Protocol of the Session on August 24, 2016

(Beifall SPD, Bündnis 90/Die Grünen)

Ich kann nicht beurteilen, wie in anderen Fraktionen Anträge oder Änderungen zustande kommen. Ich war nie Mitglied einer anderen Fraktion. Bei uns entscheiden Bremerinnen und Bremer, Sozialdemo kratinnen und Sozialdemokraten, Mitglieder meiner Fraktion darüber, wie Anträge aussehen.

(Beifall SPD, Bündnis 90/Die Grünen)

Nur, weil man es offenbar tatsächlich sagen muss, um es klarzurücken: Mitglieder meiner Fraktion sind Menschen, die aus fremden Ländern kommen, sind Menschen, die in Deutschland geboren wurden und hier aufgewachsen sind, deren Eltern aus anderen Ländern kommen. Mitglieder meiner Fraktion sind vom Ursprung her Jesiden, Kurden und Türken. Mitglieder meiner Fraktion sind Christen. Mitglieder meiner Fraktion sind Atheisten, Frauen und Männer. All diese Bremerinnen und Bremer, Sozialdemokra tinnen und Sozialdemokraten, haben diese Änderun gen beschlossen. Alles andere ist eine Diffamierung meiner Fraktion, die ich entschieden zurückweise!

(Beifall SPD, Bündnis 90/Die Grünen)

Als kleines Schmankerl möchte ich noch etwas einfü gen, Herr Tuncel, weil Sie ausdrücklich gelobt haben, dass wir einen Satz aus Ihrem Antrag übernommen haben. Genau dieser Satz wurde auf Anregung von jemandem übernommen, den Sie im Zweifel gern diffamieren möchten.

(Beifall SPD – Abg. Senkal [SPD]: So sieht das aus!)

Ich möchte das ganze Thema jetzt nicht überfrach ten. Ich wollte nur deutlich machen, dass nicht wir diejenigen sind, die den Streit in dieses Parlament tragen, sondern andere. Wir als Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten haben gemeinsam mit den anderen Fraktionen auf dieser Seite des Parlaments ein hohes Interesse daran, zu beobachten, was in der Türkei passiert, und in Gesprächen deutlich zu machen, wo wir Ängste und Befürchtungen haben und wo wir Veränderungsbedarf sehen.

Ich wiederhole gern das, was ich an dieser Stelle schon einmal gesagt habe. Als Politikerin bin ich eine Frau des Wortes und nicht des Schwertes. Ich glaube an den Dialog. Ich glaube, dass es richtig ist, mit Men schen zu sprechen, um sie von einer gegebenenfalls zu ändernden Haltung zu überzeugen. Sonst würde ich hier nicht stehen.

(Beifall SPD, Bündnis 90/Die Grünen)

Zum Schluss möchte ich sagen, dass ich mich freue, dass die CDU diesen Entschließungsantrag einge bracht hat. Ich freue mich, dass es in so großer Breite gelingen wird, diesem Entschließungsantrag beizu treten.

Ich gehe davon aus, dass sich dieses Parlament nicht für Auseinandersetzungen instrumentalisieren lässt, die nicht hierher gehören, sondern die andere Gruppen in anderen Ländern bestreiten müssen, und dass wir als Demokratinnen und Demokraten ein gemeinsa mes Interesse daran haben, dafür einzutreten, dass der Wert und die Grundhaltung Demokratie auch in anderen Ländern ihren Platz findet. – Vielen Dank!

(Beifall SPD, CDU, Bündnis 90/Die Grünen)

Als nächster Rednerin hat das Wort die Abgeordnete Frau Dr. Müller.

Sehr geehrter Herr Präsident, verehrte Kolleginnen und Kollegen! Vieles ist gesagt worden. Ich möchte es nicht wiederholen. Viele Argumente rund um den Putsch und vor allem um die Reaktionen auf den Putsch sind richtigerweise von den Kolleginnen und Kollegen benannt worden. Ich möchte mit dem begin nen, was auch die Kollegin Grotheer getan hat und mich für die Initiative der CDU-Fraktion bedanken. Wir haben den Antrag sehr gern unterstützt.

Ich möchte mit der sogenannten Legendenbildung beginnen, auf die Antje Grotheer auch schon ein gegangen ist. Parlamentarische Anträge, die einem mit der Bitte um Unterstützung vorgelegt werden, werden bearbeitet. Ich habe im letzten Jahr gelernt, dass man darin herumfuhrwerkt, dass man Entwürfe im Änderungsmodus mit Kommentaren und so weiter

zurückbekommt. Ich weise die auch meiner Fraktion zugetragenen Behauptung, wonach einzelne Abgeord nete von uns am Gängelband eines Erdoğan-Fadens hängen, ausdrücklich und massiv zurück!

(Beifall Bündnis 90/Die Grünen, SPD)

Sowohl meine Fraktion als auch die Koalitionskol legen haben inhaltlich gemeinsam mit der CDU am CDU-Antrag gearbeitet. Sie haben, lieber Kollege Tuncel, eine Passage zitiert. Es sind mehrere Pas sagen aus inhaltlichen und sprachlichen Gründen bearbeitet worden. Ich teile nicht die Annahme, dass im Ursprungsantrag an der einen oder anderen Stelle Formulierungen gefunden wurden, die sozusagen eine türkische Seele als überheblich hätte begreifen können oder die an der eine Spitze zu spitz formuliert waren.

Wir müssen aber doch zur Kenntnis nehmen, dass es gerade in zwischenstaatlichen Beziehungen und ge rade, wenn diese innenpolitisch zum Tragen kommen, Befindlichkeiten gibt, auf die man Rücksicht nehmen kann. Wir haben uns entschieden, diese sehr wohl zu berücksichtigen. Dass inhaltliche Abschwächun gen vorgenommen worden wären und wir von einer starken Verurteilung antidemokratischer Prozesse in der Türkei Abstand genommen haben, kann ich nicht sehen, und weise ich ausdrücklich zurück.

(Beifall Bündnis 90/Die Grünen, SPD)

Zum Putsch selbst und auf die, wie ich finde, rechts staatlich sehr fragwürdigen bis hin zu antidemokra tischen Reaktionen nach dem Putsch ist viel gesagt worden. Ich möchte noch einmal darauf hinweisen: Die Türkei ist eben nicht nur Erdoğan. Die Türkei ist auch nicht nur ein AKP-Flügel. Es gibt sehr, sehr viele Menschen, die in der Türkei genau darüber Streit suchen und natürlich auch erwarten, dass von uns verbale Adressen an die Türkei gerichtet werden. Das nehmen gerade diejenigen wahr, die in der Türkei den Kampf aufnehmen und dafür sorgen, dass es ein demokratisches Land bleibt. Liebe Kolleginnen und Kollegen, auch dafür sollten wir heute hier im Saal ein paar Worte finden!

Nach dem Erschrecken im Sommer, als wir die Nach richten bekamen, möchte ich deswegen sozusagen den Blick noch einmal ein bisschen weiten. Wir de battieren heute nicht das erste Mal die Situation der Türkei. Seit 2013, seit den Gezi-Protesten, beobachten wir eine Entwicklung, deren bisheriger unrühmli cher Höhepunkt der Putsch und die Reaktionen auf den Putsch sind. Wir haben hier in vielen Debatten unserem Bedauern und unserer Trauer mit den vie len Terroropfern in der Türkei Ausdruck verliehen. Auch das gehört zu einem Blick auf die Situation der Türkei. Die Türkei ist fast täglich von Terroran schlägen betroffen. Auch das müssen wir mit in den Blick nehmen.

Wir betrauern die Opfer des Putschs. Ich bin froh, dass Antje Grotheer noch einmal darauf hingewiesen hat. Auch das gehört hier ausgesprochen. Wir betrauern die Opfer und sind zutiefst erschrocken über die se Entwicklung, in der sich im Grunde genommen der Krieg, die gewaltförmige Auseinandersetzung zwischen dem türkischen Staat und den Kurdenor ganisationen, wieder verfestigt hat, statt auf neue Wege zu kommen. All das haben wir in den letzten Jahren in vielen Debatten besprochen. Hinzu kom men nicht erst seit dem Putsch die Gängelung von kritischen Journalistinnen und Journalisten sowie die Einschränkung der Pressefreiheit. Das wurde alles schon erwähnt. Hinzu kommen die von türkischen Regierungsvertretern benannten Säuberungen. Diesen Begriff möchte ich mir hier nicht zu eigen machen.

Wir sehen den türkischen Präsidenten flammende Reden halten, in dem er ein perfides rhetorisches Mittel nutzt, nämlich dem Volk zuruft: Wenn ihr die Todesstrafe wollt, führe ich sie für euch ein.

Auch das erinnert an rhetorische Maßnahmen,

(Abg. Tuncel [DIE LINKE]: An was denn?)

die wir nicht so gern sehen möchten. Darüber sind wir uns doch alle einig. Diese Rhetorik, die konkreten Maßnahmen und die angekündigten und durchge führten Verfolgungen, die gerechtfertigt werden, kritisieren wir sehr deutlich.

(Beifall Bündnis 90/Die Grünen, SPD)

Ich erwarte von der türkischen Regierung, dass sie zu rechtsstaatlichen Strukturen zurückkehrt.

(Beifall Bündnis 90/Die Grünen, SPD, CDU)

Bei der Türkei als einem unserer wichtigsten Partner autoritäre Entwicklungen zu beobachten, ist schwer aushaltbar. Ich gestehe, mich macht es auch hilflos. Ich sitze mitten in Europa, schaue auf die Türkei und frage mich: Was machen wir denn jetzt? Welche Handlungsoptionen haben wir als Deutschland oder als Europäische Union? Mein Eindruck während des Sommers war, dass die europäischen und deutschen Antworten genau von einer solchen Hilflosigkeit ge prägt waren, wie ich sie vor mir hertrage, weil bisher jedenfalls keiner die richtige Antwort hat.

Zwei Forderungen sind sehr schnell und sehr massiv von unterschiedlichen Seiten in den Raum gestellt worden. Auf diese beiden Forderungen möchte ich mich beziehen, weil zumindest eine der Forderungen auch in dem Antrag der LINKEN auftaucht. Gefordert wurde zum Beispiel aus Österreich, jetzt ganz schnell die EU-Beitrittsverhandlungen zu stoppen. Gefordert wurde zum Beispiel im Antrag der LINKEN auch, den sogenannten Flüchtlingsdeal, also das TürkeiEU-Abkommen, zu kündigen.

(Abg. Frau Vogt [DIE LINKE]: Das haben wir aber auch schon vorher gefordert!)

Ja, das haben Sie auch schon früher gefordert!

(Abg. Frau Vogt [DIE LINKE]: Genau!)

Ich weiß! Aber jetzt haben Sie es erneut gefordert!

(Zuruf Frau Vogt [DIE LINKE])

Wenn Sie mich ausreden lassen, begründe ich, warum ich das für gar nicht so falsch halte, aber in dem Fall nicht mittrage.

Ich wollte gerade sagen, dass ich, als ich aus der Türkei den Begriff „Säuberungen“ hörte, als erste Reaktion genau das gedacht habe, nämlich den Stopp dieser beiden Vertragsverhandlungen zu fordern. Gott sei Dank habe ich mich in sozialen Medien dann aber noch nicht so weit aus dem Fenster gelehnt wie andere. Beim zweiten und dritten Gedanken fragt man sich, was die Konsequenzen daraus sind, wenn wir die Beitrittsverhandlungen jetzt stoppen, die übrigens sowieso schon auf Eis liegen. Es wäre ja schön, wenn einmal miteinander verhandelt und gesprochen würde.

(Beifall SPD)

Was wäre die Konsequenz, wenn wir das EU-TürkeiAbkommen aufkündigen?

Den europafreundlichen Oppositionellen, den Lehre rinnen und Lehrern sowie den Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern wäre mit dem Stopp der EUBeitrittsverhandlungen überhaupt nicht geholfen. Ganz im Gegenteil!

(Beifall Bündnis 90/Die Grünen, SPD)

Uns muss klar sein: Es wäre doch lediglich Wasser auf die Mühlen des Präsidenten, der weiterhin behaupten könnte, dass der Westen die Türkei am Gängelband hält, Verträge nicht erfüllt und kein verlässlicher Partner ist. Ihm Futter für diese Mär zu geben und ihm diesen Gefallen zu tun, kann nicht in unserem Interesse sein.

(Beifall Bündnis 90/Die Grünen, SPD)

Ich bin der Überzeugung, wir müssen genau das Gegenteil tun. Wir müssen die Verhandlungen inten sivieren und wieder neu starten und in ein ehrliches Gespräch kommen. Das beinhaltet natürlich deutliche Kritik an der Situation in der Türkei. Wir müssen zu den bereits geöffneten 17 Kapiteln endlich weitere hinzufügen. Nur so ist die Türkei in der Beweispflicht bei der Übernahme des Acquis communautaire und des europäischen Grundrechtefundaments. Das ist aus meiner Sicht das wichtigste Argument.

(Beifall Bündnis 90/Die Grünen, SPD)

Übrigens ist auch nur so gewährleistet, dass sich weiterhin EU-Vertreterinnen und EU-Vertreter vor Ort ein Bild über die aktuelle Situation an türkischen Gerichten und in türkischen Gefängnissen machen und diese Beobachtung dann auch in den jährlichen Fortschrittsberichten der Kommission dokumentieren können. Wer sich also für die Menschen- und Bür gerrechte in der Türkei starkmachen möchte, muss sich doch gerade jetzt für die Intensivierung der Beitrittsverhandlungen aussprechen. Ich betone: Ver handlungen! Das heißt nicht, dass die Türkei nächstes Jahr beitrittsfähig ist. Das sehe ich auch nicht. Das heißt auch nicht, dass die Türkei 2023 beitrittsfähig wäre, wie sie es sich selbst zum hundertjährigen Staatsjubiläum wünscht.

(Abg. Dr. Buhlert [FDP]: Wir würden uns das auch wünschen! Aber das geht nicht! Das schaffen die nicht!)

Wir müssen aber doch den noch vorhandenen Wunsch – auch bei Mitgliedern der türkischen Regierung –, Teil der europäischen Rechtsgemeinschaft zu wer den, als Pfund für unsere Verhandlungen mit der Türkei nutzen.