Protocol of the Session on May 8, 2003

Der zweite Schwerpunkt der hessischen Behindertenpolitik wurde mit einem wahren Kraftakt geschultert. Herr

Dr. Jürgens, das sollten Sie auch einmal zur Kenntnis nehmen. Alle bestehenden Landesgesetze, Rechts- und Ausbildungsverordnungen sind durch eine interministerielle Arbeitsgruppe auf ihre Vereinbarkeit mit dem Benachteiligungsverbot des Grundgesetzes überprüft worden, damit die Belange der betroffenen Menschen ausreichend Berücksichtigung finden können.

Als weitere Maßnahme zur Herstellung gleichwertiger Lebensbedingungen für behinderte und nicht behinderte Menschen hat die Landesregierung das Vorblatt jeder Gesetzesvorlage um den Punkt „besondere Auswirkung auf behinderte Menschen“ ergänzt. Hierdurch sollen die einzelnen Ressorts der Landesregierung in ihren Zuständigkeitsbereichen im Vorfeld für die Belange behinderter Menschen sensibilisiert werden. Durch die Beteiligung von Institutionen, Gremien und Verbänden ist sichergestellt, dass die berechtigten Interessen der behinderten Menschen bedacht werden.

Ich will noch einen weiteren Schwerpunkt unserer erfolgreichen Behindertenpolitik nennen. Das ist die von uns geänderte Bauordnung 2002, die um die Begriffsbestimmung der Barrierefreiheit und um Anforderungen betreffend die barrierefreie Erreichbarkeit von Wohnungen erweitert wurde. Außerdem wurden Vorschriften über bauliche Maßnahmen zugunsten Behinderter und alter Menschen aufgenommen. Auch hiermit hat Hessen eine Vorbildfunktion innerhalb der Bundesrepublik inne.

Diese erfolgreiche und auch von den Behindertenverbänden anerkannte Politik will die CDU fortsetzen. Wir haben deshalb in unserem Regierungsprogramm 2003 bis 2008 neue Schwerpunkte gesetzt. Dazu gehören unter anderem,dass der Behindertenbeauftragte der Landesregierung erweiterte Befugnisse erhält und nun für alle Menschen mit Behinderung zuständig ist.

(Beifall des Abg. Dr. Franz Josef Jung (Rheingau) (CDU))

Dass Behinderte und von Behinderung bedrohte Kinder so früh wie möglich optimal und individuell gefördert werden, gehört ebenfalls zu diesen Schwerpunkten. Wir werden einen barrierefreien Zugang zu den Internetangeboten der Landesregierung und eine Vermittlungszentrale für Gebärdendolmetscher einrichten. Wir werden die erfolgreichen Landesprogramme zur Beschäftigung behinderter Menschen fortführen und solche Unternehmen auszeichnen, die überdurchschnittlich viele behinderte Menschen oberhalb ihrer gesetzlichen Verpflichtung beschäftigen.

Meine Damen und Herren, entscheidend wird für uns das sein, was die Hessische Landesregierung durch Frau Ministerin Lautenschläger am Tage der Gleichberechtigung Schwerbehinderter – am 5. Mai, also am Montag dieser Woche – angekündigt hat. Es wird ein Gleichstellungsgesetz vorgelegt, das in Abstimmung mit anderen Bundesländern erarbeitet wird.

(Petra Fuhrmann (SPD): Nachdem es in der letzten Legislaturperiode abgelehnt wurde!)

In diesem Gesetz sollen dann auch Begriffsbestimmungen zu Behinderungen, Barrierefreiheit, Anerkennung der Gebärdensprache und barrierefreie Informationstechnologien geregelt werden. All das, was Sie in Ihrem Antrag fordern, wird dann in diesem Gesetz zu regeln sein.

Wir sind uns mit der Landesregierung einig, dass bei der Erstellung des Gleichstellungsgesetzes die Verbände und Organisationen der Menschen mit Behinderung einbezo

gen werden. Es ist nicht so, dass wir das hier einfach beschließen sollten, sondern das muss ausführlich debattiert werden und sollte dann auch möglichst weitgehend in diesem Gesetz berücksichtigt werden.

Meine Damen und Herren, nur durch den Einbezug aller Beteiligten ist die Realisierung eines solchen wichtigen Gesetzes möglich, das klar auf die Interessen der betroffenen Menschen ausgerichtet ist. Nur so wird es gelingen, deren Situation Schritt für Schritt zu verbessern.

Meine Damen und Herren, genau das ist unser Ziel, das wir konsequent verfolgen. Daher hat die CDU-Fraktion einen eigenen Dringlichkeitsantrag vorgelegt, um dessen Unterstützung wir werben.Den Entschließungsantrag der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN lehnen wir aus den von mir genannten Gründen ab.

Wir bedauern, dass wir uns nicht schon im Vorfeld auf einen gemeinsamen Antrag verständigt haben, wie das in der Vergangenheit der Fall war. Herr Dr. Jürgens, so haben wir uns z. B. im März vergangenen Jahres gemeinsam darauf verständigt, einen Antrag einzubringen, wo wir zur Barrierefreiheit in Hessen einen gemeinsamen Beschluss gefasst haben.

Meine Damen und Herren, wir bieten aber unsere Zusammenarbeit mit allen Fraktionen an, damit eine Fortschreibung und Fortentwicklung der erfolgreichen hessischen Behindertenpolitik auf möglichst breiter Basis erfolgt – im Interesse der betroffenen Menschen. Dazu laden wir Sie ein.Ich bitte nochmals um Zustimmung zu unserem Antrag. – Vielen Dank.

(Beifall bei der CDU)

Als nächster Redner spricht Herr Abg. Spies für die SPDFraktion.

Frau Präsidentin, meine Damen und Herren! Die Stärke einer Gesellschaft – ihre moralische Stärke, ihre innere Kraft, aber auch ihre wirtschaftliche Kraft – zeigt sich ohne Zweifel daran, wie sie mit den Schwächsten dieser Gesellschaft umgeht. Starke Schultern taugen nur, wenn sie die Last der Schwachen mittragen.

In dieser allgemeinen Form ein hohes Ziel, als Anspruch durchaus formulierbar, aber wenn wir uns das wirkliche Leben ansehen: Das ist von wirklichen Menschen in der wirklichen Welt nur äußerst schwer umzusetzen.

Deshalb ist es eine vorrangige Aufgabe des Staates, regelnd einzugreifen, weil er damit seiner Aufgabe nachkommt, den moralischen Konsens auch in der Wirklichkeit Realität werden zu lassen.

Meine Damen und Herren, das bedeutet mehr als nur ein Diskriminierungsverbot. Es bedeutet den Auftrag, durch positives stärkendes Handeln einzugreifen und Benachteiligungen auszugleichen.

Da begrüße ich, wenn auch verwundert, die Ankündigung der Sozialministerin für ein Landesgleichstellungsgesetz und sehe dem Ergebnis mit großem Interesse entgegen.

Wer Chancengleichheit ernst nimmt, der muss Behinderung als eine Variante des Normalen begreifen, und das bedeutet, dass Hilfen für behinderte Menschen konse

quenterweise keine subsidiären Wohlfahrtsleistungen sein können, sondern Bestandteil der allgemeinen Daseinsvorsorge werden müssen.

Das ist mehr, als die Madrider Erklärung verlangt, wenn sie nur von sozialer Integration als Zielmarke spricht. Es ist aber auch, wenn auch nur mittelfristig umsetzbar, der erforderliche Paradigmenwechsel.

Der Antrag der Fraktion der GRÜNEN einschließlich des Änderungsvorschlages der FDP – auf den ich jetzt Bezug nehme,auch wenn die FDP noch nichts dazu gesagt hat, aber die GRÜNEN haben ihn übernommen – findet an dieser Stelle die volle Zustimmung.Allerdings möchte ich einen Punkt unmissverständlich klarstellen: Es ist ausschließlich der Respekt vor der Enquetekommission, die uns dazu bewegt, die Frage eines Benachteiligungsverbotes in der Hessischen Verfassung prüfen zu wollen.Unsere Position lässt da keinen Zweifel zu. Ein Benachteiligungsverbot für Behinderte muss Bestandteil der Verfassung als Ausdruck des allgemeinen Grundsatzes der menschlichen Würde werden.

(Beifall des Abg. Dr. Andreas Jürgens (BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN))

Dieser Ansatz meiner Fraktion wird niemanden wundern. Schließlich haben wir über viele Jahre in Hessen beispielhafte Behindertenpolitik gemacht. An dieser Stelle will ich auf Ihren Hinweis hinsichtlich der Arbeitslosigkeit Behinderter in Hessen eingehen. Da hat die gegenwärtige Landesregierung eine erfolgreiche Politik,

(Beifall der Abg. Petra Fuhrmann (SPD))

die bis in die Zeit des Sozialministers Armin Clauss zurückgeht, konsequent fortgesetzt. Wir finden, es ist in Ordnung, dass Sie gute Dinge weiterführen.

Nach jahrelanger Untätigkeit des Bundes ist die rot-grüne Bundesregierung mit dem Grundsicherungsgesetz, aber auch mit dem Bundesgleichstellungsgesetz ganz entscheidende Schritte vorangekommen.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Das gilt in zweierlei Hinsicht. Zum einen hat sie die Frage der Antidiskriminierung inhaltlich geklärt. Zum Zweiten hat es aber auch eine Änderung in der Form gegeben. Das entspricht dem Motto der Madrider Erklärung und dem der Magdeburger Erklärung, das lautet: Nichts über uns ohne uns. – Die Gesetzentwürfe wurden primär aus den Reihen der Behinderten entwickelt. Erst im Anschluss daran wurden sie durch den Gesetzgeber modifiziert. Damit wurde der angezeigte Paradigmenwechsel nicht nur eingeleitet, sondern praktiziert. Das war beispielgebend.

(Beifall der Abg.Petra Fuhrmann (SPD),Frank-Peter Kaufmann und Dr. Andreas Jürgens (BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN))

Wir würden uns wünschen, dass sich die Landesregierung diesem Beispiel anschließt. Die Hoffnung ist allerdings nicht groß. Denn wenn man sich in Hessen umsieht, kann man z. B. feststellen, dass dem Auftrag des Bundes, sich um die Servicestellen zu kümmern, bislang nur mit mäßigem Erfolg nachgegangen wurde.Testanrufe führen zu einem geradezu haarsträubenden Ergebnis.

Hinsichtlich der Frühförderung von Kindern und insbesondere der Förderung behinderter Kinder in den Schulen – unabhängig davon, ob es sich um integrierten Unterricht oder um Unterricht in Sonderschulen handelt – fin

det seit Jahren ein unerträglicher Streit um die Finanzierung zwischen dem Kultusministerium, dem Sozialministerium und den kommunalen Sozialhilfeträgern statt. Man ist da immer noch nicht zu einem Ergebnis gekommen. Die integrierte Beschulung trägt aber zur Bewusstseinsbildung aller Kinder bei. Das ist einer der entscheidenden Schritte, wenn wir in der Frage des Paradigmenwechsels weiterkommen wollen.

Auf unseren Tischen haben wir jetzt auch noch einen durchaus putzigen Dringlichen Antrag der Union vorgefunden. Herr Gerling, ich fand das jetzt wirklich nett. Sie haben uns erzählt, das Jahr der Behinderten sei eigentlich eine Einrichtung, um die Selbsthilfe zu unterstützen, die Landesregierung wolle deshalb keine Kampagne machen, die verpuffe,

(Petra Fuhrmann (SPD): Das ist einmal etwas ganz Neues!)

vielmehr wolle sie etwas unternehmen, was Substanz habe. Es wäre schön, wenn diese Landesregierung damit anfangen würde, im Sozialbereich Inhalte zu bearbeiten, statt Kampagnen zu machen und Inszenierungen abzuhalten, die verpuffen.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der Abg. Dr. Andreas Jürgens und Kordula Schulz-Asche (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN))

Ich möchte daran erinnern, wie viel Geld in die Durchführung des Familientages geflossen ist. Das war eine „schöne“ Inszenierung. Dafür wurden gleichzeitig allein den Frauenhäusern Mittel gestrichen. Wenn Sie da in Ihrem Denken ein Stückchen weiterkommen würden, könnte ich nur „Bravo!“ dazu sagen. Auch dem sehe ich mit Interesse entgegen.

Wenn die erfolgreiche Politik allerdings darin bestehen sollte, dass jetzt der Entwurf eines Gleichstellungsgesetzes vorgelegt wird, dann muss ich dazu feststellen: In der Vergangenheit bestand die „erfolgreiche“ Politik der Landesregierung darin, die Einführung eines Gleichstellungsgesetzes abzulehnen. Das könnten wir schon seit Jahren haben.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Die „erfolgreiche“ Politik dieser Landesregierung bestand darin, selbst die Forderung nach einem Gleichstellungsgesetz abzulehnen. Die „erfolgreiche“ Politik bestand darin, dass sie jetzt die Verpflichtung, die der Bund aufgegeben hat, ein Landesgleichstellungsgesetz zu verabschieden, tatsächlich wahrnimmt. Es muss nämlich ein Ausführungsgesetz zu dem Bundesgesetz gemacht werden. Bravo, das ist „Kreativität“ und eine „echte Initiative“ der Landesregierung. Sie bequemt sich tatsächlich, das zu tun, was sie tun muss. Sie will nicht, sie muss. Nach den Erfahrungen, die wir an solchen Stellen mit der Gesetzgebung dieser Landesregierung und der vorhergehenden Regierung gemacht haben, sehen wir mit großem Interesse dem Gesetzentwurf entgegen, der im Jahre 2006 oder 2007 eingebracht werden wird.

(Uwe Brückmann (CDU): So lange wollen Sie warten?)

Keine Sorge – diese Bemerkung will ich an die Behindertenverbände richten –: Wenn die Regierung wieder einmal nicht in die Pötte kommt, dann bringt halt die Opposition einen Gesetzentwurf ein. Damit haben wir gute Erfahrungen gemacht.

(Petra Fuhrmann (SPD): Das haben wir das letzte Mal auch schon gemacht!)

Das hat das Handeln beschleunigt.

(Michael Boddenberg (CDU): Nennen Sie doch einmal ein Beispiel!)