Wenn Sie an der Stelle auf die Frage der sozialen Marktwirtschaft als Prinzip rekurrieren, würde ich empfehlen, sich mit den Gewerkschaften und Arbeitgebern, mit Hessenchemie, mit Gesamtmetall, über die Frage zu unterhalten, welche Löhne und Tarife die in Bereichen zahlen, in denen Sozialpartnerschaft seit Jahren stabil funktioniert hat.
Es ist richtig: An der Stelle, wo Sozialpartnerschaft ordentlich funktioniert, sind Mindestlöhne keineswegs gesetzlich so dringend nötig. Das Problem ist doch, dass wir inzwischen in weiten Bereichen einen Organisationsgrad auf der Arbeitnehmer- und – viel wesentlicher – auf der Arbeitgeberseite haben, der die 50-%-Quote unterschrei
tet. An der Stelle ist der Verweis auf die Tarifpartnerschaft völlig obsolet, weil sie dort nicht existiert. Genau an der Stelle gilt, dass der, der Arbeit verteilt, unendlich viel mächtiger ist als der, der für den Lebensunterhalt auf Arbeit angewiesen ist.
Dort, wo sich das nicht von allein regelt, haben Beschäftigte ein Recht auf Schutz durch den Staat, auf Schutz durch Sie davor, dass ihre Abhängigkeitssituation ohne Not und über alle Maßen missbräuchlich ausgenutzt wird. Deshalb brauchen wir einen gesetzlichen Mindestlohn.
Jetzt will ich mich mit Ihnen nicht über die Frage streiten, wie viel mehr Arbeitsplätze das bringt. Manche der Kombattanten, die an dieser Stelle immer die positiven Prognosen eines Mindestlohns für den Arbeitsmarkt so vehement infrage stellen, sind, wenn ich mich recht entsinne, immer die gewesen, die uns erklärt haben: „Das Energieeinspeisegesetz kostet maßlos Arbeitsplätze“, und wir wissen, wie viele Tausend Arbeitsplätze dadurch in Nordhessen entstanden sind. Die erklären uns immer wieder an allen möglichen anderen Stellen, was alles wie viele Arbeitsplätze kostet. Und siehe da, das Ergebnis ist ganz anders.
Das kann man mit einer gewissen Gelassenheit sehen, wo wir doch wissen, dass die Länder mit einem gesetzlichen Mindestlohn am Arbeitsmarkt keineswegs mehr Probleme als wir haben.
Der Verweis auf die Krise – bei allem Respekt: Ich danke immer wieder dafür, wenn deutlich gemacht wird, dass Olaf Scholz ein hervorragender Bundesarbeitsminister war,
dass Olaf Scholz durch die Lösung über das Kurzarbeitergeld die Krise in Deutschland hervorragend aufgefangen hat. Deshalb ist er jetzt auch zu Recht Bürgermeister in Hamburg. Vielleicht sollte Ihnen das einmal zu denken geben, was es zur Folge hat, wenn man so etwas richtig macht.
Meine Damen und Herren, der Mindestlohn ist eine Ergänzung, eine Erweiterung der guten Tradition der sozialen Marktwirtschaft und des respektvollen Umgangs der Sozialpartner miteinander. Sie ist eine Ergänzung an all den Stellen, an denen es an guten, respektvollen Sozialpartnern fehlt. Deshalb ist er nötiger denn je.
Herr Präsident, meine sehr geehrten Damen und Herren! 22 von 27 EU-Ländern haben einen gesetzlichen Mindestlohn. Herr Rock, Sie haben zu Recht gesagt: nur die skandinavischen Länder und Deutschland nicht. In den skandinavischen Ländern – ich will das betonen, weil wir uns darin einig sind – sind über 90 % der Beschäftigten über einen Tarifvertrag erfasst. Das ist in Deutschland nicht der Fall.
Wir haben mittlerweile Situationen, in denen im Landesdurchschnitt nur noch 56 % aller Beschäftigten, aller rund 40 Millionen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer dieses Landes, über eine tarifvertragliche Bindung mittelbar oder unmittelbar verfügen. Das heißt, dass rund 18 Millionen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer nicht tarifgebunden sind und damit zum Freiwild für die Willkür und das Lohndumping von Unternehmen erklärt werden.
Ich will Ihnen das an einem konkreten Beispiel deutlich machen. Viele meiner Kolleginnen und Kollegen, die Beratung innerhalb der Gewerkschaften machen, berichten tagtäglich, was dort im Übrigen – das muss ich leider sagen – seit den Hartz-Gesetzen passiert. Ich stimme Ihnen zu, dass die Ausweitung des Niedriglohnbereichs und die Ausweitung der Leiharbeit ein falsches Ziel dieser Gesetze waren.
Meine Damen und Herren, das Schlimmste an den HartzIV-Gesetzen – das ist Kern dieses Themas – ist die Zumutbarkeitsregelung, die letztendlich jeden dazu zwingt, jeden Arbeitsplatz zu jedem Preis anzunehmen, unabhängig von der Qualifikation und von der Vorerfahrung, die vorhanden sind. Das ist der Kern des Problems, das in der Folge jetzt zu weiterem Lohndumping geführt hat.
Im letzten Jahr – ich erinnere mich sehr genau – hat der amerikanische Präsident Obama Deutschland aufgefordert, leistungsfähigere, marktgerechtere Löhne zu bezahlen, weil Deutschland auch innerhalb Europas ein Niedriglohnland geworden ist. Das ist ein Problem der internationalen Konkurrenz geworden. Auch im europäischen Ausland entsteht Druck durch die Marktstellung der deutschen Industrie im Verhältnis zu den Nachbarländern wie England, Frankreich und vielen mehr, die einen gesetzlichen Mindestlohn haben.
Insofern ist auch klar – ich will Ihnen das an dieser Stelle auch sagen –: Sie tun immer so, als ob die Tarifautonomie ein Gleichgewicht der Kräfte darstellen würde. Das ist doch überhaupt nicht wahr.
Die Tarifverträge in den einzelnen Branchen sind ein Spiegelbild des Kräfteverhältnisses zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern. Daher ist erklärbar, weshalb es in Thüringen im Friseurhandwerk, wo der gewerkschaftliche Organisationsgrad bei 1 bis 2 % liegt, einen Tarifvertrag gibt, der das Papier nicht wert ist, auf dem er steht, was die Lohnhöhe angeht.
Das ist Ihre Tarifautonomie, die Sie hochhalten. Meine Damen und Herren, deshalb kann ich nur noch einmal sagen: In England hat die Einführung des Mindestlohns nachweislich, wissenschaftlich erforscht, zu zusätzlichen Arbeitsplätzen in der Größenordnung von 700.000 geführt.
Wenn das DIW, das der Wirtschaft sehr nahesteht, zu anderen Ergebnissen kommt, dann verwundert mich das nicht. Das ist Ihre Argumentationshilfe.
Fakt bleibt, dass im jetzigen Aufschwung 85 % der Arbeitsplätze nicht in Vollzeit, sondern in Teilzeit, im Niedriglohnsektor, in Minijobs gehen.
Herr Burghardt, dass die in immer größerem Maße durch öffentliche Mittel aufgestockt werden müssen, wird von Arbeitgebern auch missbräuchlich genutzt. Das Aufstocken ist nichts anderes als eine indirekte Subventionierung von Unternehmen, die in der Lage wären
Meine Damen und Herren, eines geht nicht. Sie müssen zur Kenntnis nehmen, dass die gewerkschaftliche Forderung, genau wie unsere Forderung, die Einführung eines flächendeckenden gesetzlichen Mindestlohns ist, also eines wesentlichen Teils der Tarifpartner. Das können Sie nicht wegdiskutieren.
Herr Präsident, meine sehr verehrten Damen und Herren! Frau Staatssekretärin, wir waren schon sehr überrascht über Ihre Rede.
(Dr. Christean Wagner (Lahntal) (CDU): Die war ganz hervorragend! – Zuruf des Abg. Mathias Wagner (Taunus) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN))
Herr Wagner, ja, das mag Ihrer Meinung nach so sein. Man hatte den Eindruck, die Präsidentin des Bundesverbandes der Deutschen Industrie steht an diesem Pult
(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei Abgeordneten der SPD sowie des Abg. Willi van Ooyen (DIE LINKE) – Dr. Christean Wagner (Lahntal) (CDU): Gesunder Menschenverstand!)
und versucht, dem geneigten Haus zu erklären, warum die Einführung von Mindestlöhnen Teufelswerk ist. Frau Staatssekretärin Müller-Klepper, Sie müssen sich entscheiden. Wenn Sie der Meinung sind, dass Mindestlöhne Arbeitsplätze vernichten, dann müssen Sie hier einen Antrag einbringen, der den Inhalt hat, dass die Branchen, die das schon getan haben, das endlich wieder rückgängig machen.
(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und des Abg. Norbert Schmitt (SPD) – Zuruf des Ministers Jörg-Uwe Hahn)
Auch Sie, Herr Justizminister. – Wenn dadurch Arbeitsplätze gefährdet sind, dürfen wir in der Bundesrepublik ausnahmslos keinen Mindestlohn mehr haben. Frau Staatssekretärin, ich darf ergänzen: Wir stehen nicht vor der historischen Frage, ob wir Mindestlöhne einführen wollen oder nicht, sondern in vielen Bereichen sind sie schon eingeführt. Wenn Sie der Meinung sind, dass jede zusätzliche Belastung, jede gesetzliche Vorgabe an die Arbeitgeber ein Problem ist, dann frage ich Sie: Wo bleibt Ihr Antrag, dass man die Kranken- und die Arbeitslosenversicherung wieder aussetzt? All das sind zusätzliche Belastungen für die Arbeitgeber, die womöglich Arbeitsplätze gefährden. Das ist die Absurdität Ihrer Logik. Wenn man zur sozialen Marktwirtschaft steht, dann muss man auch zu Mindestlöhnen eine positive Haltung einnehmen.
Selbst wenn man Ihrer Logik folgen würde, dass es keine positiven Beschäftigungseffekte gäbe, dass es also keine zusätzlichen Arbeitsplätze schaffen würde, dann müssen Sie doch konstatieren – da können wir uns gerne über die Summen und über die Menschen streiten, die tatsächlich aufstocken müssen –, dass die öffentlichen Haushalte den Arbeitgebern schon heute flächendeckend bundesweit Geld hinterherwerfen. Ich frage Sie: Was ist Ihr Konzept von sozialer Marktwirtschaft? – Das unsere ist es nicht.
Zum Abschluss an die FDP: Wer meint, hier China zitieren zu müssen, dem ist kein Argument zu blöde. Herr Rock, ich muss ganz ehrlich sagen: Bei Ihrem Parforceritt durch die weite Welt und Ihrem Beispiel von 128 € in China, da fragt man sich, wer Ihnen so etwas in Ihr Konzept schreibt.