Protocol of the Session on April 23, 2003

Wo sind denn die nach Ihrer ersten Wisconsin-Reise so groß angekündigten Arbeitsangebote für Hessen? Was ist

denn aus den groß angekündigten Kombilohnmodellen geworden? Außer Bundesratsinitiativen haben Sie in Ihrem konkreten eigenen Verantwortungsbereich nichts zu bieten. Im Grunde ist das Schlimmste, was Ihnen passieren könnte, dass Ihre Vorstellungen umgesetzt würden, weil Sie am Ende davon leben, dass Sie aus einer Oppositionsstrategie heraus Politik machen, obwohl Sie jetzt seit über vier Jahren Ministerpräsident des Landes Hessen sind. Sie haben auch Ihren zweiten Wahlkampf mit Oppositionsstrategien gewonnen.Immer dann,wenn es ans Gestalten geht, ist bei Ihnen Fehlanzeige. Das übertüncht man am besten mit großen Schlagzeilen, und die bekommt man am ehesten, wenn man provoziert.

Sie wissen, dass Ihre Vorschläge am Ende in Deutschland nicht Realität werden, weil wir immer noch in einer sozialen Marktwirtschaft leben und der Unterschied zwischen dem rheinischen Kapitalismus und dem Manchester-Kapitalismus in diesem Land sichtbar bleiben muss und sichtbar bleiben wird. Dafür werden im Zweifel wir sorgen.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Zuruf des Abg. Michael Boddenberg (CDU))

Trotzdem sind solche Vorschläge sehr aufschlussreich, weil sie eines ganz deutlich machen. Herr Ministerpräsident, es geht Ihnen nicht um Hessen, es geht Ihnen einzig und allein um sich selbst, um Ihre eigene Karriere. Dazu brauchen Sie Schlagzeilen, egal wie. Sie offenbaren dabei, dass Sie keine wirklichen Grundsätze haben, sondern nur an der oberflächlichen Wirkung in der Öffentlichkeit interessiert sind, nicht an echter Veränderung oder gar an einer Verbesserung der Situation in diesem Land. Sie fragen sich abends nicht: „Wie habe ich Hessen vorangebracht?“, sondern Sie fragen Ihren Regierungssprecher: „Wie war ich, Dirk?“

(Heiterkeit bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN)

Wie schrieb es so treffend Richard Meng vor einigen Tagen? „Leitlinie ist, die Provinz Provinz sein lassen, möglichst ohne dass sie es merkt“. Hessen interessiert Sie nicht mehr. Herr Koch, Sie sind kein Visionär, Sie sind ein Zyniker der Macht. Deswegen werden wir Sie nicht an Ihren Überschriften, sondern an der hessischen Realität messen, und das Tag für Tag in den nächsten fünf Jahren.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei Abgeordneten der SPD)

Wir werden nach Ihrem erneuten Ausbildungsgipfel fragen:Was kommt konkret heraus, außer wohlfeilen Appellen und Forderungen an andere? Stichwort Senkung der Lohnnebenkosten:Wir werden bei jeder Veränderung darauf achten, wie sich Hessen im Bundesrat verhält. Stichwort Flexibilisierung:Wir werden darauf aufmerksam machen, dass Sie nach Veränderung und Flexibilisierung rufen, aber selbst bei der Frage, ob man zur Gründung eines Handwerksbetriebs einen Meisterbrief braucht, Flexibilisierung bekämpfen. Herr Ministerpräsident, es wird in allen Politikbereichen unsere Richtschnur sein,dass wir das, was Sie an Überschriften positionieren, an der Realität messen.

Das gilt auch in der Bildungspolitik. Der Bildungsteil Ihres Programms ist einer der wenigen, in dem sich eine ganze Reihe von konkreten Projekten finden lässt, die Sie in der laufenden Wahlperiode verwirklichen oder angehen wollen. Wenigstens wollen Sie sich da nicht nur in Überschriften gefallen. Leider gilt aber hier der Befund

„ideologisch geprägte Masse statt Klasse“, wenn man sich die einzelnen Maßnahmen näher betrachtet. Das Schlimmste ist, die Grundmelodie ist leider grundfalsch. Ihnen geht es noch stärker als in der letzten Legislaturperiode darum,immer mehr schulformspezifische Standards einzuführen, immer weniger Durchlässigkeit im Schulsystem zu haben und dauerhafte Spiralen nach unten in jede Schulform einzubauen.

Erstes Beispiel. Sie wollen als eines Ihrer herausragenden bildungspolitischen Ziele das Abitur bereits nach zwölf Jahren ablegen lassen. Darüber kann man aus unserer Sicht reden.Wenn die Schulzeitverkürzung aber nur dazu genutzt werden soll, die Durchlässigkeit der Schulformen noch weiter zu verringern – genau das ist durch die vorliegenden Pläne beabsichtigt –, so trifft dies auf unseren heftigen Widerstand.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei Abgeordneten der SPD)

Sie verbauen damit Schülerinnen und Schülern, die aus den verschiedensten Gründen zunächst nicht den direkten Weg zum Abitur eingeschlagen haben, den Weg dorthin oder erschweren ihn unverhältnismäßig. Dies wird insbesondere bei Eltern, die heute noch unsicher sind, welche Begabungen ihr Kind hat, den Zwang vergrößern, trotz Zweifel ihr Kind auf ein Gymnasium zu schicken. Alle werden um den Platz auf diesem Gymnasium kämpfen, um nicht schon im Alter von zehn Jahren bildungsmäßig abgehängt zu werden.Wer zwölf Jahre bis zum Abitur zur Regel macht und ein Jahr in der Mittelstufe einspart, der sagt ganz klar: Entweder du kommst in der 5. Klasse aufs Gymnasium und hältst dich auch da, oder der Zug zum Abitur ist abgefahren, weil den Anschluss in den höheren Klassen keiner mehr schafft. – Der Run aufs Gymnasium wird noch größer werden. Was Sie damit mutwillig herbeiführen, sind Versagenserlebnisse und Abwärtsspiralen, die von Ihnen als Querversetzungen schon eingeführt worden sind.

Wenn Sie neue Standards zur Ausdifferenzierung der Bildungsabschlüsse einführen wollen,passt das auch ins Bild. Mit der Schaffung von so genannten Praxisklassen an den Hauptschulen wollen Sie immer mehr Sortierungen nach unten vornehmen,

(Michael Boddenberg (CDU):Was ist das denn?)

deren Auswirkungen für die Betroffenen von sehr zweifelhafter Natur sein werden. – Herr Boddenberg, für diese Schüler wird es immer schwieriger,wenn nicht unmöglich, einen Ausbildungsplatz zu finden.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Das trifft umso mehr zu, je schwieriger die Lage auf dem Ausbildungsmarkt wird. Wenn die Sonderschule in „Förderschule“ umbenannt wird, dann ist das leider nichts als Etikettenschwindel, weil faktisch weder ein Ausbildungsplatz am Ende der Schule wartet noch ein Zurück in das Regelschulsystem möglich ist.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und des Abg.Jürgen Walter (SPD) – Zuruf des Abg. Michael Boddenberg (CDU))

Wir werden Ihnen in dieser Frage, wie auch in der Frage, ob Sie verstärkt versuchen werden, den gemeinsamen Unterricht behinderter und nicht behinderter Kinder klammheimlich zurückzufahren, genau auf die Finger schauen.

(Zuruf des Abg. Clemens Reif (CDU))

Ein letztes Beispiel für Ihren ideologischen Sonderweg. – Herr Reif, sind Sie vom Essen wieder da?

(Clemens Reif (CDU): Ich bin wieder da!)

Nehmen Sie noch einen Nachtisch.

(Heiterkeit – Clemens Reif (CDU): Stellen Sie sich vor, es müsste jeder so lange ausgebildet werden wie Sie!)

Letztes Beispiel für Ihren ideologischen Sonderweg: Landesprüfungen in allen Schulformen mit der Schaffung eines Zentralabiturs als Krönung. Was für Sie nicht einer Überprüfung im Kästchenschema zugänglich ist, das macht Sie unruhig. Damit hier eindeutig klargestellt ist: Wir GRÜNEN sind sehr wohl für die Leistungsfeststellung der verschiedenen Schulen und Schulformen durch Evaluation. Dies erreicht man jedoch nicht durch simple Einheitsprüfungen mit landesweit gleichen Fragen, die auch landesweit identischen Unterricht erfordern. Eine solche Herangehensweise wird weder den pädagogischen Kompetenzen der Lehrenden noch den Begabungen der Schülerinnen und Schüler gerecht.

(Zuruf des Abg. Michael Boddenberg (CDU))

Vielmehr kommt es für uns darauf an, durch Evaluation von Schulen festzustellen, wo die Stärken und wo mögliche Verbesserungsmöglichkeiten beim pädagogischen Handeln von Lehrern und bei den Lernergebnissen von Schülern besteht.

Meine Damen und Herren, für uns ist der Ausbau der Schulautonomie eines der zentralen Projekte der Bildungspolitik der vor uns liegenden Jahre.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Wir müssen es hinbekommen, dass sich die einzelnen Schulen mehr als heute bei der Entwicklung eines eigenen Profils engagieren. Dies wird nur gehen, wenn die Entscheidungskompetenzen der Schulleiter und der Lehrerinnen und Lehrer gestärkt werden und die Schulen eigene Budgets und letztlich die Personalverantwortung erhalten. Im Unterschied zu Ihnen bedeutet für uns Selbstständigkeit,dass Schulen entscheiden können,wie sie festgelegte Bildungsstandards erreichen, wie sie Stundenpläne gestalten und Lehrpläne ausfüllen. Auch die Schüler und Eltern müssen in diesen Prozess einbezogen werden.

Wenn Sie vollmundig Erziehungsverträge mit den Eltern ankündigen und den Eltern im Bildungssystem die Hand reichen, jedoch gleichzeitig als eine der ersten Maßnahmen vor vier Jahren die Mitbestimmung der Eltern in den Schulkonferenzen abgeschafft haben, dann wird dies einer der ersten Punkte sein, wo wir Ihre Überschriften und die Realität einander gegenüberstellen werden. Herr Koch, das wird kein schöner Anblick werden.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei Abgeordneten der SPD)

Frau Wolff, Ihr ideologisches Grundproblem ist, dass Sie immer noch der irrigen Annahme sind, dass es für die einzelne Schülerin und den einzelnen Schüler das Beste ist, dass das, was in der Klasse passiert, in Wiesbaden entschieden wird, auf dem Dienstweg, über das Staatliche Schulamt und die Schulleitung, und über den Lehrer den Weg ins Hirn findet. Meine Damen und Herren, damit sind Sie auf dem Holzweg. Wir wollen wirkliche Verantwortung und Entscheidungsfreiheit nach unten geben. Wir wollen die Schulen mit ihrer Kreativität und ihren Po

tenzialen in die Freiheit entlassen. Das hilft der Bildung mehr als Landesprüfungen und ein Zentralabitur.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Die von Ihnen angekündigten Maßnahmen zum Ausbau der Ganztagsangebote sind nichts als die Fortsetzung der bisher schon eingerichteten Modelle der so genannten pädagogischen Mittagsbetreuung.Wir haben uns in der Vergangenheit schon mit Ihnen auseinander gesetzt. Ich sage Ihnen jetzt schon voraus, dass Sie, wie in so vielen Punkten, von der Realität und dem Elternwillen überrollt werden und Sie dann eilig taugliche Ganztagskonzepte vorlegen müssen. Dazu gehört auch, dass Sie die aus Berlin bereitgestellten Mittel von immerhin knapp 280 Millionen € sinnvoll für Ganztagsprojekte verwenden müssen. Frau Wolff, wenn Sie hier so tun, als könne man allein mit der besseren Ausstattung von Schulbibliotheken seinen Verpflichtungen gerecht werden, verkennen Sie völlig Ihre Verantwortung.Auf diesem Weg können Sie nicht weitermachen, wenn dem Land Hessen nicht Geld entgehen soll, über das sich andere Bundesländer dann freuen werden.

Bei der Stärkung des Bildungsauftrags der Kindergärten und der Verknüpfung mit den Aufgaben der Grundschulen finden Sie unsere Unterstützung. Es ist überfällig, dass dieser Bereich angepackt wird. Wir GRÜNE haben dazu bereits in der letzten Wahlperiode ein Konzept vorgelegt. Aber auch hier gilt: Das ist ein Projekt für die nächsten Jahre und keine Vision für das Jahr 2015.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei Abgeordneten der SPD)

Wir fordern Sie deshalb auf, innerhalb eines Jahres ein Konzept für diesen wichtigen Bereich zu entwickeln und dann in die konkrete Umsetzung zu gehen. Wir werden Sie dabei kritisch und, wenn gewünscht, auch konstruktiv begleiten.

Eines können wir Ihnen allerdings schon jetzt sagen: Die Verlagerung der Ausbildung der Erzieher und Erzieherinnen in Berufsakademien ist der falsche Weg,nicht nur weil damit auf die Träger neue Kosten abgewälzt werden. Die Stärkung der Ausbildung muss unseres Erachten, beispielsweise beginnend bei Personen mit Leitungsfunktionen, durch eine FH-Ausbildung erfolgen, jedoch nicht über Kostenverlagerung auf Dritte.

Da wir am Beginn einer fünfjährigen Periode sind, noch ein Hinweis.Wenn wir wieder einmal einen Antrag mit einem visionären Konzept stellen, wie z. B. zu dem Modellprojekt „Laptops für Schülerinnen und Schüler“, überlegen Sie gut,ob Sie uns dafür auslachen,wie Sie das im Jahr 2000 gemacht haben,

(Zuruf der Abg. Priska Hinz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

wenn dann im Jahr 2003 als Vision auftaucht, dass die hessischen Schülerinnen und Schüler im Jahre 2015 über Laptops verfügen sollen. Frau Kultusministerin, insofern sollten Sie mit den Vorschlägen der Opposition etwas sorgfältiger umgehen, als Sie das in der Vergangenheit getan haben.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei Abgeordneten der SPD)

In der Hochschulpolitik setzen Sie völlig auf die durchgehende Ökonomisierung der Universitäten und Fachhochschulen.Wer im Hochschulgesetz eine Pflicht zur Einwerbung von Drittmitteln verankern will, trägt in der Konse

quenz zu einem Sterben von kleineren Fachbereichen und Fächern bei. Die völlig zu Unrecht als „Orchideenfächer“ titulierten Disziplinen werden bei Ausbleiben von Forschungs- und Sponsorengeldern interessierter Dritter gegenüber der Hochschulleitung bald ihre Existenzberechtigung verteidigen müssen, weil sie auf Kosten des schmal bemessenen Budgets leben.

Herr Ministerpräsident, genauso falsch ist Ihr Ansatz, durch Strafgebühren für länger Studierende die Probleme der Hochschulen lösen zu wollen.Sie lenken hier lediglich von eigenem Versagen bei der Verbesserung der Studienbedingungen ab. Auch die Notwendigkeit vieler Studierender, selbst für ihren Lebensunterhalt zu sorgen, wird durch solche Strafgebühren verschärft anstatt gelöst. Meine Damen und Herren, solange noch an einem einzigen Fachbereich einer hessischen Hochschule um die Teilnahme an zum Studienabschluss zwingend nötigen Seminaren gelost wird, sind Strafgebühren für die Überschreitung der Regelstudienzeit eine Frechheit.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei Abgeordneten der SPD)

Völlig unverständlich ist, weshalb Sie die Abschlüsse von Berufsakademien mit denen der Hessischen Fachhochschulen gleichstellen wollen. So sinnvoll Berufsakademien zur Abrundung des Bildungsangebotes in unserem Land sind und so sehr wir es begrüßen, dass sie geschaffen werden, so wenig sind sie doch mit Fachhochschulen gleichzusetzen.Mit dieser Initiative drücken Sie Ihre Missachtung gegenüber den wissenschaftlichen Beiträgen der Fachhochschulen unmissverständlich aus. Das ist unserer Meinung nach eine Kriegserklärung an die Fachhochschulen, die nicht ohne dauerhafte Schäden bleiben wird und die auf unseren heftigen Widerstand stoßen wird.