Protocol of the Session on December 15, 2010

Antrag der Abg. Dr. Spies, Decker, Müller (Schwalm- stadt), Merz, Roth (SPD) und Fraktion betreffend Kürzungen bei den Eingliederungsmitteln zurücknehmen – Langzeitarbeitslose brauchen Qualifizierung – Ar beitsmarkt braucht qualifizierte Fachkräfte – Drucks. 18/3445 –

Herr Decker hat sich für die SPD-Fraktion zu Wort gemeldet. Sie haben zehn Minuten Redezeit. Herr Decker, bitte schön.

Herr Präsident, meine Damen und Herren! „Nicht kleckern, sondern klotzen à la von der Leyen“ – nach diesem Motto soll ab dem 1. Januar 2011 auf dem Arbeitsmarkt ein Kahlschlag stattfinden, der sich gewaschen hat.

(Beifall bei der SPD)

Der Gipfel dieser sozialpolitischen Meisterleistung ist zweifellos die Streichung von 20 % Eingliederungshilfe für Langzeitarbeitslose. Das sind bis 2011 sage und schreibe fast 2 Milliarden €. Bis 2014 werden es 16 Milliarden € sein. Für Hessen bedeutet das allein im Jahr 2011 rund 87 Millionen € weniger. Respekt, meine Damen und Herren. So wie diese CDU/FDP-Bundesregierung und wie diese Bundesarbeitsministerin hat sich bisher noch niemand getraut, die Axt an soziale Leistungen anzulegen.

(Beifall bei der SPD)

Dies ist eine fatale arbeitsmarktpolitische Fehlentscheidung. Die 2 Milliarden € gehen der bitter notwendigen Qualifizierung von Langzeitarbeitslosen verloren. Damit beschneiden Sie die Chancen der Menschen, in die Arbeit zurückzufinden. Hier wird bei der Bildung gekürzt, statt in Bildung zu investieren.

(Beifall bei der SPD)

Dabei wissen wir alle, dass gerade die Bezieher von Arbeitslosengeld II nicht von mehr und besserer Qualifizierung ausgesperrt werden dürfen; denn sie profitieren nicht von der wirtschaftlichen Erholung auf dem Arbeitsmarkt. Diese nutzt in erster Linie – ich sage aber auch hier ausdrücklich: Gott sei Dank – den Empfängern von Arbeitslosengeld I. Angesichts der demografischen Entwicklung tut Qualifizierung not. Darüber sind wir uns einig. Wir können auf niemanden verzichten, und wir dürfen und können niemanden zurücklassen.

(Beifall bei der SPD)

Die Zahl der Langzeitarbeitslosen zu senken ist und bleibt Ziel der SPD. Wir lassen gern mit uns darüber reden, ob die Mittel und Instrumente in der Vergangenheit richtig und zielführend eingesetzt wurden. Die Lösung besteht aus unserer Sicht in einer intelligenten Umschichtung. Aber um Langzeitarbeitslose fit zu machen, brauchen wir nicht weniger Mittel, sondern mehr.

Meine Damen und Herren, „Perspektiven schaffen, statt Arbeitslosigkeit zu finanzieren“ – so muss die Devise für uns lauten.

(Beifall bei der SPD)

Haushaltskürzungen sind für uns nur dann vertretbar, wenn alle Bevölkerungsschichten ihrem Leistungsvermögen entsprechend belastet werden. Bei Schwarz-Gelb ist allerdings alles anders. Der Haushalt 2011 ist ein Schutzschirm für starke Schultern, während die schwachen Schultern noch einen Doppelzentner obendrauf gelegt bekommen. So geht es nicht.

(Beifall bei der SPD)

Den sozialen Zusammenhalt organisiert man anders. Wir brauchen das Geld für Qualifizierung und Aktivierung und nicht für Streichungen.

Wie wird es denn ab 2011 in der Praxis aussehen? Schauen wir uns einmal an, wie das in den Jobcentern vor sich gehen wird. Wenn künftig weniger Mittel zur Verfügung stehen, ist zwangsläufig zu befürchten, dass Arbeitslose mit hohem Förderaufwand nicht mehr so zum Zuge kommen, wie es eigentlich nötig wäre.

Lassen Sie uns einmal einen kurzen Blick auf die Auswirkung der Kürzung bei den Institutionen werfen, die unmittelbar davon betroffen sind, nämlich diejenigen, die sich um die Qualifizierung und Wiedereingliederung von Langzeitarbeitslosen kümmern. Ich sage es Ihnen kurz und knapp: Dort sieht es genauso trostlos aus. Wenn weniger Geld für Qualifizierungsprogramme zur Verfügung steht – das ist logisch –, muss unter Umständen externen Dienstleistern gekündigt werden, und wenn denen gekündigt wird, kommen sie in wirtschaftliche Schwierigkeiten, und wenn sie in wirtschaftliche Schwierigkeiten kommen, bedeutet das auch dort einen Verlust von Arbeitsplätzen.

Wie sieht es in den Jobcentern aus? Wie wir wissen, gibt es dort jede Menge befristete Arbeitsverträge. Aber dort wird jeder gebraucht, um überhaupt einen halbwegs vernünftigen Vermittlungsschlüssel gewährleisten zu können. Auch da bleibt man leider hinter unserem Vorschlag 1 : 75 zurück. Auch diese Mitarbeiter und ihre Arbeitsplätze sind, obwohl wir sie brauchen, von der Mittelkürzung bedroht. Im Moment machen dort manche Mitarbeiter Arbeitsberatung und wissen nicht, ob sie nicht schon zu Beginn des neuen Jahres auf der anderen Seite des Tisches sitzen. Das sind keine Zustände.

(Beifall bei der SPD)

Absolutes Kopfschütteln herrscht in allen Fachkreisen doch darüber, dass diese Regierung angesichts des bereits jetzt bestehenden Fachkräftemangels noch die Qualifizierungsmittel für Arbeitslose kürzt. Das ist eine Verschwendung von Chancen und Ressourcen, die niemand mehr verstehen kann. Dafür fehlen einem schlichtweg die Worte.

Meine Damen und Herren von Schwarz-Gelb, lassen wir einen Augenblick die Kürzung der Fördermittel außen vor und betrachten Ihre arbeitsmarktpolitischen Vorhaben als Ganzes. Die Behauptung von Frau von der Leyen,

es gebe im Zuge der Neuregelung zusätzliche Leistungen für Langzeitarbeitslose und deren Kinder, ist ein glatter Täuschungsversuch.

(Beifall bei der SPD)

Ja, es sind mit der geplanten Erhöhung der Regelsätze um 5 € und mit dem sogenannten Bildungspaket für Kinder – das aus unserer Sicht in Wahrheit allerdings eine Mogelpackung ist – Erhöhungen in Höhe von 955 Millionen € geplant. Das ist korrekt. Fakt ist aber auch, dass Sie den betroffenen Leistungsbeziehern die Leistungen durch die kalte Küche wieder entziehen. Ich nenne nur die Streichung des Elterngelds, den Wegfall des Zuschlags zwischen ALG I und ALG II und den Wegfall der Rentenversicherung für Langzeitarbeitslose. Insgesamt kassieren Sie also 2,5 Milliarden € hintenherum wieder ein. Zählt man jetzt noch die Kürzung bei den Fördermitteln hinzu, stellt man fest, es handelt sich um ein gigantisches Sanierungsprogramm auf dem Rücken der Langzeitarbeitslosen.

(Beifall bei der SPD)

Davon abgesehen drücken Sie den Kommunen mit dem sogenannten Bildungspaket einen immensen zusätzlichen Verwaltungsaufwand und zusätzliche Kosten auf. Obendrein streichen Sie den Betroffenen den Heizkostenzuschuss. Was sollen die Betroffenen eigentlich machen – frieren oder sich das Geld von der Kommune holen? Den Kommunen fallen die explosionsartig steigenden Unterkunftskosten sowieso schon vor die Füße. Im Übrigen produziert die Streichung des Rentenbeitrags – ich hatte es eben erwähnt – nicht nur die Armut von morgen, sondern sie kommt auch bei den Kommunen an. Oder wo, glauben Sie, holen sich denn die Betroffenen am Ende ihr Geld ab? – Schütteln Sie nicht den Kopf, das ist Fakt, das ist so.

Dann wundern Sie sich darüber, dass wir angesichts dieses großen Bluffs dem Vorhaben im Bundesrat nicht einfach zustimmen können, ohne dass es zu Nachbesserungen kommt.

(Beifall bei der SPD)

Noch eine kleine Anmerkung. Sie verstehen sich immer als die Parteien der Wirtschaft. Haben Sie sich einmal darüber Gedanken gemacht, wie die wirtschaftlichen Auswirkungen dieses großen Streichkonzerts gerade in wachstumsschwachen Regionen aussehen? Ich will es Ihnen sagen. In den Kommunen, in denen es viele Bezieher von sozialen Leistungen gibt, sind mehr Menschen von Kürzungen betroffen. Das ist doch logisch, oder? Das versteht jeder.

In den Regionen, die ohnehin unter einer hohen Arbeitslosigkeit leiden, wird das Problem also verstärkt. Einerseits werden Familien, die von solchen Leistungen leben, weniger Geld zur Verfügung haben und logischerweise auch weniger ausgeben. Andererseits fallen hohe Kürzungsbeträge häufig dort an, wo auch die Wirtschaftskraft gering ist. Jetzt raten wir einmal alle zusammen, was passiert. Ich sage es Ihnen: In diese Regionen fließt logischerweise noch weniger Geld als vorher.

Meine Damen und Herren, mit all den Maßnahmen, die Sie vorhaben, geraten wir in Deutschland in eine kräftige sozial- und arbeitsmarktpolitische Schieflage: drastische Kürzungen einerseits, wohlwollende Klientelpolitik andererseits.

(Beifall bei der SPD)

Meine Damen und Herren, diese Kürzungen müssen zurückgenommen werden. Geben Sie Ihre Blockadehaltung auf, sorgen Sie mit uns endlich für Fairness auf dem Arbeitsmarkt, und arbeiten Sie mit uns daran, dass die soziale Balance auf dem Arbeitsmarkt wiederhergestellt wird. Es geht um die Bildung in der Schule, um eine gute Ausbildung, um Qualifizierung auch und gerade für Arbeitslose, um die Einführung des gesetzlichen Mindestlohns und um faire Bedingungen in der Leiharbeit.

Meine Damen und Herren – jetzt schaue ich bewusst in Ihre Ecke –, wenn Sie in Berlin und in Wiesbaden nicht bald dafür Sorge tragen, dass diese unsäglichen Kürzungen zurückgenommen werden, dass arbeitslose Menschen weiterhin umfassend qualifiziert werden, dass ein Bildungspaket geschnürt wird, das seinen Namen auch verdient hat, und dass ein gesetzlicher Mindestlohn eingeführt wird, gehen wir arbeitsmarktpolitisch einer Katastrophe entgegen, und wir haben es mit einer sozialen Spaltung zu tun, die wir bald nicht mehr in den Griff bekommen.

(Beifall bei der SPD)

Herr Decker, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Seyffardt?

Nein. Er kann sich zu einer Kurzintervention melden; ich bin gleich fertig. – Ich möchte nur noch eines zum Schluss sagen. Ich weiß, welche Argumente jetzt kommen. Tun Sie uns einen Gefallen: Kommen Sie nicht mit der alten Leier von Frau von der Leyer.

(Allgemeine Heiterkeit)

Entschuldigung, das war ein Versprecher.

(Zuruf von dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Da haben Sie aber lange geübt!)

Wir kennen das. Es heißt dann: Wir müssen das reparieren, was Rot-Grün damals gemacht hat. – Meine Damen und Herren, Rot-Grün hatte damals das gemacht, was notwendig war. Ihre Regierung Kohl hat das 15 Jahre lang vor die Wand gefahren. Das war Punkt 1.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Punkt 2. Sie waren bei allen Entscheidungen, die getroffen wurden, dabei.

Punkt 3. Ich sage Ihnen: Schauen Sie lieber einmal nach vorne. Schauen Sie, dass Sie jetzt nicht so viele Fehler machen, indem Sie das, was vernünftigerweise in die Wege geleitet wurde, beenden.

Ich sage Ihnen noch eines: Es wird schon immer wieder gesagt, es gebe eine Blockadehaltung im Bundesrat. Wenn Sie den Mut gehabt hätten, mit den Sozialdemokraten in Berlin – aber auch wir hätten Ihnen zur Verfügung gestanden – über vernünftige Konzepte und darüber zu reden, wie man das vernünftig macht, wären Sie also auf uns zugekommen, dann hätten wir jetzt eine Lösung auf dem Tisch, die durch den Bundesrat gekommen wäre. Aber das haben Sie verhindert.

Herr Steinmeier wollte mit Frau Merkel reden. Sie hat das hochnäsig abgelehnt.

Herr Decker, kommen Sie bitte zum Schluss Ihrer Rede.

Jetzt haben wir das, was auf dem Tisch liegt. – Meine Damen und Herren, ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der SPD)

Herr Decker, vielen Dank. – Als Nächster spricht Herr Bocklet für die Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN.