Protocol of the Session on August 24, 2016

Wir müssen aber doch den noch vorhandenen Wunsch – auch bei Mitgliedern der türkischen Regierung –, Teil der europäischen Rechtsgemeinschaft zu wer den, als Pfund für unsere Verhandlungen mit der Türkei nutzen.

(Beifall Bündnis 90/Die Grünen, SPD)

Zur zweiten Forderung, nämlich den sofortigen Stopp des EU-Türkei-Abkommens! Ich kann natürlich das Ansinnen verstehen, weil meine Fraktion, meine Partei und ich persönlich massive Kritik an diesem Abkommen mit Ihnen teilen.

Das Abkommen in der jetzigen Zeit aufzulösen, würde allerdings den Flüchtlingen, um die es eigentlich geht, nicht helfen. Es geht ja nicht darum, den türkischen Staat für irgendetwas zu bestrafen, sondern es geht bei der Forderung, das Abkommen aufzuheben, um die Flüchtlinge. Davon gehe ich jedenfalls aus. Den Flüchtlingen wäre damit jedenfalls nicht geholfen. Allein für diejenigen, die für die sogenannte aust ralische Lösung, also eine menschenrechtswidrige, noch härtere Abschottungspolitik werben, wäre der Stopp dienlich.

Meine Fraktion und ich teilen viele Kritikpunkte am Abkommen. Eine Aussetzung zum jetzigen Zeitpunkt würde aber dazu führen, dass leider wieder mehr Flüchtlinge in der Ägäis ertrinken. Das muss man doch zur Kenntnis nehmen. Jetzt sind diese Zahlen gesunken. Es ist auch ein Ergebnis des EU-TürkeiAbkommens, dass die Todeszahlen im Mittelmeer sinken. Das müssen wir zur Kenntnis nehmen. Es ist auch ein Ergebnis des Abkommens, dass die Situation von Flüchtlingen in der Türkei besser geworden ist, auch wenn sie nicht so ist, wie wir sie uns eigentlich wünschen.

(Abg. Frau Strunge [DIE LINKE]: Und wie sie vor geschrieben ist!)

Der letzte Punkt: Bevor wir ein Abkommen kündi gen, wäre es mir recht, wir hätten eine europäische Antwort. Wir haben immer noch kein europäischsolidarisches Asylsystem. Das haben wir nicht. Die Situation des letzten Sommers wäre nach der Kündi gung des Abkommens die neue Situation. Wir hätten wieder Zäune, Gewalt und Leid. Es würde sich doch mit hoher Wahrscheinlichkeit der letzte Sommer wiederholen. Wer will dieses Szenario? Ich glaube, das ist nicht in unserem Interesse.

(Beifall Bündnis 90/Die Grünen, SPD)

Ganz im Gegenteil! Was das Abkommen angeht, müssen wir hier dafür streiten, in Europa zumindest bei zwei Dritteln der Mitgliedstaaten die Haltung hinzubekommen, dass das Asylrecht ein Menschen recht ist. Das hat sich noch nicht bei allen herumge sprochen. Daran müssen wir gemeinsam arbeiten. Wir müssen auch dafür streiten, dass die EU endlich einen höheren Teil ihres Abkommens erfüllt, nämlich mehr Gelder in die Türkei überweist, Flüchtlinge in Europa aufnimmt und hier ansiedelt. Das wären die richtigen Forderungen gewesen.

(Beifall Bündnis 90/Die Grünen, SPD)

Ja, wir haben Kritik an dem Abkommen. Der Aus stieg zum jetzigen Zeitpunkt und ohne eine echte europäische Alternative zum Schutze der Flüchtlinge wäre aber die schlechteste Lösung.

Aus all diesen Überlegungen heraus lehnen wir den Antrag und den Entschließungsantrag der LINKEN ab. Uns fehlte ein wichtiger Aspekt. Das muss man gerade nach der medialen Begleitung der vorlie genden Anträge in den letzten Tagen betonen. Die Auseinandersetzung mit der Entwicklung in der Tür kei hat natürlich eine innenpolitische Komponente. Einige unserer Kolleginnen und Kollegen hier im Hause, viele Bremerinnen und Bremer, beobachten diese Entwicklung sehr persönlich und mit Sorge. Die Situation in der Türkei führt auch hier zu sehr polarisierenden Debatten. So manche Debattenbei träge – egal, von welcher Seite – gefallen mir über haupt nicht. Auch der Ton und die dabei gepflegten Umgangsformen mit so vielen Unterstellungen im Raum gefallen mir nicht.

So polarisierend die Debatten sind und so wenig wir vielleicht auch an Verständnis für bestimmte Haltun gen haben, sind wir doch aufgerufen, diese Debatten in einem Miteinander zu führen. Wir müssen sie so führen, dass wir die gewachsenen und sehr guten Beziehungen Bremens in die Türkei weiterführen und in einem die Zivilgesellschaft stärkenden Sinne intensivieren können.

(Beifall Bündnis 90/Die Grünen, SPD)

Das betrifft sowohl die wirtschaftlichen Beziehun gen als auch die Beziehungen und Brücken, wie sie Kollege Dr. Güldner genannt hat, die wir über die Städtepartnerschaft nach Izmir haben. Das betrifft aber vor allem auch die Forschungskooperationen. Das betrifft den Austausch der Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler. Ich würde mir wünschen, wir würden in Bremen auch darauf den Blick nehmen. Wir haben eine Kleine Anfrage dazu gestellt, welche Auswirkungen die Situation in der Türkei eigentlich auf hier lebende türkische Wissenschaftler und Stu dierende hat und wie es unseren deutschen Studie renden geht, die in Istanbul oder Ankara studieren. Welche Auswirkungen hat die Situation in der Türkei tatsächlich auf Bremerinnen und Bremer und auf unsere bremisch-türkischen Beziehungen?

In all diesen Bereichen wollen meine Fraktion und ich all unsere Möglichkeiten nutzen – wir haben einige –, um gerade jetzt, wo sie so unter Druck stehen –

(Glocke)

ich komme zum Schluss! –, demokratische und zivil gesellschaftliche Strukturen in der Türkei zu unter stützen und zu stärken. – Vielen Dank!

(Starker Beifall Bündnis 90/Die Grünen, SPD)

Als nächster Redner hat das Wort der Abgeordnete Tuncel.

Sehr geehrter Herr Prä sident, liebe Kolleginnen und Kollegen, liebe Frau Dr. Müller! Ich bin fassungslos. Ich musste mich wirklich zusammenreißen. Es ist nicht meine Art. Ich bin eigentlich ein ruhiger Mensch. Das, was Sie hier gesagt haben und wie Sie sich vor allem zu Flüchtlin gen geäußert haben, ist wirklich sehr traurig. In dem Land sind gerade 400 000 Menschen auf der Flucht. Liebe Frau Kollegin, Sie kennen sich in dem Bereich auch ganz gut aus. In den letzten Tagen sind über 1 700 Asylanträge von Menschen aus der Türkei in Deutschland gestellt worden.

(Abg. Frau Dr. Müller [Bündnis 90/Die Grünen]: Eben!)

Ich bekomme Anrufe, weil Verwandte in der Türkei abgeholt werden und nicht wissen, wie es weitergeht. Sie leben in Stadteilen von Istanbul, in denen Ale viten leben. Sie haben wirklich Angst, umgebracht zu werden.

Sie sagen: Augen zu und durch. Wir haben keinen anderen Plan, also sollen die Flüchtlinge zusehen, wie sie klarkommen.

(Abg. Frau Böschen [SPD]: Dann haben Sie aber nicht zugehört!)

Wir werden dieses Regime weiter mit Geldern finan zieren und unterstützen.

(Abg. Dr. Güldner [Bündnis 90/Die Grünen]: Das hat aber kein Mensch gesagt!)

Ich lebe seit 32 Jahren hier in Bremen. Es ist sehr traurig, was ich nach dem Putsch mitbekomme und wie es den Menschen mit türkischen Wurzeln in Bremen geht. Das ist wirklich sehr traurig.

Nach dem Putsch wurde ein Bericht in „buten un bin nen“ gezeigt. Zum ersten Mal, seit ich in Deutschland lebe, habe ich gesehen, dass Menschen ihr Gesicht nicht gezeigt haben, weil sie Angst hatten, dass ihre Verwandten in der Türkei darunter leiden würden. Das ist schon sehr traurig. Wir dürfen jetzt nicht die Augen verschließen und so tun, als habe das mit Bremen und Deutschland überhaupt nichts zu tun.

(Abg. Dr. Güldner [Bündnis 90/Die Grünen]: Hat sie das Gegenteil gesagt? Was soll das denn?)

Ich möchte niemanden diffamieren, liebe Kollegin Grotheer! Die Lobbyvereine und dieses Regime haben bis in die Parlamente Unterstützung und Einfluss. Wir müssen nach dem Putsch genau hinsehen und überlegen, mit wem wir in einen Dialog treten, mit wem wir nicht in einen Dialog gehen,

(Abg. Frau Grotheer [SPD]: Ja! – Abg. Frau Dr. Kap pert-Gonther [Bündnis 90/Die Grünen]: Das war doch genau der Punkt!)

welche Verträge wir abgeschlossen haben und welche nicht. Am 22. Juli 2016 wurde in 900 DITIB-Moscheen eine Predigt gehalten. Eigentlich sollte es um Religion gehen. Es war Regierungspropaganda in allen 900 Moscheen, auch hier in Bremen, liebe Kolleginnen und Kollegen. Deshalb ist es wichtig, die Augen nicht zu verschließen.

(Abg. Dr. Güldner [Bündnis 90/Die Grünen]: Das hat doch keiner gesagt!)

Deshalb ist es wichtig, genau hinzusehen und nicht nach dem Motto zu verfahren: Augen zu und durch!

(Abg. Frau Dr. Kappert-Gonther [Bündnis 90/Die Grünen]: Hören Sie doch zu! – Unruhe)

Das ist unglaublich! Ich habe vergessen, einen Zettel mitzunehmen. Im Antrag der CDU stand aus meiner Sicht eigentlich alles, was wichtig ist. Wenn man sich ansieht, wie weichgespült der Antrag nun ist – ich wiederhole: weichgespült! –, dann können Sie sich noch zwanzigmal hierherstellen und mir erzählen, dass es keinen Einfluss bestimmter Lobbyvereine der AKP gab. Glauben Sie mir, sie sind schon bei Ihnen.

Machen Sie die Augen auf und passen Sie auf, damit wir hier in Bremen keine Probleme bekommen!

Ein junger Mensch hat vor Kurzem den Bremer Medien ein Interview gegeben. Danach wurde er bedroht. Leute, Kollegen und Fraktionen, seht nach dem Putsch genau hin! Herr Kollege Dr. vom Bruch hat erwähnt, in Gelsenkirchen ist das schon passiert. Wir hoffen nicht, dass so etwas auch in Bremen passiert. Wir müssen genauer hinschauen, wenn wir Verträge mit bestimmten Verbänden abgeschlossen haben. Wir müssen diese Verbände dazu auffordern, sich endlich zur Demokratie zu bekennen und nicht so zu tun, als hätten sie keinen Einfluss. Ich bitte Sie: Wachen Sie auf und unterstützen die Menschen, die sich für Demokratie und Menschenrechte in der Türkei einsetzen!

(Beifall DIE LINKE)

Lassen Sie nicht zu, dass die Menschen aus Deutsch land, die dieses Regime unterstützen, weiterhin dafür sorgen, dass es den Menschen in der Türkei schlecht geht und dass Menschen hier in Deutschland Angst haben, weil sie eine bestimmte Herkunft haben! – Vielen Dank!

(Beifall DIE LINKE)

Als nächster Redner hat das Wort Herr Abgeordneter Dr. Buhlert.

Sehr geehrter Herr Präsident, meine Damen und Herren! Ich habe mich noch einmal wegen der Rede von Frau Dr. Müller gemeldet, in der sie sagte: Wir wünschen uns, dass mindestens zwei Drittel der EU versteht, wie wir es zukünftig mit dem Asylrecht halten wollen! Wir sollten daran arbeiten, dass es die gesamte EU versteht.

(Zuruf Frau Dr. Müller [Bündnis 90/Die Grünen])

So weiß ich es und so habe ich es auch verstanden! Darauf wollte ich hinaus. Nicht zu früh aufregen, bitte! Darauf wollte ich hinaus.

Ich gehe davon aus, dass wir alle daran arbeiten, dass es die gesamte EU so hält.

(Beifall FDP)

Ich verstehe Frau Dr. Müller so, dass sie meint, wenn es zwei Drittel täten, würde es wenigstens funktio nieren. Auch das ist richtig und ein richtiger Ansatz. Wir können nicht darauf warten, dass wir immer alle überzeugt haben, bevor wir vernünftig handeln.

Einen weiteren Aspekt habe ich mir als Frage gestellt. Da gilt es, in der Türkei sehr genau hinzusehen. Das ist die Frage, vor der alle Demokraten stehen: Ist es ein demokratisches Recht, die Demokratie abzuschaffen?

Das ist es meiner Meinung nach nicht. Davor schützt uns unser Verfassungsgericht. In anderen Staaten gibt es solche Institutionen mit einer solchen Macht nicht. Das muss man wissen. Demokratie kann und soll man nicht demokratisch abschaffen. Deswegen gilt es, da genau hinzusehen und sich nicht mit demokrati schen Prozessen herauszureden. Menschenrechte, Grundrechte, Religionsfreiheit, Pressefreiheit und Meinungsfreiheit sind unteilbar und können nicht durch Mehrheiten abgeschafft werden.