Ich darf Sie darauf hinweisen, dass jetzt zu Beginn der Mittagspause in der Ausstellungshalle die Ausstellung „Rheingauer Jugend für Afrika“ eröffnet wird. Dazu sind Sie herzlich eingeladen.
Noch eingegangen und an Ihren Plätzen verteilt ist ein Dringlicher Entschließungsantrag der Fraktionen der CDU und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN betreffend Kinderarmut als Schwerpunkt der Landessozialberichterstattung, Drucks. 19/4871. Wird die Dringlichkeit bejaht? – Ich sehe, das ist der Fall. Dann wird dies Tagesordnungspunkt 62 und kann, wenn dem nicht widersprochen wird, mit Punkt 25 aufgerufen werden. – Dann machen wir das so.
Antrag der Fraktion DIE LINKE betreffend für einen Aktionsplan gegen Kinderarmut – Drucks. 19/4818 –
Dringlicher Entschließungsantrag der Fraktionen der CDU und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN betreffend Kinderarmut als Schwerpunkt der Landessozialberichterstattung – Drucks. 19/4871 –
Die vereinbarte Redezeit beträgt zehn Minuten. Als Erste hat sich Frau Kollegin Schott von der Fraktion DIE LINKE zu Wort gemeldet. Bitte schön, Frau Kollegin, Sie haben das Wort.
Frau Präsidentin, meine Damen und Herren! Was sind arme Kinder? Das sind ganz sicher die halbe Million Kinder in Ostafrika, die schon an schwerer Mangelernährung leiden. Demnächst sind 20 Millionen Menschen vom Hungertod bedroht. Hier hat die Weltgemeinschaft die Verantwortung, die Menschen nicht nur davor zu bewahren, zu verhungern. Sie muss ihnen auch die Lebensgrundlagen ermöglichen, sodass sie für ihr Überleben sorgen können.
In Deutschland sieht Kinderarmut anders aus. Da geht es selten um das nackte Überleben, sondern eher um ein gesundes Leben mit den gleichen Möglichkeiten, wie sie Kinder aus anderen Familien haben. Die Erkenntnis setzt sich langsam durch, dass Kinderarmut auch in Deutschland wächst. Selbst der Koalitionsvertrag der Regierungsfraktionen im Land fand dafür eine kurze Erwähnung. Wir haben auch einen Antrag, in dem Sie das anerkennen.
Beeindruckt hat mich im Januar dieses Jahres ein Artikel in der „Zeit“ mit dem Titel: „Jedes 5. Kind [in Deutschland] ist arm“ von Julia Friedrichs, die seit zehn Jahren über dieses Thema schreibt. Sie schreibt über Janina, deren Eltern eine Woche vor Monatsende kein Geld für Essen und Windeln haben, über Sascha, der sagt: „Wenn ich hier den Hauptschulabschluss mache, kann ich ja höchstens Kloputzer werden“, oder über Ercan, der gerne so viel lernen würde wie die Kinder aus dem Altbauviertel, die in eine bessere Schule gefahren werden.
Fast jedes fünfte Kind in Deutschland lebt in einer Familie, die mit 60 % des mittleren Einkommens auskommen muss. Im Regierungsbezirk Kassel liegt die Quote mit 19,3 % fast ebenso hoch. Es gibt aber hessische Kreise und Städte, da ist bis zu ein Drittel der Kinder arm – und das in einem reichen Land. Wir sehen darin einen Skandal.
Interessant sind die Reaktionen, die die „Zeit“-Journalistin erlebt, wenn sie über Kinderarmut spricht. Es wird bedauert, natürlich auch von Politikerinnen und Politikern. Oft werden die Eltern dafür verantwortlich gemacht, weil sie arm oder krank oder arbeitslos sind. Dann gibt es Bestürzung, aber es folgen keine Taten, höchstens Almosen.
Dabei wäre es so einfach, dafür zu sorgen, dass Kinder nicht arm bleiben müssen. Der erste Schritt wäre, die Familienleistungen wirklich denjenigen zur Verfügung zu stellen, die sie brauchen. Der Bundesvorsitzende des Kinderschutzbundes hat das in der letzten Woche ziemlich genau auf den Punkt gebracht. Er hat gesagt:
Der maximale Effekt beim Ehegattensplitting ist mehr als zehnmal so hoch wie die maximale Wirkung beim Entlastungsbetrag für Alleinerziehende.
Man kann sich das verdeutlichen, wenn man vergleicht, was Menschen ohne Kinder bei einem Jahresbrutto von 30.000 € über dem Existenzminimum übrig haben und wie das bei Menschen mit Kindern ist. Im ersten Fall sind es bei einer Familie ohne Kinder 5.700 € im Jahr. Bei der Familie mit einem Kind sind es nur noch 1.080 €. Bei zwei Kindern geht es bereits ins Minus. Bei drei Kindern sind es minus 8.400 €, usw.
Gefördert werden kinderlose Haushalte und Haushalte mit hohem Einkommen. Letztere können nicht nur die Freibeträge für Kinder, sondern auch Betreuungskosten in Höhe von 4.000 € und Schulgeld für private Einrichtungen bis zu 5.000 € im Jahr steuerlich geltend machen. – Das sind Zahlen, die der Kinderschutzbund ermittelt hat. Er ist bestimmt nicht Teil der LINKEN.
Es wundert nicht, dass bei diesem Steuer- und Sozialsystem Kinderarmut bei Alleinerziehenden, Familien mit mehreren Kindern und Menschen mit niedrigem Einkommen besonders häufig vorkommt. Es ist ein völlig ungerechtes System, das dazu führt, dass Kinder aus reichen Familien bessere Startchancen haben als Kinder aus armen Familien, die mit den Folgen von Kinderarmut zu kämpfen haben.
Wenn sich die Landesregierung nicht den Vorwurf gefallen lassen will, dass sie das bewusst tut, dass sie selektiert in Kinder und Jugendliche aus wohlhabenden Familien und solche aus armen Familien mit prekären Lebensverhältnissen, sollte sie schnellstens Maßnahmen gegen Kinder- und Jugendarmut entwickeln.
Diese bewegen sich auf zwei Ebenen, die parallel entwickelt werden müssen. Das ist zum einen die Entschärfung der Folgen der Kinderarmut und zum Zweiten die gesellschaftliche Umsteuerung, damit Familien mit Kindern gar nicht erst arm werden.
Wir erwarten von der Landesregierung die Vorlage eines Aktionsplans gegen Kinder- und Jugendarmut, der allerdings nicht im stillen Kämmerlein gemacht wird, sondern unter Beteiligung der Akteure der Kinder- und Jugendhilfe und natürlich der Kinder selbst; denn sie sind die Expertinnen und Experten in der eigenen Sache. Er soll nicht die Maßnahmen, die an irgendeinem Ort in diesem Bundesland sicher durchaus erfolgreich funktionieren, aufzählen, sondern die Maßnahmen planen, die flächendeckend im ganzen Land dafür sorgen, dass die frühkindliche Bildung für alle zugänglich und gut ausgestattet ist, dass im gesamten Bildungswesen die Nachteile von geringem Einkommen dadurch ausgeglichen werden, dass keine Kosten für Mittagessen und Lernmittel sowie Fahrtkosten entstehen und Kinder eine Förderung erfahren, die etwaige häusliche Nachteile ausgleicht.
Der Aktionsplan soll sich damit beschäftigen, wie das Recht der Kinder auf Gewaltfreiheit gewährleistet wird, wie Kinder aus Familien mit geringem Einkommen eine
Ein wesentliches Thema für Familien gerade in Südhessen sind die hohen Mieten und Nebenkosten. Hier geht es darum, dass Kinder in ausreichend ausgestatteten Wohnungen aufwachsen können, die ihre Eltern auch bezahlen können.
Es geht um die Möglichkeit für Kinder und Jugendliche, sich im öffentlichen Raum zu treffen und ihre Zeit gemeinsam zu verbringen. Aufgrund der kommunalen Finanzmisere sind doch die Öffnungszeiten enorm eingekürzt worden, oder es gibt gar keine Jugendräume mehr. Es geht auch um Bibliotheken und Schwimmbäder, die kostenlos oder sehr kostengünstig für Kinder und Jugendliche zugänglich sein müssen und nicht ganz und gar abgeschafft werden dürfen.
Bereits aus den Schuleingangsuntersuchungen wissen wir, dass Kreise und Städte mit mehr Kindern aus armen Familien wesentlich mehr Fälle gesundheitlicher Einschränkungen, beispielsweise auch in der Sprachentwicklung, haben. Es gibt mehr Koordinationsstörungen und auch mehr Essstörungen. Dies bestätigen die WHO und das RobertKoch-Institut.
In dem Aktionsplan soll aber auch die Beteiligung von Kindern und Jugendlichen ihren Platz finden. Sie sind schließlich die Expertinnen und Experten. Dieser Aktionsplan dient gleichzeitig der Verhütung hoher Jugendhilfekosten. Es gibt einen deutlichen Zusammenhang zwischen Regionen mit armen Kindern und hohen Jugendhilfekosten in der Folge. Vermeiden Sie doch genau das, indem die Hilfe schon vorher ansetzt, bevor überhaupt eine Auffälligkeit und Schwierigkeiten in der Familie entstehen.
Um die negativen Folgen des Aufwachsens in armen Familien zu verhindern und abzumildern, ist es die beste Strategie, die Einrichtungen der Grundversorgung für Kinder und Jugendliche kostenlos bzw. kostengünstig zu gestalten.
Wenn die Kita kostenfrei ist, gibt es keine Diskussion darüber, ob sich die Eltern vier, fünf oder sechs Stunden frühkindliche Bildung leisten können.
Wenn der Weg zur Schule tatsächlich kostenlos ist, gibt es keine Diskussion, ob die Schule, die ein paar Kilometer weiter entfernt liegt, die aber besser passen würde, zu erreichen ist. Es gibt in den Familien dann auch keine Debatten und keinen ständigen Streit darüber, ob kurz vor Ende des Monats ein Klassenausflug noch zu finanzieren ist oder ob man noch Hefte und Stifte kaufen kann. Lehrkräfte könnten sich dann auf das Wesentliche konzentrieren und wären viel weniger damit beschäftigt, mit ebendiesen Mängeln umzugehen.
Wenn die Musikschule kostenlos wäre, gäbe es keine Diskussion, ob die Tochter Gitarre spielen und der Sohn Geige spielen darf.
Wenn, wenn, wenn. Aber es ist auch eine grundsätzliche Umsteuerung der Familienleistungen erforderlich.
Es gibt Debatten darüber, wo das Existenzminimum für ein Kind liegt. Eine gängige Zahl heißt derzeit: 573 € im Monat. Das wird aber von vielen als zu niedrig angesehen.
Dieser Betrag gilt jedoch nicht für Grundsicherungsbezieher. Die Regelsätze für Kinder im Hartz-IV-Bezug betragen zwischen 237 € und 311 € im Monat; das ist weit davon entfernt. Dabei ist alles inbegriffen, außer Wohnung und Heizung. In Hessen muss beispielsweise auch das Schülerticket noch hiervon finanziert werden.
Mir konnte noch niemand erklären, wie Toilettenpapier, Papiertaschentücher und ähnliche Hygieneartikel, also auch Windeln für Kinder, mit monatlich 2,37 € finanziert werden können. Wie wollen Sie es schaffen, einen 14-Jährigen mit 3,97 € pro Tag satt zu bekommen? Auch das geht nicht. Welche Schuhe können Sie für weniger als 35 € für einen 16-Jährigen als einmalige Anschaffung im Jahr besorgen? So kann ein Kind nicht aufwachsen.
Das Geld für die Grundsicherung reicht vorne und hinten nicht. Die Regelsätze sind falsch berechnet.
Vor knapp einem Jahr wurde ein Aufruf mit dem Titel „Wir wollen eine Gesellschaft, der jedes Kind gleich viel wert ist!“ gestartet. Viele Organisationen sowie Professorinnen und Professoren fordern eine eigenständige und einheitliche Geldleistung für jedes Kind und jeden Jugendlichen, die mindestens den grundlegenden finanziellen Bedarf für die Existenz und gesellschaftliche Teilhabe der Kinder und Jugendlichen absichern muss. Eine Gesellschaft, der jedes Kind gleich viel wert ist, ermöglicht auch jedem Kind und jedem Jugendlichen den ungehinderten Zugang zu qualitativ hochwertigen Angeboten an Kultur, Bildung und sozialen Dienstleistungen.
Ich bin gleich am Ende. – Der Ausbau dieser Angebote ist dringend notwendig. Außerdem müssen Ansprüche auf Sonderbedarfe der Kinder und Jugendlichen bedarfsgerecht weiterentwickelt werden.
Wir wollen eine Gesellschaft, der jedes Kind gleich viel wert ist. Diese Anforderung sollte die Landesregierung auch an sich selbst stellen.