeichnen. Ich bin der Goethe-Universität sehr dankbar für den Weg, den sie mit uns gegangen ist, und ich bin denen sehr dankbar, die Frau Prof. Steinbacher in einem sehr umfangreichen und qualitativen Verfahren ausgewählt haben.

Ich will nicht missverstanden werden: Natürlich gibt es bereits eine großartige Forschung und Lehre zum Thema Holocaust in Deutschland. Das muss man gerade bei diesem Thema hinzufügen. Das Besondere an dieser Professur ist allerdings, dass es nicht nur um das Verstehen der Vergangenheit, sondern auch um die Auswirkungen bis in die Gegenwart hinein geht und dass es gelungen ist – damit komme ich zu dem, was Jörg-Uwe Hahn und Herr Grumbach gesagt haben –, einen Lehrstuhl einzurichten, der mit der Leitung des Fritz Bauer Instituts verknüpft ist und damit in die großartige Tradition dieses Instituts eingebunden werden kann. Auch das ist eine große Chance und eine Situation, die man guten Gewissens als historisch bezeichnen kann. Die Verknüpfung mit dem Institut macht genau das möglich, was Sie angemahnt haben, sehr geehrter Herr Grumbach. Auch das ist eines der Ziele dieser Verknüpfung.

Meine Damen und Herren, gerade im Land der Täter darf es kein Vergessen geben. Deswegen sind wir selbstverständlich dazu aufgefordert, uns an die Spitze der Forschung zu setzen. Es gibt auch 70 Jahre nach dem größten Menschheitsverbrechen in deutschem Namen noch unglaublich viele unbeantwortete Fragen.

Ich will aber auch nicht verschweigen – ich knüpfe an das an, was Jürgen Banzer aus seiner persönlichen Erfahrung heraus gesagt hat –: Für mich persönlich war die Einrichtung dieser Professur in der Tat ein ganz besonderes Ereignis. Ich habe, wie Sie wissen, Jura studiert.

(Norbert Schmitt (SPD): Das merkt man gar nicht! – Heiterkeit)

Lieber Norbert Schmitt, das eint uns vielleicht das eine oder andere Mal. Das ist vielleicht das Einzige, was wir gemeinsam haben.

(Heiterkeit)

Das Subsumieren und das Lösen von Fällen waren nicht das, was mich am juristischen Studium gereizt hat, sondern ich habe sehr früh begonnen, mich mit der Aufarbeitung der NS-Zeit und des Holocaust zu befassen. Das begann mit der Befassung mit den Nürnberger Prozessen, aber vor allem auch mit dem Frankfurter Auschwitz-Prozess und mit Fritz Bauer.

Ich bin bei dieser Befassung auf das KonzentrationslagerDokument F 321 gestoßen. Das ist ein Dokument, das die Franzosen in die Nürnberger Prozesse eingeführt haben. Es ist dann für die Anklage zugelassen worden.

Meine Damen und Herren, das ist ein Dokument des Grauens. Es ist ein Dokument, das mir wie nichts anderes zuvor – im Übrigen auch nichts anderes danach – schonungslos und ungeschminkt die Barbarei, die Monstrosität und auch die Singularität des Holocaust deutlich gemacht hat. Es ist

ein Dokument darüber, wie es ist, wenn jegliche Menschlichkeit über eine viel zu lange Zeit einfach abwesend ist.

Es hat mich – das will ich zugestehen – nicht mehr losgelassen, und es lässt mich bis heute nicht los, was ich dort gelesen habe. So war für mich dieses Dokument F 321 – ich habe es auf meinem Tisch liegen; es ist bei dem Verlag 2001 erschienen, den es leider nicht mehr gibt; damals noch für 10 DM, heute wäre es wahrscheinlich viel teurer – wirklich politisch der Auslöser, aktiv Verantwortung zu übernehmen: aktiv gegen die Kontamination der Seele mit Antisemitismus, aktiv gegen jede Form von Rechtsradikalismus und Extremismus und aktiv, das will ich sehr deutlich hinzufügen, gegen die vielen heimlichen Spielarten der Israelkritik als Ersatzantisemitismus vorzugehen.

(Beifall bei der CDU und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der FDP)

Herr Minister, Sie denken an die Redezeit?

Herr Präsident, ich komme zum Ende. – Mit der Einrichtung dieser Professur durch die Unterstützung des Landes Hessen ist das möglich geworden. Es wird uns durch die Beantwortung der vielen ungeklärten Fragen möglich sein, dazu beizutragen, dass das, was geschehen ist, nie wieder geschieht.

Insoweit freue ich mich, dass wir mit Frau Prof. Steinbacher in Frankfurt eine der renommiertesten Forscherinnen gewinnen konnten – mit diesem Wermutstropfen, wie ich zugebe. Aber da stößt man manchmal an die Grenzen der Autonomie. Das ist der Punkt, den wir in der Tat weiter vertiefen müssen. Herr Grumbach, ich habe das schon aufgenommen. Aber es hat sich am Ende bewegt. Heute hat Raphael Gross einen ganz anderen Weg eingeschlagen. Das ist auch okay.

Ich freue mich außergewöhnlich darüber, dass Prof. Feuchert sich exakt seit heute – deswegen passt die Aktuelle Stunde auch so gut – an der Justus-Liebig-Universität in Gießen mit der Holocaust- und Lagerliteratur befasst. Diese beiden Professuren machen Hessen zu einem bedeutenden Zentrum der Holocaust-Forschung. Darauf können wir gemeinsam stolz sein.

(Beifall bei der CDU und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei Abgeordneten der SPD und der FDP sowie des Abg. Jan Schalauske (DIE LINKE))

Vielen Dank, Herr Minister. – Es liegen keine weiteren Wortmeldungen vor.

Ich rufe Tagesordnungspunkt 53 auf:

Antrag der Fraktion der FDP betreffend eine Aktuelle Stunde (Regierung Bouffier muss Netzwerkdurchset- zungsgesetz im Bundesrat stoppen – Kompetenzen der Länder wahrnehmen – Meinungsfreiheit garantieren) – Drucks. 19/4939 –

zusammen mit Tagesordnungspunkt 62:

Dringlicher Antrag der Fraktion der FDP betreffend Regierung Bouffier muss Netzwerkdurchsetzungsgesetz im Bundesrat stoppen – Kompetenzen der Länder wahrnehmen – Meinungsfreiheit garantieren – Drucks. 19/4954 –

und Tagesordnungspunkt 68:

Dringlicher Entschließungsantrag der Fraktionen der CDU und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN betreffend Bundesgesetzentwurf zur Verbesserung der Rechtsdurchsetzung in sozialen Netzwerken – Drucks. 19/4960 –

Das Wort hat Frau Kollegin Nicola Beer.

Herr Präsident, sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Wenn wir heute über das Thema Netzwerkdurchsetzungsgesetz diskutieren, stellt sich dabei glatt die Frage: Wie halte ich es mit dem Rechtsstaat? Ganz konkret: Wie halte ich es mit der Meinungsfreiheit?

(Beifall bei der FDP)

Das Netzwerkdurchsetzungsgesetz ist ein Angriff, und er kommt nicht von autokratischen Herrschern, sondern vom Bundesjustizminister.

(Dr. h.c. Jörg-Uwe Hahn (FDP): Hört, hört!)

Der Bundesjustizminister Maas hat keine Gesetzgebungskompetenz; denn der Schutz des Kommunikationsprozesses fällt unter die Länderkompetenz. Die Länder haben dafür Sorge zu tragen, dass die Anbieter sozialer Netzwerke die verfassungsmäßige Ordnung beachten. Die Aufsicht hierüber obliegt den Landesbehörden. Statt eines Bundesgesetzes ist ein Staatsvertrag denkbar – so wie der Jugendmedienschutz-Staatsvertrag, den wir beschlossen haben –, weil es eben keine Bundeskompetenz in dem Bereich gibt.

(Beifall bei der FDP)

Aber, sehr verehrte Kolleginnen und Kollegen, der Bundesjustizminister lässt sich nicht stoppen. Herr Maas peitscht ein verfassungswidriges Gesetz durch das Parlament und den Bundesrat, das massiv in die Meinungsfreiheit eingreift; denn dieses Netzwerkdurchsetzungsgesetz ist nichts anderes als die Privatisierung der Rechtsdurchsetzung im Hinblick auf Hasskommentare und rechtswidrige Falschmeldungen.

(Beifall bei der FDP)

Liebe Kolleginnen und Kollegen, verstehen Sie mich nicht falsch: Auch wir als Freie Demokraten wollen Hasskommentare und rechtswidrige Falschmeldungen bekämpfen, aber bitte im Rahmen unseres Rechtsstaats.

(Beifall bei der FDP und der Abg. Marjana Schott (DIE LINKE))

Die Feststellung, ob eine Meinungsäußerung noch Satire ist, ob sie zwar geschmacklos, aber im Rahmen der Meinungsfreiheit zu ertragen ist, oder ob sie schon die Grenze zur Strafbarkeit überschreitet, ob sie Beleidigung, Verleumdung oder gar Volksverhetzung ist, kann doch nicht Privaten überantwortet werden. Das ist Sache des Rechtsstaats; hierzu sind Polizei und Justiz berufen.

(Beifall bei der FDP und der LINKEN)

Das ist schwieriger geworden, weil sich im Netz vieles ganz schnell verbreitet. Aber dann muss man Polizei und Justiz so ausstatten, dass sie das leisten können.

(Dr. Ulrich Wilken (DIE LINKE): Genau!)

Liebe Kolleginnen und Kollegen, das sind bei dem NetzDG eben nur Verdachtsfälle. Die Feststellung der Rechtswidrigkeit kann kein Privater vornehmen. Private sollen hier von Herrn Maas offensichtlich zur Zensurbehörde gemacht werden; denn in diesem NetzDG gibt es kein Meldeverfahren an die Staatsanwaltschaft. Es ist offensichtlich nicht wichtig, dass es bis zur Strafverfolgung kommt. Es gibt nur einen immensen Löschdruck durch Bußgelder bis zu 50 Millionen €.

(Beifall bei der FDP und der Abg. Marjana Schott (DIE LINKE) – Zuruf des Abg. Norbert Schmitt (SPD) – Unruhe – Glockenzeichen des Präsidenten)

Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen von der Koalition, da ist auch Ihr Antrag falsch. Wir haben momentan keine Löschverpflichtung. Der Anbieter kann selbst entscheiden, ob er sich in Mithaftung nehmen lässt oder ob er löscht. Das bedeutet, wir haben momentan den Grundsatz: im Zweifel für die Freiheit. Das, was Sie daraus machen wollen, ist der Grundsatz: im Zweifel löschen, im Zweifel Eingriff in die Meinungsfreiheit.

(Beifall bei der FDP – Zuruf des Abg. Norbert Schmitt (SPD))

Herr Kollege Schmitt, wir haben nach den jetzt vorgeschlagenen Regelungen ein Verfahren, bei dem – wenn Sie die Zahl der Fälle hochrechnen – ganze acht Sekunden für die Entscheidung zur Verfügung stehen, ob gelöscht wird oder nicht. Wie hätten Sie denn im Fall Böhmermann agiert, wenn Sie acht Sekunden gehabt hätten, um zu entscheiden, ob das noch geschützte Kunstfreiheit ist oder ob das gelöscht gehört?