Protocol of the Session on May 14, 2008

Herr Präsident, meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich glaube, diejenigen, die die hessische Landespolitik ein bisschen länger als die vergangenen beiden Monate lang beobachtet haben,haben verstanden,warum ich eben laut gelacht habe, als Herr Kollege Rock gesagt hat: „Sie wissen, dass sich die Hessische Landesregierung hier nicht mit Ruhm bekleckert hat“. – Herr Kollege Rock, ich kann zumindest für mich sagen, dass ich noch immer von der Wendehalsigkeit Ihrer Partei begeistert bin. Ich bin auch wirklich fassungslos, da ich festgestellt habe, dass Sie nun plötzlich das erkennen, was wir in Hessen bereits seit neun Jahren vortragen. Seit neun Jahren tragen wir Ihnen vor, was Sie in der Sozialpolitik alles falsch machen. Seit neun Jahren hat dies niemand begriffen, doch die CDU hat nun nach der Wahl offensichtlich einiges begriffen.

Die FDP hat zwischenzeitlich auch begriffen, dass dies alles Mist war.

(Beifall bei der SPD – Michael Boddenberg (CDU): Das sagen Sie nur, weil Frau Ypsilanti gerade nicht im Saal ist!)

Wo liegt das Problem?

(Michael Boddenberg (CDU): Das haben Sie gerade mitbekommen! Machen Sie ruhig weiter!)

Sie vermissen Frau Ypsilanti? Es gibt Termine,die lassen sich nicht aufschieben. – Meine Damen und Herren, ich fand die Krokodilstränen, die die Partei der Besserverdienenden oder die Pünktchenpartei aufgrund der Beteiligung der SPD auf Bundesebene vergossen hat – –

(Florian Rentsch (FDP): Das ist die Partei, der Sie vor einigen Wochen noch in den Hintern gekrochen sind!)

Herr Kollege, ich habe das Mikrofon. – Diese Partei, der die Entstaatlichung, der Sozialabbau, die Entlastung der Unternehmen sowie die Belastung der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer nie weit genug gehen können, hat aufgrund der wachsenden Armut in diesem Land Krokodilstränen vergossen.

(Michael Boddenberg (CDU): Das war jetzt eine Absage an die Ampel! – Zurufe von der CDU und von dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Herr Kollege Rentsch, wenn ich mein eigenes Wort kaum noch verstehe, dann rufen Sie ein bisschen zu laut dazwischen.

(Florian Rentsch (FDP): Dann rufe ich etwas leiser dazwischen!)

Dann rufen Sie eben ein bisschen leiser dazwischen. – Meine Damen und Herren, ich möchte heute über ein ernsthaftes Problem sprechen, nämlich über Armut. Arm ist nicht, wer hungert, sondern wer vom sozialen Leben ausgeschlossen ist. So definiert die Armutsforschung den Begriff „relative Armut“. Armut bedeutet in Hessen gemäß der Definition der Europäischen Union, von 730 c im Monat leben zu müssen.

Gemäß dieser Definition haben wir in Hessen rund 230.000 Bedarfsgemeinschaften – davon leben rund 80.000 Haushalte mit Kindern in „relativer Armut“. Das sind 320.000 Erwachsene und 130.000 Kinder, die von Transfereinkommen leben müssen. Arm sein bedeutet, wenig Geld zur Verfügung zu haben. Es bedeutet oft aber auch schlechtere Ernährung und weniger Bewegung. Arme Kinder haben weniger Hilfe bei schulischen Problemen. Sie müssen oft auf Ausflüge und Kindergeburtstage verzichten, weil es am Geld mangelt. Das ist aber ein anderes Thema, über das wir in Kürze debattieren werden. Sie müssen auch häufig in der Kindertagesstätte oder in der Schule auf ein warmes Mittagessen verzichten.

Während beim Bund – das hat Herr Kollege Rock richtig gesagt – bereits am dritten Bericht gearbeitet wird, stochern wir in Hessen noch im Nebel. In 13 von 16 Bundesländern – außer in Bremen, im Saarland und in Hessen – gibt es bereits seit den Neunzigerjahren Armuts- und Reichtumsberichte, die Berichte zur sozialen Lage sind und die zeigen, dass auch in Hessen ein Armuts- und Reichtumsbericht wirklich überfällig ist.

Das ging in den letzten Jahren allerdings nicht. Frau Lautenschläger sagte stets in der ihr eigenen Art – ich zitiere –: „Wir brauchen kein neues Berichtswesen. Wir brauchen

keinen neuen Armuts- und Reichtumsbericht, sondern wir müssen schauen,wenn wir Zielvereinbarungen haben, wie diese im Detail umgesetzt werden.“ 13 von 16 Bundesländern und der Bund sehen das anders.Wir sehen das auch anders.

(Beifall bei der SPD)

Deshalb ist und bleibt es ein Armutszeugnis der Landesregierung, der Forderung von SPD und GRÜNEN, von Kirchen, Gewerkschaften und Wohlfahrtsverbänden immer eine Absage erteilt zu haben. Armut in einem vergleichsweise reichen Land wie Hessen stellt ein ernst zu nehmendes soziales Problem und eine ständige Herausforderung für die Politik dar. Natürlich wird das Problem Armut nicht durch einen Armutsbericht gelöst. Aber der Bericht ist eine unerlässliche Informationsquelle, um politische Entscheidungen sachgerecht zu treffen

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

und die Effektivität und Wirksamkeit von Maßnahmen überprüfen zu können. Analysen, Prognosen und Handlungsempfehlungen von Armuts- und Reichtumsberichten sind daher ein unverzichtbares Steuerungselement für die Planung und Weiterentwicklung von Sozialpolitik, wenn man denn steuern will. Das haben wir in den letzten Jahren nicht erkennen können.

(Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten der LINKEN)

Der Bericht sollte eine Bestandsaufnahme von Einkommensarmut in Hessen liefern. Er sollte Wege zur Bekämpfung von Einkommensarmut und sozialer Ungleichheit aufzeigen und insbesondere die Situation von Kindern und Jugendlichen und deren Familien behandeln. Den Berichten der Bundesregierung zufolge ist die Armut in Deutschland kontinuierlich gestiegen. Herr Rock, was Sie gesagt haben, stimmt: Das ist bedrückend. Im gleichen Zeitraum ist aber auch der gesellschaftliche Reichtum – Herr Rock, über den haben Sie nicht gesprochen –, nämlich das Bruttoinlandsprodukt und der Reichtum durch Erbschaften usw., gestiegen.

Deshalb genügt es meines Erachtens nicht, nur die Einkommensentwicklung am unteren Ende zu betrachten, sondern man muss auch die Einkommensentwicklung am oberen Ende betrachten. Ein solcher Bericht muss sich auch mit der Verteilung von Geld bzw. Einkommen befassen.Wer Armut bekämpfen will, kann nicht auf Mildtätigkeit setzen, sondern muss auch über das Steuersystem nach- bzw.umsteuern,damit genügend Mittel für Bildung, für Betreuung und für eine nachhaltige Sozialpolitik zur Verfügung stehen. Davon höre ich von der FDP leider nie etwas.

Meine Damen und Herren,Armut hängt nicht ausschließlich mit der finanziellen Situation zusammen. Es gibt Menschen, die arm sind, weil sie aus Unwissenheit oder wegen mangelnder Sprachkenntnisse, wegen psychischer oder sozialer Labilität z. B. nicht mit Geld umgehen können. Ihre Einkommen zu erhöhen, würde diese Probleme nicht lösen. Das heißt, hier sind Unterstützungsstrukturen gefragt, die die Landesregierung im Rahmen der „Operation düstere Zukunft“ nachhaltig abgebaut hat.

(Horst Klee (CDU): Das musste ja kommen!)

Herr Klee, sicher. In jeder meiner Reden werden Sie das hören, bis ans Ende Ihrer Tage.

(Beifall bei der SPD und der LINKEN – Zurufe von der CDU – Horst Klee (CDU): Nichts Neues!)

Meine Damen und Herren, die Wahrheit hört man nicht gerne. Die schlimmsten Untaten verjähren nie, Herr Kollege Klee. Das war eine schlimme Untat.

Armut ist mehr als Geldmangel. Wer wenig Geld hat, ist vom gesellschaftlichen Leben ausgeschlossen und ist deshalb auch arm an Teilhabe.Wer mit ALG II oder mit Niedriglöhnen alle notwendigen Ausgaben, wie Strom, Telefon, Fahrkarten, Essen, Kleidung und Haushaltsanschaffungen, bestreiten muss, für den sind weder Urlaub noch Kino noch ein kühles Radler im Biergarten möglich. Es gibt Menschen, die aus Kostengründen bei Krankheit nicht zum Arzt gehen, die kein Buch in der Stadtbibliothek ausleihen oder sogar ihre Wohnung nicht ausreichend heizen, um Geld zu sparen. Es gibt Kinder – das hatten wir bereits –, die mit knurrendem Magen in der Schule sitzen, die an Schulausflügen nicht teilnehmen, oder Familien, denen die 6 c, die man für eine Schultüte im Kindergarten bezahlt, absolut wehtun.

Meine Damen und Herren, das ist insofern eine große Herausforderung für die Politik und insbesondere auch für die Landespolitik. Das Ziel muss sein, allen Menschen die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben zu ermöglichen. Wer Armut bekämpfen will, muss Arbeitslosigkeit und mangelnde Bildung – das sind die wichtigsten Faktoren – bekämpfen. Wer Menschen aus dem Alltag zwischen Fernseher und Suppenküche holen will,muss sich um Jobs kümmern und Gelegenheiten für ein lebenslanges Lernen bieten. Gerade Alleinerziehende haben wegen mangelnder Kinderbetreuung – wieder ein Bezug zu dem vorvorherigen Punkt – immer noch geringere Chancen auf dem Arbeitsmarkt. Das ist durch staatliche Transferleistungen nicht zu kompensieren. Wir brauchen deshalb dringend mehr Krippenplätze und Ganztagsangebote. Ich glaube, dazu besteht inzwischen Einigkeit in diesem Hause.

(Beifall bei der SPD und der LINKEN)

Arm ist auch, wer nicht arbeiten kann, weil ihm oder ihr die Deutschkenntnisse und die Bildung fehlen und infolgedessen den Kindern in der Schule nicht geholfen werden kann.

In Deutschland wird Bildung noch immer vererbt. Ob jemand studiert oder nicht,hängt klar von der sozialen Herkunft ab. Bei der 18. Sozialerhebung des Deutschen Studentenwerks kam heraus:Während von 100 Akademikerkindern 83 den Hochschulzugang schaffen,sind es von 100 Arbeiterkindern nur 23. – Herr Klee, da können Sie den Kopf schütteln. Das sind Erhebungen.

(Horst Klee (CDU):Das mache ich,wie ich will! Ob ich den Kopf schüttele, bestimme immer noch ich!)

Frau Kollegin, Ihre Redezeit ist zu Ende.

Meine Damen und Herren, es war am Anfang ein bisschen rummelig. Deswegen bin ich mit meiner Rede nicht ganz im Zeitplan. Ich möchte nur noch drei Punkte nennen.

Wir brauchen eine bessere Bildungspolitik. Wir müssen mehr für die Gesundheit von armen Menschen tun. Wir müssen einen Armuts- und Reichtumsbericht schaffen, der alle Lebenslagen berücksichtigt. Ich sage Ihnen: Wir müssen versuchen, in diesem Bericht extreme und auch

verdeckte Armut zu erfassen. Nach dem Bericht der Bundesregierung kommen auf drei Sozialhilfeempfänger noch einmal eineinhalb bis zwei Sozialhilfeberechtigte, die ihre Ansprüche nicht geltend machen. Auch um die müssen wir uns kümmern. Ich bin fest davon überzeugt, dass wir einen Aktionsplan gegen Armut in Hessen auf solidem wissenschaftlichem Fundament brauchen. Dazu brauchen wir die Daten. Ich bezweifle, dass es sinnvoll ist – das werden wir in der Ausschussberatung diskutieren –, einen zweijährigen Rhythmus, wie die GRÜNEN es vorschlagen, zu vereinbaren. Ich denke, einmal in der Legislaturperiode wäre eine gute Grundlage. Das heißt nicht, dass man nicht kürzere Berichte oder Einzelberichte zu bestimmten Lebenslagen auch in kürzeren Abständen erstellt.

Frau Kollegin, Ihre letzten Worte.

Der allerletzte Satz. – Wir werden diesem Gesetzentwurf nach Beratung im Ausschuss mit einigen Änderungen zustimmen, weil wir glauben, es ist an der Zeit, dass endlich auch in Hessen gehandelt wird. – Danke schön.

(Beifall bei der SPD)

Danke schön. – Das Wort hat Herr Abg. Bauer für die Fraktion der CDU.

Sehr geehrter Herr Präsident, sehr geehrte Damen und Herren! Die CDU ist durchaus der Auffassung, dass eine Berichterstattung über soziale Kennziffern sinnvoll ist. Deshalb unterstützen wir die Sozialberichterstattung, die die Landesregierung auf den Weg gebracht hat. Bekanntlich wird derzeit auch mit der Liga der Freien Wohlfahrtspflege eine solche Berichterstattung erarbeitet.Daher stehen wir einem Armuts- und Reichtumsbericht nicht prinzipiell ablehnend gegenüber.

(Demonstrativer Beifall der Abg. Kordula Schulz- Asche (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) – Petra Fuhrmann (SPD): Das ist etwas Neues!)

Nach unserer Auffassung sind aber drei Aspekte strittig, und zwar drei wesentliche Aspekte. Erstens. Brauchen wir für das Vorhaben tatsächlich ein Gesetzgebungsverfahren? Zweitens. Welcher Aufwand ist für eine solche Untersuchung angemessen und vertretbar? Drittens. Wie beurteilen wir den zusätzlichen Erkenntnisgewinn einer solchen Berichterstattung für das politische Handeln?

(Petra Fuhrmann (SPD): Sehr wichtig!)

Werte Kolleginnen und Kollegen, der Spruch ist hier sicher schon des Öfteren gefallen:Wenn es nicht notwendig ist, ein Gesetz zu erlassen, dann ist es notwendig, kein Gesetz zu erlassen. – Das gilt auch für diesen Gesetzentwurf. Wenn das Parlament mit Mehrheit einen Beschluss zur Erstellung eines solchen Berichtes fasst, wird die Landesregierung auch entsprechend handeln.

Wir sollten deswegen unnötige Bürokratisierung vermeiden. In den Ländern, in denen es bereits eine solche Be

richterstattung gibt, erfolgt dies auch auf der Grundlage eines Landtagsbeschlusses und nicht aufgrund eines Gesetzes.

(Zuruf der Abg. Petra Fuhrmann (SPD))

Was ist denn Armut eigentlich? Hält man sich an den Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung – wir hatten es schon gehört –, so ist jeder Haushalt von Einkommensarmut bedroht, dessen Einkommen weniger als 60 % des durchschnittlichen Haushaltseinkommens beträgt. Das sagt über Armut im Land noch nicht viel aus, wohl aber über das Maß der Einkommensungleichheit.