Meine Damen und Herren, was ist das Ziel frühkindlicher Pädagogik? – Das Ziel aller frühkindlichen Pädagogik ist die optimale, individuelle Förderung aller Kinder von Anfang an. Im Mittelpunkt steht dabei das einzelne Kind mit seinem Bedürfnis nach Bindung und Geborgenheit, seiner Freude am Spielen und am Lernen, seinem Wunsch nach Gemeinsamkeit und Freundschaft. Kinderbetreuungseinrichtungen sind Orte kindlichen Lebens, nicht ausschließlich Orte, an denen auf das Leben vorbereitet wird.
Meine Damen und Herren, wenn das der Anspruch der frühkindlichen Bildung ist, dann wird der vorliegende Gesetzentwurf diesem Auftrag nicht gerecht, und zwar aus zwei Gründen, die eng miteinander zusammenhängen.
Frau Kollegin Wiesmann, der erste Grund ist in der Tat die Prämisse, die der Minister seit über einem Jahr verkündet, bei der es auch geblieben ist, dass es kein zusätzliches Geld kosten darf. Das war seit einem Jahr seine Parole.
Die zweite Prämisse ist, dass die Fördersystematik und die nach langem Hin und Her eingesetzten Förderbeträge – nach einem glorreichen Sieg der Landesregierung vor dem Staatsgerichtshof – so gewählt wurden, dass Prämisse 1 erfüllt wird. Aus beidem resultieren gravierende Verschlechterungen für die Qualität der frühkindlichen Bildung, und daraus wiederum resultiert die scharfe Kritik, die sich bereits jetzt an vielen Stellen im Land erhebt und die sich weiter verbreiten und an Schärfe zunehmen wird.
Ich möchte in diesem Zusammenhang eine ganze Reihe von Vertretern aus Trägerverbänden und Einrichtungen auf der Tribüne begrüßen, die genau diese Kritik in ihrem Kern und in vielen Details teilen, zu der ich noch kommen werde.
Meine Damen und Herren, die Wahrheit ist, dass die Landesregierung für die Finanzierung der frühkindlichen Bildung auch mit diesem Gesetz nicht mehr Geld auf den Tisch dieses Hauses legen wird als bisher, außer dem Geld, zu dessen Zahlung sie durch den besagten Sieg vor dem Staatsgerichtshof gezwungen werden musste.
Dass sie nach unserer festen Überzeugung mit dem vorliegenden Gesetzentwurf auch dieser Verpflichtung, nämlich den Kostenausgleich nach der MVO, nur unzureichend nachkommt, steht auf einem anderen Blatt, und das werden wir im Laufe der Anhörung zu der Gesetzesberatung noch im Detail nachweisen.
Meine Damen und Herren, die Wahrheit ist auch, dass die Umstellung der Finanzierungssystematik auf den besetzten
Platz mit einer auf das einzelne Kind bezogenen Förderung, mit einer individuellen Förderung gar nichts zu tun hat, weil das, was mit diesem Gesetz geregelt wird, nichts mit Pädagogik, aber viel mit Betriebswirtschaft zu tun hat.
Was sind die Konsequenzen aus dem Gesetz? – Die Qualität der frühkindlichen Betreuung, Erziehung und Bildung wird nicht nur nicht besser, was dringend erforderlich wäre, sie wird in vieler Hinsicht schlechter werden. Sie wird in vielen Bereichen hinter die Vorgaben der MVO zurückfallen, die eigentlich in diesem Gesetz aufgehen sollte, aber de facto an vielen Stellen ausgehebelt wird.
Der neue Finanzierungsmechanismus führt schnurstracks dazu, dass bei den Gruppengrößen, der Fachkraft-Kind-Relation und den Öffnungszeiten jeweils der für Kinder, Eltern, Erzieherinnen und Erzieher schlechteste Wert gewählt werden muss, wenn man eine halbwegs vernünftige Refinanzierung nach diesem Gesetz haben will.
Deswegen will ich das jetzt im Detail noch einmal darstellen, und zwar angesichts der Kürze der Zeit nur in einigen ausgewählten Punkten:
Ich komme erstens zu den Gruppengrößen. Frau Kollegin Wiesmann, wer bei den Gruppengrößen bessere oder auch nur die bisherige Qualität haben will, muss drauflegen. Das wird bei den unter Dreijährigen besonders deutlich. Da werden wir eben nicht mehr Zehnergruppen haben, sondern wir werden durchschnittlich 15er-, 16er- und 17erGruppen haben, und das ist angesichts der realen Verhältnisse in diesen kleinen Gruppen desaströs.
Zweitens. Desaströs ist auch die Nichtberücksichtigung der Inklusion bei den Gruppengrößen. Es gibt bei der Berechnung der Gruppengrößen keinen besonderen Ansatz. Das finden wir, und nicht nur wir, im Zeitalter der inklusiven Bildung und der UN-Behindertenrechtskonvention schlicht skandalös.
Drittens. Bei der Fachkraft-Kind-Relation werden die Vorgaben der MVO von 1,75 Fachkräften pro Gruppe nur dann erreicht, wenn die Gruppe randvoll ist, also bei 25 Kindern. Bisher hatten wir Bandbreiten von 10 bis 25 Kindern. Man wird doch nicht sagen können, dass dies dann eine Verbesserung oder ein Halten der Fachkraft-Kind-Relation ist.
Der betriebswirtschaftliche Zwang zur Flexibilisierung des Personaleinsatzes, der sich aus dieser Finanzierungssystematik ergibt, wird dazu führen – auch das teilen alle Fachleute, mit denen wir gesprochen haben; ich weiß nicht, mit wem Sie gesprochen haben, aber ich habe mit vielen gesprochen –, dass mehr Teilzeitarbeitsverhältnisse geschaffen, mehr befristete Verträge geschlossen, mehr Personal von einer Einrichtung zur anderen geschoben werden wird und dass damit die für Kinder so wichtige Betreuungskontinuität – das ist ein Anliegen, das wir beide teilen –, die Bindung und das Vertrauen auf der Strecke bleiben werden.
Viertens. Denselben Effekt wird auch der durch das Gesetz ermöglichte Einsatz nicht qualifizierten Personals haben. Ich finde es ganz und gar unmöglich, wie man in einer Situation, die nach Höherqualifizierung nur so schreit, in der die Anforderungen an Betreuung, Erziehung und Bildung
in der frühen Kindheit gesamtgesellschaftlich und individuell steigen, auf so eine Idee kommen kann. Liebe Kollegen, das ist mir wirklich vollkommen unerklärlich, und ich halte das für unverantwortlich.
Ich halte das auch deswegen für unverantwortlich, weil Sie sich doch einmal überlegen müssen, welche Botschaft Sie damit an die derzeitigen Erzieherinnen und Erzieher aussenden und welche Botschaft Sie an die jungen Leuten senden, die derzeit in den Fachschulen für Sozialpädagogik und in den einschlägigen Studiengängen an den Hochschulen einen mühsamen Weg zur Hochqualifizierung beschreiten, die wir brauchen. Wir brauchen durchschnittlich höher qualifizierte und nicht schlechter qualifizierte Arbeitskräfte. Das ist doch der Punkt.
Noch ganz kurz zu einem Punkt, den Betreuungszeiten. Bei einer Betreuungszeit von unter 25 Stunden werden 22,5 Stunden als durchschnittlicher Betreuungswert angerechnet. Das reicht noch nicht einmal für einen Halbtagsjob. Ich will jetzt alle anderen Punkte weglassen, die immer zu demselben Ergebnis führen, dass diese Betreuungszeiten, wie Sie sie jetzt anrechnen, wenn man sie in der Realität tatsächlich in Betreuungspakete für Eltern umsetzen würde, mit der aktuellen Situation von Eltern, insbesondere wenn beide berufstätig sind, nichts, aber auch gar nichts zu tun haben.
Meine Damen und Herren, wir sind – ich will noch ganz kurz etwas zur Finanzierung sagen – fest überzeugt, auch das werden wir im Laufe der Ausschussberatungen und der Anhörung erhärten, dass die Träger und die Einrichtungen nicht in einigen, sondern in vielen Fällen nach dem KiföG in puncto finanzielle Förderung durch das Land schlechter dastehen werden als vor dem KiföG. Selbst die Abgeltung der Mehrkosten nach der MVO im Gesetz wird nicht abgebildet.
Ich komme um Schluss. – Ich lasse die Ausfallzeiten und den bürokratischen Aufwand – dieser steigt, es wird ja nicht einfacher und transparenter – weg und komme noch einmal zum Fazit: Dieser Gesetzentwurf ist ein schlechter Gesetzentwurf. Er macht die Finanzierungsstrukturen nicht einfacher und die Finanzierung nicht besser. Er macht die Situation der Eltern nicht leichter. Er ist in puncto Inklusion skandalös. Er entspricht nicht den Anforderungen an eine moderne frühkindliche Pädagogik. Deswegen, meine Damen und Herren, darf dieser Gesetzentwurf nicht verabschiedet werden.
Herr Präsident, meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir beraten das Kinderförderungsgesetz in erster Lesung. CDU und FDP haben das Ziel ausgegeben, Familienland Nummer 1 zu werden. Frau Wiesmann, wir haben Ihnen sehr genau zugehört: Sie haben die Eins weggelassen.
Es ist ein erster Lerneffekt. Ich glaube, Sie werden es auch in dieser Legislaturperiode nicht mehr erreichen. Sie haben sich im Koalitionsvertrag von CDU und FDP vorgenommen, die Kinderbetreuung zukunftsfähig zu regeln. Sie haben sich vorgenommen, und das ist ein hehres Ziel, Familienland Nummer 1 zu werden und die Kinderförderung und -betreuung zukunftsfähig zu regeln. Wenn man diesen Entwurf aber an Ihren Maßstäben misst, sind wir leider Lichtjahre davon entfernt, Ihren Ansprüchen zu genügen.
Ich möchte das gern ausführen. Jeder, der sich die Frage stellt, wie wir zukünftig mit Kinderbetreuung umgehen, muss sich zunächst einmal der Realität nähern und sich die Situation vergegenwärtigen, in der wir uns in Hessen im Moment befinden. Im Dezember 2012, also heute, fehlen über 9.000 Betreuungsplätze für Kinder unter drei Jahren. Wir haben als letzten Stand 49.000 Betreuungsplätze, das wurde am Montag vom Jugendhilfeausschuss bestätigt. Wir brauchen aber 58.000, d. h., uns fehlen noch 9.000 Betreuungsplätze für Kinder unter drei Jahren.
Im Dezember 2012 fehlen für Grundschulkinder Tausende Betreuungsplätze an Grundschulen oder in Horten. Und im Dezember 2012 fehlen über 3.000 Erzieherinnen und Erzieher im Bundesland Hessen. Dafür, das sollten wir bitte auch nie vergessen, trägt nur eine Stelle die volle Verantwortung in diesem Land: Das ist diese Landesregierung. Und das werden wir Ihnen zu jeder Zeit noch einmal vorführen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, wer also mit diesem Kinderförderungsgesetz für die Kinderbetreuung und den Bildungs- und Erziehungsplan einen Rahmen setzen will – Frau Kollegin, es ist übrigens ein Bildungs- und Erziehungsplan, der von null bis zehn Jahren gilt, nicht von null bis sechs Jahren, deshalb beginne ich damit –, muss sich die Frage stellen, wie er Tausenden Eltern in Hessen – rechnerisch sind es, glaube ich, sogar Zehntausende – nach einer Betreuungskette von unter drei Jahren in der Krippe und im Kindergarten bis sechs Jahren eigentlich helfen wird, dass ihre Kinder um 12, 13 Uhr auskömmlich betreut werden.
Diese Frage wird in diesem Kinderförderungsgesetz mit keinem Wort beantwortet. Wie realitätsfern sind Sie eigentlich, meine sehr verehrten Damen und Herren?
Ein zweites Ergebnis dieses Kinderförderungsgesetzes ist, dass Ihnen – ich erwähnte es schon – über 3.000 Erzieherinnen und Erzieher fehlen. Ich bewundere die offene und ehrliche Art des Dr. Bartelt, der in seiner Presserklärung schreibt: „Aufgrund des mangelnden Fachkräftebestands werden wir ‚flexibilisieren‘ und 20 % fachfremdes Personal in die Kindergärten schicken.“
Was daran ist Blödsinn? – Lesen Sie einmal Ihr eigenes Kinderförderungsgesetz, Herr Rock. – Was für eine Panikreaktion muss es sein, wenn man fünf Jahre lang die Situation verschlafen und zu wenige Ausbildungsplätze geschaffen hat. Was macht man jetzt? Jetzt wird fachfremdes Personal in Kindergärten geschickt. Was für ein Desaster der frühkindlichen Bildung, meine sehr verehrten Damen und Herren.
Allein die fehlende Antwort auf die Grundschulkinderbetreuung sowie die Zulassung fachfremder Personen sind schon Anlass genug, dem Gesetz sehr kritisch gegenüberzustehen. Hinzu kommt, dass sich diese Woche mehrere Verbände und Organisationen der Kinderbetreuung zu der Frage der „Flexibilisierung“, wie Sie es nennen, geäußert haben. Diese besteht faktisch in der Zusammenlegung bzw. Kombination verschiedener Faktoren, weil Sie viele Kommunen in Finanznot gebracht haben – das muss ich nicht noch einmal extra wiederholen –, was faktisch eine Absenkung von Qualitätsstandards bedeutet.
Was ist das für ein Anachronismus, nachdem wir hier mehr als fünf Jahre Qualitätsstandards diskutiert haben? Wenn das nicht zu einem selbstverständlichen Teil von Qualität in der frühkindlichen Bildung geworden ist, wie anachronistisch und rückwärtsgewandt kann man ein solches Problem eigentlich angehen?
Mit der Pauschalierung, die Sie dort hineinschreiben – Sie haben es mit 22 Stunden angesprochen, Herr Kollege Merz, ich sage es nochmal –, werden die Öffnungszeiten auf 42,5 Stunden pauschaliert. Das bedeutet faktisch, dass viele Kitas, die den vollen Betrag ausschöpfen können, um 16 Uhr schließen werden. Wie rückwärtsgewandt ist das, wenn wir alles versuchen, um längere Öffnungszeiten in Kinderbetreuungseinrichtungen zu erreichen? Wir brauchen Öffnungszeiten bis 17 Uhr, damit die Vereinbarkeit von Familie und Beruf tatsächlich realisiert wird.
Zweitens. Hinsichtlich der Gruppengrößen – der Kollege Merz hat es schon angesprochen, und der Kollege Rock hat versucht, es nicht wahrzunehmen – werden Sie in den Anhörungen belegt bekommen, und mittlerweile läuft sogar eine Formel durch Hessen, mit der Sie es ganz einfach berechnen können: Wenn man den vollen Förderzuschuss abschöpfen will, sind die Kommunen bzw. die Träger bei Kindern unter drei Jahren, also den Krabbelkindern – bei Hortkindern lassen wir gern mit uns diskutieren –, gezwungen, die Gruppengröße von 10 auf 15, 16 anzuheben.
Da muss man wirklich feststellen – gerade in Ihre Richtung, Frau Wiesmann, die ich immer wieder in der Frage der Bindungsforschung sehr überzeugend finde –, dass kleine Kinder eine feste Bindung und einen festen Bezugspunkt brauchen. Die Krippengruppen in unverantwortlicher Weise auf 16 aufzublasen, ist daher nicht tragbar.