Protocol of the Session on October 8, 2009

(Beifall bei der CDU und der FDP)

Danke, Herr Bellino. – Herr Bocklet hat sich noch gemeldet.

(Minister Volker Bouffier geht zum Rednerpult.)

Herr Minister.

Wenn ich das richtig mitbekommen habe, dann haben wir fünf Minuten für – –

(Tarek Al-Wazir (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Herr Minister, Herr Bocklet wollte noch reden!)

Entschuldigung.

Ich hatte gesagt, dass Herr Bocklet noch reden wollte. Aber die Landesregierung hat jederzeit die Möglichkeit, das Wort zu ergreifen. – Dann aber erst Herr Bocklet, bitte.

Herr Präsident, danke schön. – Herr Minister, haben Sie noch fünf Minuten Geduld.

(Heiterkeit bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der FDP)

Herr Bellino, wir erinnern uns noch gut an die sehr sachlich und differenziert geführte Debatte von Roland Koch am 29. Dezember 2007 über die damaligen Vorgänge.Wir können uns alle sehr gut daran erinnern, wie fragil und vorsichtig Herr Roland Koch vorgegangen ist, um damals den Überfall in der Münchner U-Bahn aufzugreifen. Daran erinnern wir uns noch alle im Saale. So wünscht man sich differenzierte Debatten über Gewalt, genau so.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN,der SPD und der LINKEN – Zurufe der Abg. Holger Bellino und Volker Hoff (CDU))

Ich möchte eigentlich den Versuch unternehmen, das Thema einen Tick differenzierter anzugehen, weil ich glaube, dass es den meisten Menschen in diesem Land mittlerweile richtig auf den Senkel geht, dass es bei jedem Vorfall, der in diesem Lande passiert, effektheischerische und populistische Forderungen gibt, die voreilig sind und in der Sache nicht weiterhelfen. Ich bin fest davon überzeugt, dass es den meisten Menschen auf den Nerv geht, wenn einen Tag nach einem Unfall, Überfall oder anderem sofort gesagt wird: „Jetzt weiß ich aber genau, wie es geht.“ Ich glaube, dass uns dies in den zukünftigen Diskussionen nicht weiterhilft.

Ich meine, eine Beschäftigung mit der Studie, die uns vom kriminologischen Institut vorliegt, hätte uns tatsächlich weitergeholfen. Es sind 44.000 Jugendliche befragt wor

den. Ich finde, das ist ein sehr bemerkenswerter Perspektivwechsel – weg von vielen Institutionsbefragungen, hin zu den Jugendlichen selbst und dahin, wie sie eigentlich ihre Bedrohungssituation und Veränderung wahrnehmen.

Es wurden in der Bundesrepublik 61 Orte untersucht, davon vier in Hessen: Frankfurt, Gießen, Hersfeld-Rotenburg und Werra-Meißner-Kreis. Das waren ungefähr 2.500 Jugendliche aus Hessen. Ich finde es ganz beachtlich,welche Zahlen da zutage treten.Ich finde sie zum Teil aber auch widersprüchlich. Das zeigt, dass dieses Thema sehr komplex ist. Ich nenne nur ein Beispiel: 20 % der befragten Jugendlichen sprechen davon, dass sie in den letzten Monaten ein- oder mehrmals in der Schule mit Gewalt konfrontiert worden seien. Und 20 % der befragten Jugendlichen sagen, dass sie mit innerfamiliärer Gewalt in Kontakt gekommen, also in ihrer Familie geschlagen worden seien. Darüber hinaus wird aber gleichzeitig gesagt, der Anteil dieser Jugendlichen, die diese Gewalterfahrung gemacht hätten, sei im Vergleich zu den Zahlen der noch vor zehn Jahren durchgeführten Befragung – damals wurden sie also auch schon befragt – von 24 auf 18 % gesunken. Vor zehn Jahren waren es also noch mehr Jugendliche, die in einem vergleichbaren Zeitraum so eine Gewalterfahrung gemacht haben.

Auch die Versicherungen melden, dass die gemeldeten Fälle von Jugendgewalt an den Grundschulen, die sogenannten Raufunfälle, um 31 % zurückgegangen seien. Das ist widersprüchlich, weil die Zahlen der Polizeianzeigen um 54 % gestiegen sind. Die Jugendlichen selbst melden im Vergleich zu den letzten zehn Jahren eigentlich eine sinkende Jugendgewalt. Die Zahlen der Polizeianzeigen steigen aber.

Ich finde, das bedarf einer differenzierten Diskussion. Deswegen finde ich es auch unterstützenswert, dass die LINKE sagt, wir müssten diese Studie dafür nutzen, um das in Hessen an mehr als vier Standorten zu untersuchen. Ich finde auch den Ergänzungsantrag der SPD richtig, der besagt:Wir wollen es nicht nur auf rechtsextreme Gewalt fokussieren; wir wollen es grundsätzlich diskutieren. – Ich finde, es ist eigentlich längst überfällig, dass wir eine differenzierte Anhörung bzw. Studie vorgelegt bekommen, die sich genau dieses Themas profund annimmt.

Was wir aber in dieser Studie wieder bestätigt bekommen, ist, dass es eines ganzheitlichen Ansatzes zur Bekämpfung von Jugendgewalt bedarf. Wir wissen, dass diese Studie zum x-ten Mal belegt, dass wir eine konsequente Prävention, Bildung für sozial Schwache, die zur Teilhabegerechtigkeit führt, eine Jugendrechtsprechung, die schnell reagiert, und einen Strafvollzug brauchen, der Priorität auf Wiedereingliederung der Jugendlichen, auf pädagogische Begleitung und Erziehungsziele legt. Das ist alles bekannt. Das ist nicht unbedingt neu. Nur lautet der Streit darüber immer wieder, ob es auch tatsächlich umgesetzt wird.

Ich glaube, es wird noch viele weitere Studien geben. Wenn wir aber in diesen Fällen keine konsequente Prävention angehen, werden wir noch so viele Verschärfungen von Jugendstrafen fordern können, es wird uns aber nicht zu dem Ziel führen, dass die Jugendgewalt weniger wird. Es nutzt also nichts, zu sagen: „Wir erhöhen die Haftstrafen von 10 auf 15 Jahre“, denn der Jugendliche, der diese Straftaten begeht, hat schon keine Angst vor 10 Jahren Haft, er wird auch vor 15 Jahren Haft keine haben. Deswegen geht es nur darum, das Bildungssystem so hinzukriegen, dass es – –

Herr Bocklet, bitte kommen Sie zum Schluss.

Wir haben diese vier Faktoren.Wir wissen,worum es geht. Es geht um innerfamiliäre Gewalt und Ausgrenzung bei der Bildung. – Nancy Faeser, wir waren gerade gestern bei den Pfarrern. Ein Jugendpfarrer der Justizvollzugsanstalt Rockenberg hat uns berichtet, es gebe von 210 Insassen nur zwei mit gymnasialem Bildungsabschluss. Das heißt, es sind im Wesentlichen Hauptschüler oder welche ohne Abschluss, die in Rockenberg einsitzen. Wir wissen all dies; und im gleichen Atemzug wird die Prävention nicht verstärkt. Wir bräuchten bei dem Bildungs- und Erziehungsplan Mittel.

Herr Bocklet.

Ich komme zum Schluss. – Und die Schulsozialarbeit wird auch nicht gestärkt. Deswegen: Handeln Sie. Handeln Sie in der Prävention, und wir werden weniger Jugendgewalt in diesem Lande haben. – Danke.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN,der SPD und der LINKEN)

Vielen Dank, Herr Bocklet. – Ich darf Herrn Staatsminister Bouffier das Wort erteilen.

Meine Damen, meine Herren! Ich glaube, wir sind uns einig, dass dieses Thema viele Facetten hat. Diese kann man in fünf Minuten wirklich nicht vernünftig behandeln. Insofern bedauere ich, dass der Antrag jetzt so vorgelegt worden ist. Herr Kollege Bellino hat Ihnen im Ergebnis das zur Antwort gegeben, was auch mein Fazit ist.

Wir haben zuhauf Untersuchungen. Wir kennen das Ganze. Wir haben kein Defizit an Erkenntnissen. Ich habe, mit Verlaub, bei der Innenministerkonferenz ein halbes Dutzend Untersuchungen verschiedener Länder gelesen. Herr Prof. Pfeiffer ist mit seinem Institut seit Jahren ununterbrochen auf diesem Thema unterwegs.Wir haben ganz viele Untersuchungen. Herr Bocklet, ich bin mit Ihnen: Diese Untersuchungen geben gelegentlich Steine statt Brot.

Es ist mitnichten so, dass Sie nur an einer Stelle drehen müssten. Das Thema Bildung ist wichtig, aber es hat damit nur bedingt etwas zu tun. Schauen Sie einmal: Wir haben als eine Ursache von Gewalt Milieugründe. Das wird man nicht ernsthaft bestreiten können – gelegentlich. Wir haben aber auch – das gehört dazu – Gewalt aufgrund eines dramatischen Werteverlusts. Und wir haben Gewalt aufgrund von Verrohung.

Sie waren im Innenausschuss nicht anwesend, weil Sie in einem anderen Ausschuss tätig sind. Dort habe ich vor Kurzem drei Beispiele vorgetragen, wo wir alles durchprobiert haben,aber die beteiligten Jugendlichen nicht er

reichten, die zum x-ten Mal festgenommen wurden, an diesem Tage beim Jugendrichter waren und sogar eine Strafandrohung bekamen – die Strafe sollte in absehbarer Zeit angetreten werden –, doch am gleichen Tag: wieder Gewalt. Da ist man dann relativ hilflos. Ich rate uns allen, von diesem üblichen Pingpongspiel einmal wegzukommen. Frau Faeser, Ihre Ausführungen in Ehren, sie wären aber tragender gewesen, wenn Sie die üblichen Nummern weggelassen hätten. Das hilft nichts.

Zur Verrohung. Wir haben einen ständig steigenden Alkoholmissbrauch. Ich habe Ihnen für Hessen eine Studie vorgelegt.Das ist noch nicht allzu lange her.Seit zehn Jahren verfolgen wir Kriminalität unter Alkoholeinfluss. Dabei haben wir das Thema Autofahren und Alkohol bewusst herausgelassen. Da sind wir beim Flatratesaufen, dem Vorglühen und den Dingen, die wir tun. Wenn wir über Prävention reden, sage ich Ihnen: Diese Landesregierung hat eine Fülle von Dingen gemacht, die deutschlandweit einmalig sind.Wir sind das einzige Land, das mit allen Kommunen und dem Hotel- und Gaststättenverband eine Selbstverpflichtungsvereinbarung eingegangen ist. Wir haben viele Dinge, um die uns andere beneiden. Gleichwohl sind wir nicht ohne Probleme.

Wir haben Gewalt aus extremen politischen und religiösen Gründen.Das dürfen wir nicht weglassen.Und wir haben Gewalt durch Menschen – davor stehen wir in der Regel völlig ratlos –, die weder der Unterschicht angehören noch suchend sind, die teilweise hervorragende Berufe haben, in Anzug und Schlips daherkommen und z. B. bei Fußballspielen Gewalttäter sind. Wie wir nicht nur am 1. Mai in Berlin gesehen haben, beteiligen sich auch Beamte an Krawallen. Wenn Sie das wissen, dann sind diese ganzen schlichten Antworten, die ich hier gelegentlich höre, beim besten Willen wenig hilfreich. Ich mache Ihnen das Angebot:Lassen Sie uns alles,was wir haben – und wir haben eine Fülle –, gemeinsam durchgehen.

Man muss aber auch einmal in Erinnerung rufen – die Absicht der LINKEN war bekannt; man hat es gemerkt; sie haben es selbst gemerkt; sie haben das Thema erweitert, das ist erfreulich –, dass Hessen das Land ist, das bei rechtsextremistischen Gewalttaten seit Jahren die besten Zahlen hat. Das ist kein Zufall, sondern es liegt daran, dass Hessen gegen Extremismus und Gewalt so konsequent vorgeht wie kein anderes Land, meine Damen und Herren.

(Beifall bei der CDU und der FDP)

Mobile Interventionsgruppen gibt es nur in Hessen. Aussteigerprogramme wie IKARUS gibt es nur in Hessen. Investition in diese Bereiche gibt es in dieser Form, wie wir das haben, nur in Hessen. Dann haben wir immer noch unsere Sorgen. Nennen Sie mir ein einziges Land. Brandenburg – –

(Tarek Al-Wazir (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Es ist besser geworden in den letzten drei Jahren!)

Wir sind einsame Spitze. Aber das machen wir auch aus Überzeugung.Ich habe noch nie jemanden gehört,der das ernsthaft bestreiten wollte. Gleichwohl ist jeder Fall einer zu viel. Ich werbe dafür, dass wir einmal aus den Schützengräben herauskommen. Denn in einem Punkt gebe ich Ihnen recht, Herr Bocklet. Dem Opfer ist es relativ wurscht, aus welchen Gründen die Tat erfolgte. Die Bevölkerung kann dies ja auch nicht mehr ertragen. Sie werden von mir zu manchem kein einziges Wort hören. Gestern Abend war „Hart aber fair“.Ich bin bewusst nicht da

hin gegangen, weil ich schon gewusst habe, was da wieder abgelassen wird.

Ich will Ihnen eines sagen: Wir hatten gestern Abend in Frankfurt die Situation, dass drei Mädchen bzw. junge Frauen im Alter von 17 bis 19 hoch alkoholisiert und teilweise unter Einfluss von Drogen diesen 51-jährigen Mann angegriffen haben. Das ist schlimm. Aber auf diesem Bahnsteig und in diesem Zug waren nach meiner Kenntnis und nach dem Polizeibericht etwa zwei Dutzend Leute. Niemand ist diesem Mann zur Hilfe gekommen. Niemand.

(Petra Fuhrmann (SPD): Das ist eine Katastrophe! – Zuruf des Abg. Günter Rudolph (SPD))

Auch darum müssen wir uns sorgen.

(Beifall bei der CDU, der SPD, der FDP und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Eine Frau hat, weil sie kein Handy dabei hatte, einen anderen um ein Handy gebeten,damit sie wenigstens die Polizei anrufen konnte. Erst als der Zugschaffner kam, sind diese drei jungen Frauen geflohen. Jetzt kommt es: Alle drei sind lange polizeibekannt.Alle drei haben ein buntes Vorleben und einen bunten Status, um es einmal vorsichtig auszudrücken.

Ich bin weit davon entfernt,Ihnen heute sagen zu können, was die Gründe sind, weshalb sie sich so verhalten haben. Sie sind schon x-mal belehrt worden. Man hat ihnen angedroht: Wenn ihr so weitermacht, müsst ihr einrücken. – Deshalb will ich einfach nur Folgendes sagen: Wenn Sie sich die Situation in Hessen ansehen, stellen Sie fest, wir sind bei der Gesamtzahl der Kriminalitätsbelastungen, auch was die Jugendlichengewalt angeht, in Deutschland unter den Besten. Das ist so.

Wenn ich der Polizei und allen, die dort wichtige Arbeit leisten, danke, dann will ich einmal Folgendes in Erinnerung rufen. Beschäftigen Sie sich einmal mit den Dingen, die jedenfalls den Innenausschussmitgliedern vorliegen. Beschäftigen Sie sich z. B. mit dem Thema Intensivtäterprogramm. Das gibt es in dieser Form auch nur bei uns. Andere haben andere Maßnahmen.Wenn Sie sich einmal das Intensivtäterprogramm Frankfurt anschauen, stellen Sie fest: Da gibt es einen großen Polizeieinsatz.Wir setzen mittlerweile fast an jeder U-Bahn-Station 20 Beamte ein. Wir sind engstens vernetzt mit der Sozialarbeit und dem Jugendamt. Gleichzeitig erleben wir – das passt auch zu der Debatte zum Thema Aggressivität gegenüber Beamten –, dass die sich teilweise eine halbe Stunde, nachdem alle, die in diesem integrierten Arbeitsbereich tätig sind, also Sozialarbeiter, Jugendrichter und Polizei, dort waren, wieder so verhalten. Dann gestehe ich Ihnen: Ich glaube, dass wir noch lange nicht so weit sind, dass wir allgemeingültige Antworten haben, sondern wir müssen vielleicht erst einmal die richtigen Fragen formulieren.

Gutachten haben wir zuhauf. Da gibt es eine Gutachtenindustrie. Ich kenne jede Menge Professoren, die sich ausschließlich darüber finanzieren. Wir sind da auch oft genug hart an der Erpressung. Manch einer schreibt: Ich werde morgen veröffentlichen, dass Sie nicht mitmachen. – Ich kenne das Thema in- und auswendig. Ich weiß auch, was er Ihnen geschrieben hat. Ich will das hier nicht vertiefen.

Aber eines will ich noch zum Schluss sagen, weil mich das auch lange beschäftigt hat. Ich bin da schon mit meiner eigenen Jugendorganisation in einer sehr schwierigen Diskussion.

(Zuruf der Abg. Petra Fuhrmann (SPD))

Herr Staatsminister, ich erlaube mir den Hinweis auf die Redezeit.

Herr Präsident, ich mache auch gleich Schluss.