Protocol of the Session on June 7, 2011

Primärversorgung, Hausärzte, Gemeindepflege, Delegation ärztlicher Tätigkeit, Medizinische Versorgungszentren dort, wo die Unterversorgung schon akut ist.

Mein Fazit: Sie hätten sich diese Regierungserklärung wirklich sparen können. Kommen Sie wieder, wenn Sie ein konkretes Konzept haben. Wir GRÜNEN haben ein solches Konzept zum Thema Gesundheit im ländlichen Raum vorgelegt.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN so- wie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN)

Vielen Dank, Frau Schulz-Asche. – Ich darf Frau Schott für die Fraktion DIE LINKE das Wort erteilen.

Herr Präsident, meine Damen und Herren! Ich kann eigentlich an den Schluss der Rede von Frau Schulz-Asche

fast nahtlos anknüpfen; denn zum zweiten Mal diskutieren wir hier über die Situation der ärztlichen Versorgung, insbesondere im ländlichen Raum, aber viel Neues gibt es nicht. Rösler heißt jetzt Bahr und verspricht den Ärzten viel – das meiste zulasten der Beitragszahler. Es ist richtig und wichtig, über eine vernünftig organisierte, flächendeckende Versorgung zu sprechen und entsprechend zu handeln. Aber eine Regierungserklärung, die daraus besteht, dass der Sozialminister sich selbst lobt, ist dazu nicht nötig.

(Janine Wissler (DIE LINKE): Es tut vielleicht sonst keiner!)

Vielleicht tut es sonst keiner. Deshalb wollen wir an dieser Stelle nicht so kleinlich sein.

(Heiterkeit und Beifall bei der LINKEN)

Herr Minister, Sie sagen, es sei gut, dass darüber nachgedacht wird, die Studienzulassung für angehende Ärzte zu ändern. Kann und soll die Abiturnote das ausschlaggebende Kriterium sein? Das klingt ja so, als wären die Fakultäten leer, weil es keine Studierenden gibt. Es fehlen aber die Studienplätze, nicht die Interessenten. Die Studienplätze hätten Sie längst schaffen können. Dafür muss Hessen nicht auf den Bund warten. Jetzt erzählen Sie uns, die Ärzteschaft sei überaltert, und es kämen zu wenige junge Kollegen nach. Wenn das so ist: Seit wann wissen Sie das, und warum haben Sie keine Studienplätze geschaffen? Darauf hätte Hessen Einfluss gehabt.

(Beifall bei der LINKEN)

Aber: Ist die Zahl der jungen Ärzte wirklich das Problem? Die Zahl der niedergelassenen Ärzte ist in den letzten Jahren immer weiter gestiegen. In den letzten zehn Jahren sind, glaube ich, über 47.000 Ärzte dazugekommen. In Deutschland kommen auf einen Arzt – statistisch gesehen – 250 Menschen. Das ist im internationalen Vergleich ein ziemlich gutes Ergebnis.

Trotzdem ist auch für uns LINKE ein besserer Zugang zum Medizinstudium durchaus erstrebenswert – aber bitte mit vernünftigen Bedingungen und nicht zum Nulltarif und zulasten der Universitäten.

(Beifall bei der LINKEN)

Das eigentliche Problem ist die Verteilung der Ärzte. Diese muss tatsächlich dringend anders geregelt werden, als es zurzeit der Fall ist.

Hier nun beginnt meine Verwunderung. Tagein, tagaus erzählen Sie uns, dass die Politik die Dinge nicht besser regeln kann als der Markt und dass sich der Staat weitestgehend aus der Wirtschaft heraushalten soll. Jetzt loben Sie sich dafür, dass die Länder – die Politik – mehr Einfluss gewinnen.

Sicherlich müssen die Interessen der einzelnen Regionen von regionalen Fachleuten vertreten werden. Aber ob das Politiker sein müssen, weiß ich nicht. Wenn dieser Vorschlag von uns gekommen wäre, würden Sie jetzt ganz laut „Planwirtschaft!“ schreien. Erklären Sie mir diesen Widerspruch bitte.

(Zurufe von der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

In der „Welt“ vom 01.06. dieses Jahres heißt es anlässlich des Ärztetags über Daniel Bahr:

Er wettert gegen den Staat, der sich in alles einmische, gegen Zentralismus und Dirigismus. Er ver

spricht Freiheit, Flexibilität und weniger Bürokratie.

(Petra Fuhrmann (SPD): Freiheit für die Gummibärchen!)

Bedeutet das direkte Einwirken der Politiker jetzt auf einmal weniger Staat, oder hat der Herr Minister seine Meinung über den Staat in der letzten Woche geändert?

Ist eigentlich inzwischen klar, ob das Gesetz zustimmungsfrei oder zustimmungspflichtig sein wird? Dem Vernehmen nach hat das Bundesministerium alle Punkte zu dem Thema ärztliche Aus- und Weiterbildung weggelassen, um Zustimmungsfreiheit zu erzielen. Wenn die Beteiligung der Länder als so wichtig angesehen wird, sollte sie doch genau an dieser Stelle beginnen.

Herr Grüttner, Ihre Erklärung dafür, warum wir jetzt eine Neuregelung der ärztlichen Versorgung brauchen, baut auf den Veränderungen der Vergangenheit auf. Ich darf Sie zitieren:

Beginnend mit dem Gesundheitsstrukturgesetz 1993, dem ab 1996 geltenden freien Kassenwahlrecht aller Versicherten bis aktuell zum GKV-Finanzierungsgesetz wurden sehr weitreichende Änderungen in der gesetzlichen Krankenversicherung bewirkt. Infolgedessen stieg die Zahl der Kassenfusionen, die mehrheitlich... Die geltenden Aufsichtskompetenzen der Länder wurden und werden so stetig ausgehöhlt, da immer mehr Kassen unter der Aufsicht des Bundesversicherungsamts stehen.

Sie sagen also selbst, dass die Regierungen der letzten Jahre die Probleme geschaffen haben, die wir jetzt lösen müssen. Sie haben mit der Ausweitung der privaten Krankenversicherung einen Wettbewerb geschaffen, dessen Folgen Sie jetzt ausbaden müssen. Aber es war schließlich wichtig, die Versicherungswirtschaft zu bedienen – alles zulasten der Versicherten. Hohe Verwaltungskosten müssen getragen werden, Krankenkassenpleiten führen für die Betroffenen zu unerträglichen Situationen, und gesetzlich Versicherte warten immer noch länger als privat Versicherte.

In einer solchen Situation steht der Gesundheitsminister Hessens da und beklatscht sich selbst. Mir hat man zu Hause beigebracht, dass Selbstlob stinkt.

(Zurufe von der CDU: Oh!)

Aber der Wettbewerbsgedanke durchzieht Ihre ganze Politik. Mit dem Wettbewerb lockt man aber keinen Arzt auf das Land. Dafür benötigt man solidarische Systeme.

(Beifall bei der LINKEN)

Die Entsolidarisierung, die Sie mit Ihrer Politik vorantreiben, verändert das Leben allenthalben negativ. Überall dort auf der Welt, wo mehr Gleichheit herrscht, geht es den Menschen in jeder Beziehung besser. Solidarisch zu handeln ist anders, als es insbesondere die FDP wahrhaben will. Unser Modell der Bürgerversicherung ist ein solidarisches und würde die Krankenversicherung wieder auf gesunde Füße stellen.

(Beifall bei der LINKEN)

Weiterhin stellen Sie die Situation der Versorgung so dar, als ob diese bereits in naher Zukunft extrem bedroht sei. Aber das Zahlenspiel, für das Sie den Landkreis Fulda als Beispiel genommen haben, lässt sich nicht nachvollziehen. Sie zeichnen ein Horrorszenario, das schon von den

Zahlen her nicht stimmen kann, um den Eindruck zu erwecken, dass der Handlungsdruck enorm hoch sei.

Das Gleiche machen Sie, wenn Sie auf die älter werdende Gesellschaft eingehen. Aber das Alter eines Menschen an sich stellt kein medizinisches Problem dar. Nehmen wir chronisch Kranke aus, so lässt sich feststellen, dass es immer das letzte Lebensjahr ist, das einen erheblichen medizinischen Aufwand verursacht, egal wie alt der Mensch ist. Da wir alle einmal unser letztes Lebensjahr erreichen, bleibt dieser Aufwand gleich, egal ob das letzte Lebensjahr früher oder später kommt.

Sollte der Entwurf für das Versorgungsgesetz in der derzeit gestrickten Form verabschiedet werden, wird sich die medizinische Versorgung drastisch verteuern. Da der Arbeitgeberanteil seit dem GKV-Finanzierungsgesetz eingefroren ist, werden die Kostensteigerungen hauptsächlich zulasten der Versicherten und zulasten der Kommunen gehen, die als Kostenträger nach SGB X den kassenindividuellen Zusatzbeitrag in voller Höhe zu tragen haben. Grob verkürzt und eher als persönliche Anmerkung gedacht, möchte ich sagen: Dies ist ein Versorgungsgesetz für die Versorger in gut versorgten Bereichen, räumlich und fachlich gesehen.

(Beifall bei der LINKEN)

Sie halten am Modell des niedergelassenen Arztes fest – am Modell des Arztes als selbstständiger Unternehmer – und wollen dann Anreize setzen, damit Ärzte aufs Land gehen. Aber wie sehen diese Anreize aus? Darüber haben Sie nicht wirklich viel gesagt. Sollen jetzt alle Ärzte mehr Geld bekommen, oder wollen Sie, dass die Ärzte auf dem Land mehr Geld bekommen als die Ärzte in den urbanen Zentren? Was ist dann mit den Stadtvierteln, in denen kein Arzt mehr praktizieren will? Bekommen Ärzte in diesen Stadtteilen eine Art Landarztstatus?

(Heiterkeit bei der LINKEN, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Wie soll das gehen? Ab wann hat man diesen Status erreicht?

Dem Entwurf fehlt ein wirksames Umverteilungsmoment. Maßnahmen zur Schließung von Versorgungslücken, z. B. eine kleinräumige Bedarfsplanung, und zur Erhöhung der Attraktivität ärztlicher Tätigkeiten in strukturschwachen Gebieten, etwa die bevorzugte Zulassung in attraktiven Gebieten nach vorheriger Tätigkeit in einer unterversorgten Region, sind enthalten. Es fehlt aber an wirksamen Maßnahmen zum Abbau von Überversorgung: Es gibt keine Abschläge mehr in überversorgten Gebieten. Die Option des Aufkaufs von Praxen bei Überversorgung ist kein Muss für KVen, und wenn sie doch erfolgt, können die Ärzte die Preise diktieren.

Mehr noch: Es sind weitere kostensteigernde Elemente enthalten. Insbesondere soll mit der spezialärztlichen Versorgung ein dritter Sektor entstehen, der keiner Form von Mengensteuerung oder Bedarfsplanung unterliegt. Eine erhebliche Kostensteigerung ist absehbar. So viel lässt sich sagen, selbst wenn konkrete Berechnungen noch nicht vorliegen.

Der Gemeinsame Bundesausschuss soll unter bestimmten Bedingungen verpflichtet werden, im Arznei- und Medizinproduktbereich neue Versorgungsformen zur Erprobung zuzulassen, wenn Leistungsanbieter dies fordern. Die GKV würde so in einem weitaus stärkeren Maße an den Forschungskosten beteiligt. Neue Anbieter und neue

Leistungen würden noch schneller auf den Markt drängen.

Im Gemeinsamen Bundesausschuss soll die Herausnahme von Leistungen aus den GKV-Katalog künftig nur noch bei einer Mehrheit von neun Stimmen möglich sein, was zu einer grundlegenden Veränderung der Gewichtung im Ausschuss führt. Weniger Pauschalierung, mehr Einzelleistungsvergütung in der vertragsärztlichen Vergütung, Verdoppelung des KV-Strukturfonds durch die Krankenkassen, Aufhebung des Grundsatzes der Beitragssatzstabilität für die zahnärztliche Vergütung: Wer bezahlt dieses Mehr, wenn es dafür an anderer Stelle kein Weniger gibt? Besteht die Lösung dafür in höheren Beiträgen, was einseitig zulasten der Versicherten geht? Dafür haben Sie nämlich vorher an anderer Stelle die Weichen gestellt.

Weitere Beitragserhöhungen bei den Krankenversicherungen gehen eindeutig zulasten der Arbeitnehmer. Wir LINKE lehnen das ab.

(Beifall bei der LINKEN)

Ein wichtiger Schritt in die richtige Richtung ist die Möglichkeit, dass in Medizinischen Versorgungszentren angestellte Ärzte arbeiten. Sie sind möglicherweise das Modell der Zukunft, mit dem wirklich gesteuert werden kann. Wenn Gemeinden die Möglichkeit haben, Ärzte anzustellen, haben sie damit eine echte Handlungsoption. Ich weiß überhaupt nicht, was gegen die Vorstellung spricht, dass ein Arzt als Angestellter arbeitet. Wir nehmen das auch in den Krankenhäusern als selbstverständlich hin. Warum klammert man sich dann krampfhaft an der Freiberuflichkeit des Arztes fest?

(Beifall bei der LINKEN – Dr. Thomas Spies (SPD): Selbstständigkeit, nicht Freiberuflichkeit!)

Ebenso sinnvoll ist es, die scharfe Trennung zwischen ambulanter und stationärer Versorgung zu durchbrechen. Wenn ein angestellter Krankenhausarzt Sprechstunden auf dem Dorf abhalten kann oder wenn die ambulante Behandlung im Krankenhaus ausgeweitet wird, schaffen wir Versorgungssicherheit. Dabei müssen wir lediglich darauf achten, dass wir nicht durch die Hintertür Überversorgung produzieren, wie wir sie schon jetzt teilweise haben.