Protocol of the Session on April 23, 2003

Wir werden Sie nicht an Ihren Visionen messen, wir werden Sie in den nächsten fünf Jahren Tag für Tag an der Realität Ihres Regierungshandelns messen.

(Zuruf des Abg. Dr. Rolf Müller (Gelnhausen) (CDU))

Hinsichtlich der Realität des Regierungshandelns bin ich vor kurzem wieder einmal auf eine Anzeige der Firma Accenture gestoßen – Sie wissen, die Firma, die einen großen Batzen der 250 Millionen €,wenn es reicht,erhält,die Ihr famoser Herr Finanzminister für die Einführung von SAP bezahlen wird.

Diese Anzeige von Accenture begann mit dem schönen Satz: „Es kommt nicht darauf an, wie viele Ideen Sie haben, sondern wie viele Sie tatsächlich verwirklichen.“ – Sehr weise.

Ich füge etwas hinzu: Wer Visionen für übermorgen hat, müsste hier und jetzt die Frage beantworten können, wir er seine Politik bezahlen will, Herr Ministerpräsident.

Im gesamten Regierungsprogramm, auf 100 Seiten, bleibt nicht nur die Frage unbeantwortet, wie denn dieses Programm bezahlt werden soll. Es bleibt sogar in Ihrer heutigen Regierungserklärung die Frage unbeantwortet, wie denn die aktuelle Finanzlage des Landes Hessen ist.

Wie Sie es beschreiben, haben Sie Hessen in den letzten vier Jahren durch Ihre Finanzpolitik an die Spitze gebracht – mit 2 Milliarden € Nettoneuverschuldung.Wenn Sie ankündigen, die „bisherige solide Finanzpolitik“ fortzusetzen, dann ist das nichts anderes als eine Drohung gegenüber nachfolgenden Generationen in diesem Land.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der SPD)

Wenn wir uns betrachten – Sie haben ja gemerkt, dass es in bestimmten Bereichen so nicht weitergehen kann –, was für Maßnahmen ergriffen werden, Stichwort „klare und mutige Entscheidungen“: Eine klare und mutige Entscheidung wäre gewesen, zu sagen: Karlheinz Weimar, ich kenne dich zwar schon von der Tankstelle, aber jetzt ist gut.– Die „klare und mutige Entscheidung“ war ein neuer Staatssekretär, der dem völlig überforderten Karlheinz Weimar und seinem Herrn Abeln zum Aufräumen des Desasters zur Seite gestellt wird.

Weil sich das Ganze auch noch gut anhören muss, wird er dann hochtrabend und neudeutsch CIO, Chief Information Officer, genannt. Herr Koch, Anglizismen helfen da nicht mehr weiter, wo man Millionen und Abermillionen verschleudert hat.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der SPD)

Herr Ministerpräsident, Ihr angebliches Ziel, den hessischen Landeshaushalt zu konsolidieren, ist durch Ihre ureigene Politik in weite Ferne gerückt. Wenn Sie dann heute sagen, dass Sie die Nettoneuverschuldung zurückführen wollen, und gleichzeitig den netten Satz sagen, in normalen wirtschaftlichen Zeiten ist das kein Problem, dann müsste aber ein bisschen Wahrheit dabei sein, und Sie müssten sagen, wir leben aber nicht in normalen wirtschaftlichen Zeiten. Das ist eine nette Umschreibung für den Sankt-Nimmerleins-Tag.

Herr Boddenberg, wenn dann zweieinhalb Monate CDUinterner Beratungen – vom 2. Februar bis zum heutigen Tage – in dem Satz des Regierungsprogramms gipfeln: „Wir werden deshalb im 3.Quartal des Jahres 2003 zu entscheiden haben, wie wir die aktuelle staatliche Finanzkrise meistern“, dann ist das nichts anderes als das Eingeständnis Ihres ganz persönlichen Versagens.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei Abgeordneten der SPD)

Wenn man sich dann betrachtet, dass wir es im Jahr 2003 mit einem noch geltenden Haushalt zu tun haben, der von Steuermehreinnahmen in Höhe von 9 % ausgeht –Sie haben die bundesweit sich abzeichnenden Steuermindereinnahmen ja genannt –, dann wäre hier und heute der Ort gewesen, wo man den Bürgerinnen und Bürgern dieses Landes und den Volksvertreterinnen und Volksvertretern reinen Wein hätte einschenken müssen. Aber diese Chance haben Sie verpasst.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Deswegen bitten wir Sie auch an diesem Punkt – denn das wird nicht mehr lange gut gehen –, mit dieser Placebopolitik aufzuhören. Wenn man sich ernsthaft hierhin stellt und ankündigt, man wolle die Personalkosten um 60 Millionen € jährlich verringern, dann gehört es zur Ehrlichkeit dazu, zu sagen, diese Regierung hat bisher alles Mögliche getan, nicht aber die Personalkosten verringert. Sie können aufhören,es sich an den Hut zu stecken und zu sagen, Sie hätten 60 Millionen € eingespart, wenn Sie auf der anderen Seite 120 Millionen € ausgegeben haben. Das genau ist nämlich das Problem,das Karlheinz Weimar seit 1999 hier fabriziert.

Deswegen nur ein letzter Satz zum Thema Personal. Im Jahr 1998,dem letzten Regierungsjahr von Rot-Grün,hatten wir in Hessen eine Personalkostenquote von 45,6 %. Wenn man die Hochschulen hinzurechnet – sie sind inzwischen budgetiert –, so haben wir im Jahr 2003 nach un

serer Berechnung inzwischen eine Personalkostenquote von 48,3 %.

Wir haben gehört, dass neue und zusätzliche Stellen geplant sind. Im Regierungsprogramm können wir wieder einmal nachlesen, dass eine Versorgungsrücklage für Beamte geschaffen werden soll. Herr Ministerpräsident, das haben Sie bereits im Herbst 2000 mit Wirkung ab dem Haushaltsjahr 2002 angekündigt. Passiert ist nichts. Im Gegenteil, Sie haben bewusst alle neuen Lehrerinnen und Lehrer als Beamte eingestellt, damit Sie die Lasten der Altersversorgung in die Zukunft verschieben können. Das genau ist das Problem. Hier geht es um die Frage, wie viel dieses Parlament in den nächsten Jahren eigentlich noch zu entscheiden haben wird – wenn wir von Zins, Zinseszins und Tilgung erdrückt werden. Meine Damen und Herren, hier ist schnelles Handeln angesagt.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Herr Ministerpräsident, wenn man sich angesichts dieser Situation heute Morgen hierhin stellt und ernsthaft erklärt, dass diese Regierung in den letzten vier Jahren „finanzpolitische Disziplin“ bewiesen hätte, dann kann ich Sie von diesem Pult aus nur auffordern: Bitte ersparen Sie uns in Zukunft diese Volksverdummung, die Sie hier zum Besten gegeben haben.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Es war nämlich ein echter Koch, den wir da erlebt haben. Herr Koch, wie kann sich denn ein kluger Mensch – das sind Sie – hierhin stellen und erklären, dass die Ausgabendisziplin der hessischen Regierung an dem Vergleich der Steuerdeckungsquoten verschiedener Bundesländer zu den bereinigten Ausgaben zu erkennen sei? Wie kann man nur von hier aus so etwas behaupten?

Den meisten, die sich noch nicht zu sehr in die Probleme der Finanzplanung vertieft haben, ist gar nicht klar, was Sie hier getan haben. Hessen ist der größte Einzahler in den Länderfinanzausgleich. Die bereinigten Ausgaben sind die Ausgaben ohne die Zahlung in den Länderfinanzausgleich. Der Vergleich, den Sie hier heute Morgen gezogen haben, ist ungefähr so, wie wenn ein völlig überschuldeter geschiedener Privatmann mit drei unterhaltspflichtigen Kindern zur Schuldnerberatung geht und dort erklärt, wenn man die Zahlungen an die Bank, die ExFrau und die Kinder nicht berücksichtigt, dann gehe es ihm eigentlich blendend.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Herr Ministerpräsident, genau das haben Sie heute Morgen hier getan. Das sollten Sie aber nicht tun, denn langfristig kommt dies uns alle am Ende teuer zu stehen. Der Ausdruck „Milchbubenrechnung“ wäre für eine solche Rechnung noch eine unglaubliche Untertreibung. Das gilt vielleicht für Ihren Finanzminister, aber bei Ihnen, Herr Koch, lassen wir das nicht gelten. Denn Sie wissen nach vier Jahren besser um die katastrophale Lage in diesem Lande Bescheid als Ihr Finanzminister. Anders nämlich ist die Verzweiflungstat, die Sie gemeinsam mit Herrn Steinbrück ausgeheckt haben, nicht zu erklären.

Es war in den letzten Wochen schon sehr aufschlussreich, denselben Roland Koch, der so heftig gegen das Steuervergünstigungsabbaugesetz mobil gemacht hat, zu erleben, wie er nicht nur eine ganze Reihe der dort vorgesehenen Maßnahmen nach und nach wieder aus dem Hut gezaubert hat, sondern auch darüber räsonierte, dass sich

große Unternehmen wieder an der Finanzierung des Staates beteiligen müssten.

(Ministerpräsident Koch:Das sage ich seit zwei Jah- ren!)

Richtig, Herr Koch, aber warum nicht gleich so? Mit dem Brief, den Sie gemeinsam mit Herrn Steinbrück an den Vermittlungsausschuss geschrieben haben, erging es Ihnen wie dem berühmten Zauberlehrling. Sie werden die Geister, die Sie selbst gerufen haben, nicht mehr los. Dieses Credo – keine zusätzlichen Belastungen; Subventionsabbau gleich Steuererhöhung; keine Steuererhöhungen, niemals; Gift für die Konjunktur – ist das, was Sie vor der Wahl die ganze Zeit gepredigt haben. Das glauben Sie selbst nicht, aber Ihre Leute glauben daran, und daran haben Ihre eigenen Leute Ihre Verzweiflungstat im Bundesrat scheitern lassen.

Herr Koch, damit haben aber am Ende nicht nur Sie sich nicht durchgesetzt, und damit sind nicht nur die Vorstellungen der Bundesregierung im Bundesrat gescheitert, sondern die dadurch entstandene Lücke in den öffentlichen Finanzen, die auch im hessischen Landeshaushalt in den kommenden Jahren etliche 100 Millionen € ausmachen wird, ist Ihre ganz persönliche Lücke. Dafür tragen Sie die Verantwortung – kein Roter, kein Grüner, keine Bundesregierung.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Setzen Sie sich bitte nie wieder mit treuherzigem Augenaufschlag vor die Landespressekonferenz oder vor Zuschussempfänger des Landes Hessen und erklären, eine Landesregierung habe leider, leider, leider keinen Einfluss auf die Einnahmen – frei nach dem Koch’schen Motto: Ich bin klein, mein Herz ist rein, die Schuld, die muss wohl bei anderen sein.

Herr Koch, ich glaube, wir müssen es einmal an ganz bestimmten Punkten ausrechnen, ganz konkret – denn Sie haben gesagt, die Bundesregierung alleine sei an der Finanzlage schuld.2 Milliarden € Nettoneuverschuldung im Jahr 2002, also 2 Milliarden € zusätzliche Schulden, bedeuten bei 5 % Zinsen und Tilgung Mehrausgaben von 100 Millionen € in diesem Jahr. Das sind 2.000 Lehrerstellen, die wir nicht schaffen können.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Zuruf des Abg.Armin Klein (Wiesbaden) (CDU))

Meine Damen und Herren, so sieht die Realität aus, und daran ist niemand anderes schuld. Das ist Ihre ureigene Verantwortung.

(Armin Klein (Wiesbaden) (CDU): Sie verwechseln da etwas!)

Herr Ministerpräsident, wir werden es Ihnen nicht durchgehen lassen, bis zum Jahr 2006 die hessische Kasse zu plündern und sich dann nach Berlin abzusetzen.

Herr Ministerpräsident, ich habe lange überlegt, was man auf Ihre Vorstellungen zum Arbeitsmarkt antworten soll, die Sie heute Morgen hier vorgetragen haben. Zu Ihrer vorgetragenen Haltung, dass längere Arbeitszeiten ohne Lohnausgleich für mehr Arbeitsplätze sorgen sollen, und ähnlichen Behauptungen gäbe es viel zu sagen.Alle diese Themen haben aber eines gemeinsam: Sie werden nicht in Hessen und nicht von Roland Koch entschieden.

Zu Ihren grundsätzlichen Ausführungen zur Wirtschaftspolitik doch ein paar Anmerkungen. Herr Ministerpräsident, Sie haben bei Ihren Vergleichen Deutschlands mit

anderen Ländern wohlweislich immer eine Tatsache weggelassen:Die Bundesrepublik Deutschland hat im Gegensatz zu allen anderen Ländern,mit denen Sie Deutschland verglichen haben, seit 1990 bis heute jährlich eine erhebliche Summe zur Finanzierung der sozialen Sicherungssysteme und zum Aufbau der Infrastruktur in den neuen Bundesländern aufzubringen. Der Nettokapitaltransfer lag – nach meiner Erinnerung, noch in Mark gerechnet – relativ konstant bei 100 Milliarden jährlich.Das wird auch in diesem Jahr so sein.

Eine solche Summe muss ein Gemeinwesen erst einmal aufbringen. Das ist bis heute einer der wesentlichsten Gründe für die Probleme, die dieses Land hat: die Kombination mit der jahrzehntelangen Verweigerung der Realität der demographischen Entwicklung. Ich höre noch Norbert Blüm sagen: Die Rente ist sicher. Das war doch kein GRÜNER, das war doch ein Schwarzer. Herr Koch, da hilft es Ihnen doch überhaupt nichts, wenn Sie jetzt die ganze Zeit erklären, dass die demographische Entwicklung eine der größten Herausforderungen ist, und Sie weiterhin erklären, dass Helmut Kohl Ihr politisches Vorbild ist. In dessen Regierungszeit sind genau jene Probleme in den sozialen Sicherungssystemen entstanden, die wir heute beklagen.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Volker Hoff (CDU): Wie stehen denn die GRÜNEN zum demographischen Faktor?)

Herr Ministerpräsident, dass man die Finanzierung der deutschen Einheit ebenfalls über die beitragsfinanzierten sozialen Sicherungssysteme finanziert hat, ist einer der Hauptgründe, dass wir heute auf dem Arbeitsmarkt die Probleme haben, die wir haben.

Es stimmt,Arbeit ist in Deutschland teuer.Aber das liegt nicht daran, dass die Menschen in den niedrigen Lohngruppen zu viel Geld bekommen. Im Übrigen sind auch die Steuern nicht zu hoch, dies zeigt ein Vergleich der Steuerquoten. Herr Ministerpräsident, vielmehr sind die Lohnnebenkosten in diesem Land zu hoch. Dazu aber hat die CDU lange Jahre und Jahrzehnte einen erheblichen Beitrag geleistet.

Herr Koch, wenn man hier schon einen bundespolitischen Anspruch hat, dann sollte man angesichts von 4,6 Millionen Erwerbslosen an der wirklichen Lösung der Probleme arbeiten und nicht die Bilder hinstellen, die Sie heute Morgen vorgetragen haben. Das Menschenbild, das aus Ihren Vorschlägen spricht, ist erschreckend. Wenn jeder zu arbeiten hat, so haben Sie das heute Morgen gesagt, auch wenn dies seine Lebenshaltungskosten nicht deckt, dann wäre das die endgültige Einführung der Working Poor, der arbeitenden Armen, auch in Deutschland. Wenn Sie das wollen,dann sagen Sie das auch so,Herr Ministerpräsident, und bitte in dieser Deutlichkeit.

(Zuruf des Ministerpräsidenten Roland Koch)

Ich möchte mich hier nicht über solche Vorschläge empören, weil ich glaube, dass Sie die Empörung, die auf solche Vorschläge in aller Regel folgt, nicht nur einkalkulieren, sondern Ihre Vorschläge unter anderem genau wegen dieser Reaktion machen. Ihr Motto ist, möglichst viel Staub aufzuwirbeln, damit möglichst nicht klar wird, wie wenig Sie selbst in der Realität hinbekommen.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei Abgeordneten der SPD)

Wo sind denn die nach Ihrer ersten Wisconsin-Reise so groß angekündigten Arbeitsangebote für Hessen? Was ist