Protocol of the Session on November 5, 2003

für die Frage, was mit geringen Einkünften ist.

(Hildegard Pfaff (SPD): Halten Sie dazu eine sachliche Diskussion!)

Die Sozialdemokraten und die Gewerkschaften sind glücklich gewesen, dass sie irgendwann eingeführt haben, dass man unter einem bestimmten Lohn nicht arbeiten darf. Sie haben gedacht, dass damit diese Arbeit zu einem höheren Lohn in Deutschland erledigt wird. Das ist auch eine Konzeption,über die man reden kann,wenn es einem Land gut geht.Wir müssen heute doch einfach zur Bilanz nehmen, dass diese Arbeit nicht mehr in Deutschland

stattfindet, sondern jenseits unserer Grenzen exportiert worden ist.

Wir müssen heute die Frage stellen, ob wir 10 % der Menschen in diesem Land dauerhaft von Erwerbsmöglichkeiten ausschließen, was wir zurzeit tun, indem sie in der verdeckten Reserve, in der Arbeitslosenhilfe oder in der Sozialhilfe stecken. Man könnte auch sagen, es ist besser, sie für niedrigere Löhne, als wir für marktmäßig halten, arbeiten zu lassen und durch Sozialhilfe und andere Unterstützung aufzustocken, sodass sie mehr haben, als wenn sie heute in der Sozialhilfe sind und die Arbeit nicht in Deutschland bleibt.Wir müssen uns von der alten Ideologie abwenden, dass Arbeit nicht getan werden darf, nur weil der Stundenlohn in regionalem Vergleich unangemessen erscheint.

Meine Damen und Herren, das ist wiederum letztes Jahrhundert. Diese Idee wird so viele Menschen von Arbeit ausschließen, dass man damit eine vernünftige Gesellschaft nicht gestalten kann. Sie müssen die Frage beantworten, ob Sie dort zu einem Kompromiss und zu einer vernünftigen Beantwortung dieser Frage bereit sind.

(Beifall bei der CDU – Norbert Schmitt (SPD): Diese Rezepte hat doch Kohl völlig erfolglos angewendet!)

In diesem Zusammenhang lautet dann die letzte Frage, wie wir es mit der Steuerreform machen. Für Hessen nenne ich Ihnen eine klare Position: Wir haben Ihnen einen Haushalt vorgelegt, der unter extremsten Anspannungen dazu kommt – es behauptet wohl niemand,dass es ein Spaziergang wäre, was wir hier gerade machen –,

(Norbert Schmitt (SPD): Das ist völliger Unsinn!)

dass sich dann, wenn wir mit den Steuereinnahmen so rechnen können, wie es bisher geplant ist, ohne andere Gesetze, die Ausgaben für Investitionen und Kredite ausgleichen. Das ist das, was unsere normale Grenze in den rechtlichen Regeln ist.

In dem Augenblick, in dem die Steuerreform um ein Jahr vorgezogen wird, werden wir eine Belastung – es gibt keine Chance auf zusätzliche Einsparungen – in Kauf nehmen müssen, die einige Hundert Millionen, wir glauben, etwa 440 Millionen c, über diese Grenze hinausgeht, weil wir dann Ausgaben haben, die im Bereich des Konsums liegen und mit Krediten abgedeckt werden müssen.

In einer Zeit, in der wir es nicht etwa wie andere Länder, wie z. B. die Vereinigten Staaten, mit einer Konjunkturkrise zu tun haben, sondern aus den Gründen, die ich gerade beschrieben habe, mit einer Strukturkrise zu tun haben,darf man nicht glauben,dass,wenn man Geld ausgibt, die Wirtschaft anspringt. Ein Mensch, der im Augenblick Rentner ist, weiß, dass er die nächsten Jahre nicht kalkulieren kann,wie seine Rente ist.Also gibt er nicht aus,sondern spart. Das ist das Ergebnis Ihrer Politik.

(Hans-Jürgen Irmer (CDU): Das ist völlig richtig!)

Jemand, der im Augenblick als Vater und Mutter sein Kind ansieht, hat Sorgen, dass es einen Ausbildungsplatz erhält.Also spart er. Das ist das Ergebnis Ihrer Politik.

Jemand, der heute bei Opel an anderer Stelle Arbeitnehmer ist, hat Sorge, dass es bei dieser Wirtschaft so weitergeht.Also spart er.

Deshalb wird die Wirkung nicht so sein. Ich sage Ihnen: Solange man nicht bereit ist, solange Sie nicht bereit sind, die strukturellen Dinge wirklich auf- und anzunehmen

und zu verändern,bin ich nicht bereit,Geld in die Hand zu nehmen, mit der Folge, dass unsere Kinder die Rechnung dafür bezahlen,dass wir heute unsere Hausaufgaben nicht machen. Das ist der Punkt, an dem die Auseinandersetzung steht.

(Beifall bei der CDU)

Deshalb ist der Maßstab für die Steuerreform klar. Ich möchte dem Hessischen Landtag nicht vorschlagen, zusätzliche Schulden aufnehmen zu müssen, um das zu finanzieren. Wenn die Bundesregierung in der Lage ist, in ihrem Haushalt – und dann auch in unserem Haushalt, in beiden – das anders darzustellen, dann ist das nur noch eine Frage der volkswirtschaftlichen Richtigkeit. Dazu habe ich meine Meinung. Ich glaube, das wirkt nicht.

Aber ich sage ganz klar: Mein Punkt ist das Problem der Verschuldung. Darf man für eine solche Maßnahme in einer solchen Zeit – in der man allen anderen solche Opfer zumutet – diese Entscheidung treffen? Darauf ist meine sehr klare Antwort: Nein. Und ich bin sehr dankbar dafür, dass die Kollegen in CDU und CSU in den Bundesländern dies am Freitag zunächst einmal genauso sehen und wir damit in den Vermittlungsausschuss gehen.

(Reinhard Kahl (SPD): Zunächst!)

Damit hat die Bundesregierung eine weitere Chance, zu sagen, wie das Problem ohne eine solche Verschuldung zu lösen ist.

Meine sehr verehrten Damen und Herren, allerdings wird zwischen heute und dem Freitag eine weitere Hypothek auf uns zukommen. Die Zahlen, mit denen die Bundesregierung bisher gerechnet hat, sind nämlich offensichtlich alle falsch.

(Jörg-Uwe Hahn (FDP):Wie immer!)

Deshalb werden wir nicht vor der Frage stehen, ob wir über die Finanzierung des Einnahmeausfalls durch das Vorziehen der Steuerreform in Höhe von 16 Milliarden c reden – insgesamt,für alle Ebenen:Bund,Länder und Gemeinden – und wie wir das finanzieren, sondern, wenn die Bundesregierung jetzt mühsam in den nächsten Tagen 10, 11 oder 12 Milliarden c zusammenbekäme, um diese Finanzierung darzustellen, dann müsste sie erst einmal 10, 12 Milliarden c zusätzlich beschaffen,um die Ausfälle,die die Steuerschätzer mit größter Wahrscheinlichkeit in den nächsten zwei Tagen darstellen, zu bereinigen. Sonst hat sie genauso viele Schulden wie vorher.

Es kann doch wohl keine Frage sein, dass erst einmal das ausgeglichen werden muss, bevor ich erneut über eine zusätzliche Maßnahme wie eine Steuersenkung nachdenke. Das hängt eng damit zusammen, dass die These nicht mehr stimmt, man könne im kommenden Jahr von einem wirtschaftlichen Wachstum von 2 % ausgehen. Das stimmt schon insoweit nicht mehr,als aus der Vorgabe von 2 % Wachstum – ich erinnere daran,die ist keine zwei Monate alt – inzwischen schon irgendetwas von 1,7 oder 1,75 % geworden ist.

(Zuruf des Abg. Norbert Schmitt (SPD))

Wir laufen also den Zahlen wieder hinterher. Ich will dem Herrn Kahl in Erinnerung rufen, was er vor ungefähr zwei Jahren einmal gesagt hat:

(Zuruf des Abg. Norbert Schmitt (SPD))

Seit Hans Eichel da ist, haben wir bei den Einnahmeausfällen keine Berechnungsunsicherheit mehr. – Verehrter Herr Kahl, ist Ihnen eigentlich klar, dass im Verhältnis zu

der Prognose, die Hans Eichel Mitte September in Brüssel abgegeben hat – er hat gesagt, die Nettoneuverschuldung aller Ebenen würde in diesem Jahr 67 Milliarden c betragen –, das Ergebnis der Steuerschätzung wahrscheinlich so viel höher sein wird, dass wir nämlich rund 25 Milliarden c mehr an Schulden haben werden, als Sie im Jahr 2000 überhaupt an Schulden in Deutschland aufgenommen haben? Innerhalb von drei Monaten im Jahr 2003 ist Ihr Prognoseunterschied größer als die gesamtstaatliche Schuldenaufnahme im Jahr 2000.Das ist das Ergebnis Ihrer Politik und Ihrer Prognosesicherheit, von der Sie damals gesprochen haben.

(Beifall bei der CDU)

Der Hintergrund ist: Im Jahr 2000 betrug die Nettoneuverschuldung rund 25 Milliarden c, im Jahr 2001 rund 47 Milliarden c, im Jahr 2002 rund 57 Milliarden c – und jetzt wird sie über 90 Milliarden c betragen. Von 57 Milliarden auf 90 Milliarden c in einem Jahr – das kann man nicht oft genug sagen, wenn man abwägen muss, ob man für politisch fragwürdige Projekte diese Verantwortung tragen und neue Schulden aufnehmen soll. Alle wissenschaftlichen Institute sagen, das wird keine nennenswerten Wachstumseffekte auslösen.

Die Antwort, die Sie von mir seit dem ersten Tag hören, die Sie weiter hören werden und für die ich werbe – ich respektiere jede Demokratie, aber ich werbe mit diesem Haushalt und mit den Gründen unserer Situation –: Für die hessischen Bürgerinnen und Bürger ist es besser, wir machen eine kluge Politik, die Wachstum durch Strukturveränderungen schafft, als eine Politik, die neue Schulden für die nächste Generation macht.

(Beifall bei der CDU – Tarek Al-Wazir (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Das ist aber eine bahnbrechende Erkenntnis, nach vier Jahren Verschuldung, mein Lieber!)

Wir werden bei den Beratungen des Bundesrates und des Bundestages in den nächsten Wochen durchaus auch unter den Ministerpräsidenten zusätzlich darüber sprechen müssen, ob diese Maßnahmen wirklich ausreichen und ob es nicht klug wäre, dass wir uns über ein paar mehr Dinge verständigen. Denn ich höre, es wird noch über Hochschulpolitik geredet.

Ich würde gerne das Angebot der sozialdemokratischen Kollegen im Bund aufnehmen, für die Langzeitstudiengebühren in allen Bundesländern eine vergleichbare Regelung zu erreichen. Ich bin den Sozialdemokraten dankbar dafür, dass sie bereit sind, dieses bis vor wenigen Tagen tabuisierte Thema aufzunehmen.

Wir sind zu solchen Gesprächen bereit. Das ist eine Frage, die alle in Deutschland betrifft. Auch bei den Studentenprotesten von gestern sage ich: Ich möchte, dass jeder studieren kann.

(Beifall der Abg.Ruth Wagner (Darmstadt) (FDP))

Ich möchte, dass jeder auch ohne Entgelt studieren kann – egal, ob man das in Zukunft über Studiengebühren organisiert oder beispielsweise durch Bildungsgutscheine oder anderes, wenn ich Ruth Wagner sehe. Das kann ich mir alles vorstellen. Aber eines ist klar: Wer länger studiert als die um die Hälfte verlängerte Regelstudiendauer und nicht an Kindererziehung beteiligt ist und keine sonstigen sozialen Probleme hat, der bekommt vom Steuerzahler in einer schwierigen Zeit so viel an Unterstützung, dass man erwarten kann, dass er einen kleinen Teil dieser

Unterstützung selbst zurückgibt. Das ist ganz normal und fair.

(Beifall bei der CDU und des Abg. Jörg-Uwe Hahn (FDP))

Wir werden gemeinsam über Veränderungen im Beamtenrecht reden müssen.Ich sage das ganz klar:Wir müssen über die Frage reden, ob wir Beamten nicht auch eine Möglichkeit geben können, mit dem 40. oder 45. Lebensjahr aus dem Beamtenverhältnis in einen anderen Beruf zu wechseln, ohne dass sie die Pensionsansprüche verlieren, die sie bis dahin erworben haben. Derzeit ist dies das geltende Recht. Denn sonst werden wir die Zahl 9.000 – etwa durch Fluktuation – schwieriger erreichen können, als es eigentlich notwendig wäre.

Herr Kollege von Hunnius, ich kann da 18.000 hinschreiben, aber Fluktuation und Arbeitsrecht machen diese Zahl nicht realistischer. Die Zahl, über die wir hier reden, ist unter dem Gesichtspunkt des geltenden Rechts eine anstrengende Zahl – bevor ich überhaupt über das Thema Aufgabenkritik gesprochen habe. Ich teile Ihre Meinung zur Aufgabenkritik.Wir werden dort in den nächsten Wochen gemeinsam große Herausforderungen erleben. Ich habe gesagt, wir wollen die Regierungspräsidien restrukturieren. Das geht nicht ohne Aufgabenkritik.

(Ruth Wagner (Darmstadt) (FDP): Ja!)

Aber wir werden ganz schnell bei dem Thema sein – und das wird auch ganz lustige Diskussionen geben –, was geht und was nicht geht. Wir werden über Standorte diskutieren müssen,selbstverständlich – denn Standorte bedeuten Kosten. Wir werden schauen müssen, wie wir damit hinkommen. Wir sind nicht am Ende der Dinge, die durch diesen Haushaltsplan angelegt worden sind. Aber ich sage, ohne bestimmte Veränderungen im Beamtenrecht wird diese Fluktuation fast nicht herzustellen sein.

Mit Änderungen ist nicht gemeint: „Wir können entscheiden, dass die gehen müssen“, sondern es sind Entscheidungen gemeint, die andere heute nicht treffen, weil das Recht so ist, dass sie mit dem Eintritt ins Beamtenleben diese Chance eigentlich verlieren.

In der Föderalismuskommission wollen wir über die Auflösung von Mischfinanzierungsverhältnissen reden.

(Ruth Wagner (Darmstadt) (FDP): Ja!)

Ich sage Ihnen ganz offen: In der Hochschulfinanzierung – um ein gutes Beispiel zu nennen – verlieren wir alleine dadurch Geld, dass wir immer erst die Stelle in Hannover fragen und uns in einen auf fünf Jahre angelegten Plan einfügen müssen, statt in einem Jahr beschließen zu können, wir machen etwas anders, als wir es uns vor drei Jahren überlegt hatten. Die Wissenschaft ist heute schneller als die öffentlichen Planungs- und Anmeldungsprozesse.

Ich will gar nicht mehr Geld. Das hätten wir auch immer gern. Aber wenn man uns das Geld zur freien Verfügung gibt, dann können wir damit mehr machen. Das gehört zu den Dingen, die wir in der Föderalismuskommission besprechen müssen.