Protocol of the Session on June 16, 2004

Nur die solidarische Bürgerversicherung löst das Problem der Einnahmestruktur.

Sie ist noch nicht einmal richtig links. Sie ist gar nicht sozialistisch. Sie ist fast neoliberal.

Das schafft nämlich gleiche Wettbewerbsbedingungen für alle. Deshalb müssen alle hinein.

Das schafft keine Sonderbelastungen der Arbeitskosten mehr, sondern alle Einkommensarten werden hinzugezogen.

Es baut Subventionen ab, nämlich die Subventionen für höhere Einkommen, die über der Beitragsbemessungsgrenze liegen.

Natürlich gibt es den Wettbewerb der Krankenkassen weiter, und zwar da, wo er den Menschen nützt.

(Florian Rentsch (FDP): Erklären Sie mir doch einmal den Wettbewerb!)

Herr Rentsch, wenn Ihre Fantasie nicht ausreicht, sich mehr technische Details vorzustellen, wie z. B. über die weitere Existenz der privaten Krankenversicherungen, dann bedauere ich das sehr. Wenn unser Konzept im Detail fertig ist – das ist das Konzept, das dann in diesem Land umgesetzt wird –, werde ich es Ihnen in Ruhe erklären.

Da gibt es Wahlfreiheit, genau die Wahlfreiheit, von der Sie reden.

(Zurufe der Abg. Frank Gotthardt (CDU) und Florian Rentsch (FDP))

Man kann unnötiges Extra auch extra versichern,wie man das heute schon kann.

Natürlich gibt es nicht mehr Geld im System. Herr Clement hat das längst verstanden. Herr Rentsch, es wäre schön, wenn Sie es auch verstehen würden.

Allerdings muss man das technisch gut machen.Weil man das technisch gut machen muss, kann man sich zum gegenwärtigen Zeitpunkt, während die wesentlichen Kalkulationen in den Großinstituten noch laufen, nicht festlegen. Deshalb und nur deshalb können wir dem Antrag der GRÜNEN nicht zustimmen: weil sie eine Festlegung treffen wollen, die man zum gegenwärtigen Zeitpunkt berechtigterweise, wenn man ehrlich mit den Leuten umgeht, im Detail so nicht treffen kann.

(Florian Rentsch (FDP):Sie wollen sich alle Punkte offen halten!)

Meine Damen und Herren, lassen Sie mich noch zu dem Unsinn mit der Demographie ein Wort sagen. Nur Umlagesysteme sind demographieresistent und generationengerecht. Hören Sie doch auf, das Geschäft der Verkäufer von Kapitalanlagen zu betreiben. Herr Rentsch, schauen Sie sich um und da hoch zur Tribüne. Da sitzen lauter Leute, denen Sie eben erzählt haben, sie sollen jetzt 40 Jahre eine Rücklage bilden, damit, wenn es teuer wird, wenn sie alt sind, etwas da ist, mit dem die hohen Krankheitskosten in den letzten Lebensjahren bezahlt werden. Was passiert eigentlich, wenn der Fondsmanager, der das Geld angelegt hat, nichts getaugt hat und es futsch ist? – Dann lassen Sie genau diese Leute im Regen stehen.

(Beifall bei der SPD – Florian Rentsch (FDP):Wer sagt denn, dass das Geld in Fonds angelegt werden muss?)

Ein Umlagesystem deckt zu jedem denkbaren Zeitpunkt aus dem, was vorhanden ist. Es ist das einzige System, das gerecht mit nachwachsenden Generationen umgeht.

(Florian Rentsch (FDP): Gucken Sie sich die Renten einmal an, wie toll das funktioniert! Von was sprechen Sie?)

Wenn es denn wenigstens mit Ihren Kapitalanlagen funktionieren würde. Schauen Sie sich doch einmal an,

wie viele Steuermittel der Bund den Lebensversicherungen vor ein paar Jahren schenken mussten, weil die sich verspekuliert hatten. Schauen Sie sich doch einmal an, wie amerikanische Pensionsfonds dastehen – eine Katastrophe, was Sie den Leuten antun wollen.

(Frank Gotthardt (CDU): Sie leben in der falschen Welt! – Florian Rentsch (FDP): Gucken Sie sich doch die Rentenversicherung an!)

Alles Momentaufnahmen? – Ich zitiere Ihnen jemanden, von dem Sie gerade sagen werden, er verstehe etwas davon; ganz und gar nicht sozialismusverdächtig. Die Hypovereinsbank rechnet vor: Kapitalanlagen für langfristige demographieresistente Rückstellungen brauchen 1,2 Einsparer zu 1,0 Aussparer, also mehr Leute, die einzahlen, als Leute, die etwas herausbekommen. Dann funktioniert das Ganze.

(Frank Gotthardt (CDU): Das ist fast wie in der Rentenversicherung!)

Genau das werden wir mit den demographischen Veränderungen nicht mehr haben. Deshalb sagen Ihnen sogar die Banken, dass es nicht geht.

(Florian Rentsch (FDP): Gucken Sie doch einmal die Renten in der Bundesrepublik Deutschland an!)

Die FDP will den Leuten diesen Mist immer noch verkaufen. Frau Merkel hat es wenigstens verstanden. Die will auf ihre 20 Demographie-Euro Kapitalanlage inzwischen verzichten. Das ist ein wesentlicher Fortschritt.

Der Unterschied zwischen Kapitalanlage und Umlagefinanzierung ist der:Wenn etwas schief geht, stehen die mit Kapitalanlage allein da; die mit Umlage werden von der Gemeinschaft getragen. Deshalb ist Umlage der richtige Weg.

(Beifall bei der SPD – Florian Rentsch (FDP): Reine Angstmache!)

Meine Damen und Herren, wir verlangen von den Menschen in diesem Lande mehr Flexibilität, mehr Risikobereitschaft, mehr Engagement. Das tun wir alle, in breiter Rhetorik,das ganze Haus,bei jeder Gelegenheit.Das wird nur funktionieren, wenn wir einen angemessenen sozialen Ausgleich haben, wenn wir ein angemessenes Netz sozialer Sicherheit haben, das den Leuten sagt: Geh ein Risiko ein, such dir deinen Weg; wenn es schief geht, gibt es ein Netz, das sagt: Wir fangen dich auf, wir halten zu dir, alle zusammen.

Deshalb ist es vollkommen unverantwortlich, wenn die Konservativen und Liberalen wider besseres Wissen die sozialen Sicherungssysteme schlechtzureden versuchen. Sie gefährden am Ende den Wohlstand dieses Landes, weil sie Initiative lähmen.

(Frank Gotthardt (CDU): Wo leben Sie, Herr Spies?)

Meine Damen und Herren, die eigentliche Frage ist doch: Ist es gerecht, dass jeder das Gleiche bezahlt, oder ist es gerecht, dass jeder den gleichen Anteil seines Einkommens bezahlen muss?

(Clemens Reif (CDU): Ist es gerecht, dass wir uns das jetzt antun müssen?)

Das ist die Frage nach der Lastenverteilung in dieser Gesellschaft.

(Beifall bei der SPD)

Hier liegt der Irrtum der FDP, die Liberalität mit Libertinage, die Freiheit mit Beliebigkeit verwechselt. Freiheit bedeutet immer auch die ihr innewohnende Pflicht. Ohne diese Pflicht ist die Freiheit nicht denkbar. Das verkennen Sie. Was machen Sie stattdessen? – Sie propagieren eine ungehemmte, eine nackte, eine durch und durch egoistische Gier als Maßstab aller Dinge.

Meine Damen und Herren, erinnern Sie sich noch an den Wahlkampf vor einer Woche? Haben Sie die jungen Liberalen mit den T-Shirts gesehen? „Ich, ich, ich“ stand auf der Brust. Mehr muss man dazu nicht sagen.

(Clemens Reif (CDU): „Wir“ stand darauf!)

Das ist das Problem – die Ignoranz der anthropologischen Zusammenhänge einer Gesellschaft, die Reduktion von Menschen auf ein Girokonto. Es geht eben nicht um eine Kfz-Versicherung. Es geht um Menschen und nicht um Autos.

Herr Dr. Spies, erlauben Sie eine Zwischenfrage von Herrn Kollegen Rentsch?

Am Ende.

Der rheinische Kapitalismus, um den uns der Rest der Welt beneidet, war ein ganzes Stück weiter. Er hatte verstanden, dass Marktwirtschaft nur als gezähmte, nämlich als soziale Marktwirtschaft funktioniert. Er hatte verstanden, dass der Sozialstaat genau so viel kostet, wie er uns wert ist. Da es keine Kosten-Nutzen-Analyse gibt, muss es ethische Maßstäbe für den Ausgleich geben.

Das war der Konsens, den es während des Wirtschaftswunders gab. Er war zugleich die Grundlage des Wirtschaftswunders. Es war ein Konsens, der den Unterschied zwischen Arm und Reich akzeptierte, der ihn aber auch zugleich begrenzte. Das galt insbesondere und gerade dann, wenn es um existenzielle Gefährdungen wie Krankheit ging.

Wettbewerb: ja. Lohn für Engagement: ja. Risikobereitschaft: ja. Unterschiede im Wohlstand: ja.

Wenn wir aber nicht mehr in der Lage sind, zwischen der Spielwiese des Egoismus einerseits – genannt Markt und Wettbewerb – und der Ebene andererseits zu unterscheiden, auf der sich zeigt, wie eine Gesellschaft bei wirklich wichtigen Problemen zusammenhält, dann ist es elend um uns bestellt. Es gibt ein paar Dinge, die nicht von Leistung abhängen. Es gibt ein paar Dinge, die man erhält, weil man ein Mensch ist. Medizinische Versorgung gehört in diesem Land dazu.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Zumindest 80 % der Bevölkerung dieser Gesellschaft wollen, dass das Tragen der Lasten für Leistungen, die man erhält, weil man ein Mensch ist, nach Leistungsfähigkeit verteilt wird.

(Florian Rentsch (FDP): Deshalb wählen nur 20 % die SPD! 80 % wollen Leistung erbringen!)

Kleine Schultern tragen einen kleinen Rucksack, große Schultern einen großen Rucksack. – Zum Glück ist die FDP doch nur eine politische Splittergruppe.

(Florian Rentsch (FDP): Das sagt jemand aus der SPD Hessens! Da wäre ich ganz vorsichtig!)

Am Ende ist die Lösung doch ganz einfach. Sie lautet: solidarische Bürgerversicherung. Von allen den gleichen Anteil zu erheben ist technisch einfach umzusetzen. Es ist volkswirtschaftlich vernünftig, verfassungsgemäß und resistent gegen demographische Veränderungen. Es ließe sich ohne Zustimmung des Bundesrats umsetzen. Es würde den Arbeitsmarkt fördern und ist zukunftsfähig und gerecht. In einem Satz: Das ist der richtige Weg. – Deshalb bitte ich um Zustimmung zu unserem Dringlichen Entschließungsantrag.