Protocol of the Session on May 8, 2003

Schülerinnen und Schüler in Deutschland verfügen am Ende der 4. Jahrgangsstufe nicht nur über vergleichsweise hohe Kompetenzen im Leseverständnis, sondern im internationalen Vergleich auch über eine in ihren Leistungen sehr homogene Schülerschaft.

Dies zeigt, dass Grundschulen durch ihre reformpädagogischen Ansätze, die sie als erste Schulen eingeführt haben, trotz der – international gesehen – unbestreitbar schlechteren Finanzierung gegenüber den Mittelstufenschulen tatsächlich zu besseren Ergebnissen kommen. Im gemeinsamen Unterricht kommen sie im Vergleich zu den homogenen Bildungsgängen der mehrgliedrigen Schulsysteme zu besseren Ergebnissen. Das ist ein Befund, mit dem wir uns länger beschäftigen sollten. Er zielt darauf ab, wie wir unser Bildungssystem gestalten sollten.

Die Grundschulen sind damit in ihrer Arbeit aufgewertet worden.Es zeigt sich,dass pädagogische Bildungsarbeit in Klassen,in denen gemeinsamer Unterricht stattfindet und individuelle Förderung besser machbar ist, zu besseren Ergebnissen führen kann, als wenn man vermeintlich

gleichartige Schülerinnen und Schüler in unterschiedliche Bildungsgänge aussortiert.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Hans-Jürgen Irmer (CDU): Sie haben das Ergebnis von Max Planck nicht gelesen!)

Auch ein weiterer Befund sollte uns zum Nachdenken anregen. Die Leistungen in der Grundschule sind signifikant weniger vom sozialen Hintergrund abhängig als in der Sekundarstufe. Das heißt doch, dass Grundschullehrer und lehrerinnen versuchen, Kinder tatsächlich im Lernen mitzunehmen, in erster Linie nicht über Leistungsdruck, sondern durch eine fördernde Unterrichtskultur.

Das soll nicht bedeuten, dass in der Grundschule alles in Butter wäre. Das kann man nicht sagen. Die Grundschulstudie zeigt auch auf, wo nach wie vor Probleme bestehen, wo es Schwächen gibt und wo die Politik und die Schulen entsprechende Konsequenzen ziehen müssen.

Auch in den Grundschulen gibt es nach wie vor eine zu große Risikogruppe, die in der Sekundarstufe weiter abgehängt wird.

IGLU schreibt uns ins Stammbuch, dass sich nur schwierig kompensieren lässt, was in der Grundschule und in der vorschulischen Bildung nicht aufgebaut wurde. Das bedeutet im Klartext, dass es aus sozialen und ökonomischen Gründen notwendig ist, mehr Kinder zu besseren Schulabschlüssen zu führen. Dies muss bereits in der vorschulischen Bildung begonnen werden.

Deswegen reicht es nicht aus, in dem Regierungsprogramm „anzustreben“, einen Bildungsplan für die Kindergärten zu entwerfen. Es duldet vielmehr keinen Aufschub, einen Bildungsplan, ein verbindliches Curriculum, für die Kindergärten zu entwickeln. Das bedeutet keine Lehrpläne für die Kindergärten, sondern, dass man einen Rahmen schafft,in dem die Kindergärten ihre Arbeit konzipieren können und der die gesamte Persönlichkeit von Kindern im sprachlichen, musischen, sozialen und motorischen Bereich fördert.

Auch darf die sprachliche Förderung nicht erst im 5. Lebensjahr beginnen, sondern muss weit früher, schon bei den dreijährigen Kindern in den Kindergärten, ansetzen.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Darauf kann und müsste man die Grundschulen aufbauen. Sie müssen die Kinder da abholen, wo sie stehen. Es zeigt sich, dass Grundschulen das durchaus gut können.

Aus unserer Sicht ist es sinnvoll, dies mit flexiblen Eingangsstufen zu machen, weil Kinder auch im Alter von sechs bis acht Jahren noch unterschiedliche Entwicklungssprünge haben. Sie können unterschiedlich schnell bestimmte Dinge auffassen.

(Hans-Jürgen Irmer (CDU): Haben wir doch!)

Wir haben keine generellen flexiblen Eingangsstufen. Herr Irmer, wir haben ganz wenige Schulen, die das machen. Die meisten Grundschulen haben ihre 1. und 2.Klassen.Nach dem neuen Schulgesetz kann man bereits nach der 1. Klasse sitzen bleiben. Das halten wir für einen Fehler.

Wir sind der Meinung, wir brauchen Grundschulen, die verbindlich mit Kindergärten zusammenarbeiten und den Kindern ermöglichen, durch entsprechende Förderung die ersten beiden Klassen in einem Jahr, in zwei Jahren oder in drei Jahren zu durchlaufen, d. h. die individuelle

Förderung noch mehr in den Mittelpunkt des Unterrichts zu stellen.

(Zuruf des Abg. Hans-Jürgen Irmer (CDU))

Das gibt es nur an wenigen Schulen in Hessen und leider nicht an allen Grundschulen. Hier erwarten wir eine entsprechende Rahmensetzung.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Meine Damen und Herren, ein wesentlicher Punkt ist die sechsjährige Grundschule. Wir wollen, dass das Schulgesetz so geändert wird, dass generell sechsjährige Grundschulen dort eingeführt werden können, wo die Schulen ein entsprechendes Konzept entwickeln und die Schulträger diese Konzepte unterstützen.

Das ist deshalb so wichtig, weil uns IGLU und PISA sagen, dass es starke Überlappungen der Leistungen gibt, dass die Laufbahnempfehlungen in den 4.Klassen sehr oft grundfalsch sind und dass nach wie vor in den Sekundarstufenschulen in der 5.und 6.Klasse stark ausgesiebt wird. Das ist der falsche Ansatz.

Wir brauchen längeres gemeinsames Lernen, denn die Sekundarstufe I – also die Mittelstufe mit der 5. bis 10. Klasse – krankt doch an der Mär der angeblichen homogenen Leistungsgruppen, dass man mit diesen angeblich homogenen Bildungsgängen tatsächlich mit einer besonderen Unterrichtsmethode all diese Kinder erreichen kann. Und wenn man ein Kind nicht erreicht, ist das Kind in diesem Bildungsgang falsch. Also wird es nach unten sortiert.

Alle Studien, auch von Wirtschaftsverbänden, sagen aus, dass in der Regel nach unten sortiert wird, dass die Leistungsstärkeren nicht besser gefördert werden und die Schwächeren ebenfalls das Nachsehen haben.Wir können bei diesem Befund nicht stehen bleiben, sondern wir müssen dagegen etwas tun.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Meine Damen und Herren, individuelle Förderung und Leistungsfähigkeit sind da viel stärker ausgeprägt, wo Heterogenität als Chance und nicht als Last begriffen wird. Das zeigen uns andere Länder. Es gibt Grundschulen, die haben z. B. Förderstufen und aufgrund allgemein rückgängiger Schülerzahlen das Problem, dass sie eigentlich ihre Förderstufen abgeben müssten.

Warum geben wir diesen Schulen nicht als Erstes die Chance, sechsjährige Grundschulen zu werden, für sich ein Konzept zu entwickeln, damit Kinder tatsächlich entsprechend ihren Fähigkeiten – –

(Hans-Jürgen Irmer (CDU): Steinzeit ist das!)

Herr Irmer, „Steinzeit“ sagen Sie? Darf ich Ihnen einmal etwas sagen?

(Zuruf des Abg. Hans-Jürgen Irmer (CDU))

Ich verteidige doch hier nicht die Förderstufe, sondern ich sage, gerade dort, wo die Förderstufen nicht mehr so viel Akzeptanz haben bzw. die Schülerzahlen zurückgehen,

(Hans-Jürgen Irmer (CDU):Warum denn nicht?)

wollen wir den Schulen ermöglichen, neue, moderne, vorwärts weisende Konzepte zu entwickeln.

(Hans-Jürgen Irmer (CDU): Oh!)

Das ist nicht die Steinzeit, sondern das ist der Weg in eine bessere Zukunft.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Frau Abgeordnete, Ihre Redezeit ist verbraucht. Ich bitte Sie, zum Ende zu kommen.

Ich komme zum Ende.

Es zeigt auch, dass wir auf dem richtigen Weg sind, dass wir gute Verbündete haben. Die Bertelsmann-Stiftung ist z. B. dafür, dass es längeres gemeinsames Lernen gibt. Der Handwerkstag Baden-Württemberg ist dafür, dass es eine neunjährige gemeinsame Schulzeit in allen Schulen gibt.

(Hans-Jürgen Irmer (CDU): Schrecklich! Das ist ein Verbrechen an den Kindern!)

Frau Hinz, Sie müssen zum Ende kommen.

Ich komme mit einem letzten Zitat zum Ende, nämlich mit einem Zitat aus der „FAZ“ – Herr Irmer –, 11.03.03:

Gerhard Repp, Präsident der Handwerkskammer Kassel, fordert für Deutschland den Umbau des Schulsystems zu einer neun Jahre dauernden Basisschule nach finnischem Vorbild.

Meine Damen und Herren, wie Sie sehen, haben wir gute Verbündete auch aus dem Wirtschaftslager. Sie sollten die Chance nutzen, wenigstens die gemeinsame Schulzeit um zwei Jahre zu verlängern. – Danke schön.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Für die CDU-Fraktion hat Frau Abg. Kölsch das Wort.

Frau Präsidentin, meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich möchte auch zu Anfang meiner Rede ein paar Sätze aus dem Buch „Erste Ergebnisse aus IGLU“ zitieren:

Sprache macht uns menschlich. Schriftsprache macht uns kultiviert.

Und weiter:

Sprache eröffnet den Menschen Vergangenheit und Zukunft. Ein Versagen in Lesen und Schreiben bedeutet für den Betroffenen eine entscheidende Lernbehinderung, die nicht selten aufgrund der damit verbundenen Misserfolgserlebnisse auch Störungen im Bereich der Persönlichkeit und des Verhaltens nach sich zieht.