Bremische Bürgerschaft (Landtag) – 19. Wahlperiode – 20. (außerordentliche) Sitzung am 04.05.16 1472
Es heißt dann in dem Gutachten auf Seite 18 zur Frage, unter welchen Voraussetzungen denn diese außergewöhnliche Situation zu einer Befreiung von den Kreditobergrenzenverpflichtungen führen kann:
„Die Darlegungs- und Begründungslast ist hoch, weil eine Ausnahme in Anspruch genommen werden soll. Das bedeutet: Bremen muss die Mehrkosten durch die Aufnahme von Flüchtlingen nachvollziehbar dokumentieren. Wie Ausgaben für zusätzliche Aufwendungen ermittelt und abgegrenzt werden können, beschreibt der Deutsche Städtetag in seinem Gemeindefinanzbericht: ‚Die Ausgaben werden unterschieden in erstens die direkten Kosten im Zusammenhang mit der Unterkunft und Versorgung der ankommenden Flüchtlinge für die Dauer des Asylverfahrens. Zweitens sind die Integrationskosten zu betrachten. Drittens sind die Kosten für den allgemeinen Bevölkerungszuwachs sowie die Abfederung von Belastungen sozial schwacher Gruppen zu quantifizieren, die sich zum Beispiel am Wohnungs- oder Arbeitsmarkt ergeben können.“
Meine Damen und Herren, ich frage Sie jetzt: Haben Sie den Eindruck, dass das, was Ihnen der Senat heute vorlegt, diesen Konkretisierungsgrad und diese Begründungstiefe hat, die Herr Korioth erwartet? Er hat mitnichten gesagt, dass diese konkrete Haushaltsplanung diesen Anforderungen entspricht. Er hat die Anforderungen beschrieben, und ich sage Ihnen: Dann einmal eben schlank hineinzuschreiben, dass wir 180 Millionen Euro mehr für Sozialhilfekosten brauchen, genügt nach Auffassung der CDU diesen Ansprüchen eben gerade nicht.
Nur die, die Sie konkret nachweisen, und nicht einmal eben 180 Millionen Euro pauschal hier und 60 Millionen Euro einmal pauschal da! Deshalb genügt der von Ihnen vorgelegte Haushaltsentwurf den Anforderungen des Gutachtens von Herrn Korioth nicht. Ich sage Ihnen: Wenn es Ihnen nicht gelingt, diese notwendige Konkretisierung bis zur zweiten Lesung herbeizuführen, beschließen Sie im Parlament einen verfassungswidrigen Haushalt! Daran wird sich die CDU-Fraktion nicht beteiligen!
Ich glaube, dass der Haushalt in der vorliegenden Fassung gar nicht beratungsfähig ist. Wir kommen Sie eigentlich auf 180 Millionen Euro Mehrkosten? Das wird in der Vorlage an keiner Stelle erklärt. Ich habe gelernt, dass Sie rechnen: pro Flüchtling 1 000 Euro pro Monat. Deswegen beschweren Sie sich ja auch, dass der Bund nur 670 Euro für die Verfahrensdauer bezahlt. Bei 1 000 Euro monatlich macht das 12 000 Euro im Jahr. Jetzt zahlt der Bund aber seit dem 1. Januar dieses Jahres 670 Euro für jeden Flüchtling, der im Verfahren ist. Das heißt, von den 1 000 Euro fallen bei Ihnen nur 330 Euro an. Das macht, multipliziert mit zwölf, 4 000 Euro im Jahr. Wenn Sie 180 Millionen Euro Mehrkosten geltend machen, Frau Senatorin Linnert, und das durch 4 000 Euro pro Flüchtling pro Jahr rechnen, dann müssten in diesem Jahr über 45 000 Flüchtlinge in Bremen Sozialleistungen bekommen.
Daran sieht man doch schon, dass diese Rechnung nicht stimmen kann. Die von Ihnen auch als Pauschale bezeichneten 180 Millionen Euro sind weder seriös berechnet noch fundiert begründet, geschweige denn erfüllen sie die Ausnahmetatbestände, die Herr Korioth aufgestellt hat. Sie sind schlicht und ergreifend nichts als ein „dicker Daumen“, und wir beschließen hier im Parlament Haushalte und keine „dicken Daumen“ von Finanzsenatoren.
Dazu kommt, dass wir zugebenermaßen gar nicht wissen, wie sich die Flüchtlingszahlen in diesem Jahr entwickeln. Ich habe heute Morgen, weil ich Zahlen des Bundes gesehen habe, noch einmal nachfragen lassen, wie sich eigentlich die Zahlen in Bremen entwickelt haben. Im ersten Quartal dieses Jahres haben in Bremen nur noch 1 600 Menschen Aufnahme als Flüchtling gesucht, wobei man sagen muss, dass die meisten im Januar kamen. Danach war die Balkanroute dicht, und danach greift das EU-Türkei-Abkommen. Es kann sein, dass der Flüchtlingszustrom nach Europa, wenn das Mittelmeer wieder schiffbar wird, wieder größer wird und wir uns an der solidarischen Aufnahme zusätzlicher Flüchtlinge beteiligen müssen. Aber ich will damit sagen: Sie können doch heute noch gar nicht verlässlich sagen und schon gar nicht mit den Maßstäben, die einen Verfassungsverstoß rechtfertigen würden, mit wie viel Flüchtlingen und Flüchtlingsmehrkosten Sie in diesem Jahr tatsächlich rechnen!
Sie können auch gar nicht sagen, in welcher Höhe sich der Bund über das hinaus, was er bislang zugesagt hat, an diesen Kosten zu beteiligen bereit ist, weil dazu gerade eine Arbeitsgruppe der Ministerpräsidentenkonferenz mit dem Bund verhandelt. Das heißt, es gibt noch nicht einmal einen „dicken Daumen“, wie viel Geld wir in diesem Jahr nach diesen Anforderungen zusätzlich für die Aufnahme und Integration von Flüchtlingen aufwenden werden. Deswegen
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finde ich es unseriös, eine solche Zahl in die Haushaltsberatungen einzuführen. Sie muss falsch sein, sie wird falsch sein, und deswegen sollten wir sie im Parlament auch nicht beschließen, meine sehr verehrten Damen und Herren! Die CDU-Fraktion wird beantragen und wirbt schon heute dafür, dass wir in Anbetracht dieser von Ihnen angenommenen außergewöhnlichen Notsituation keinen Doppelhaushalt aufstellen. Denn wenn wir das schon für dieses Jahr nicht absehen können, wie wollen Sie denn das für nächstes Jahr prognostizieren? Wir werben dafür, dass wir bei dem Haushaltsaufstellungsverfahren, sofern Sie nicht in der Lage sind, das bis Juni auch entsprechend haushaltsstellengerecht zu beziffern, den Haushalt ohne die Flüchtlingsmehrkosten beschließen und wie alle anderen Länder auch schauen, wie die Entwicklung in diesem Jahr ist, und die notwendigen finanziellen Mittel dann im weiteren Haushaltsvollzug und/oder durch ein Nachtragshaushaltsverfahren zur Verfügung stellen. 15 andere Länder machen das so. Es gibt keine Begründung für einen Bremer Sonderweg. Wir als CDUFraktion werden dazu unsere Hand nicht reichen.
Im Übrigen kann ich diese Larmoyanz gegenüber dem Bund nicht verstehen. Ich weiß ja, was „Parteitagssprech“ ist. Da kann man auch einmal über das Ziel hinausschießen. Deshalb will ich jetzt zu schwarzen Nullen und roten Nullen an dieser Stelle gar nichts sagen, obwohl ich eine Priorität habe. Das sage ich auch ganz ehrlich. Wer sich aber die Strukturdaten des Haushalts vornimmt, sie sich anschaut und die Grundrechenarten beherrscht, kommt zu einem ganz anderen Ergebnis: Von den 4,4 Milliarden Euro Einnahmen, Frau Senatorin, die Sie für dieses Jahr zu erwirtschaften beabsichtigen – vorbehaltlich der neuen Steuerschätzung –, stammen allein 800 Millionen Euro unmittelbar vom Bund. Jeden fünften Euro, den wir hier in unserem Bundesland ausgeben, erwirtschaften wir nicht selbst, sondern bekommen ihn vom Bund: 270 Millionen Euro Bundesergänzungszuweisung, 300 Millionen Euro Konsolidierungshilfe, 10 Millionen Euro Finanzhilfe für Seehäfen, 14,1 Millionen Euro Kommunalentlastung durch Koalitionsvertrag, 9,7 Millionen Euro Kommunalinvestitionsförderungsgesetz, 97,5 Millionen Euro Bundesleistung für Grundsicherung im Alter, 26,7 Millionen Euro Bundesmittel im Hochschulpakt, 17,1 Millionen Euro BAföG-Mittel, 6,9 Millionen Euro Betriebskostenzuschuss KitaAusbau, 11,1 Millionen Euro Entflechtungsgesetz, 1,4 Millionen Euro Versteigerungserlöse Mobilfrequenzen! Das von Ihnen abgelehnte Asylverfahrensbeschleunigungsgesetz bringt uns im Jahr 2016 auch noch einmal 29 Millionen Euro! Meine Damen und Herren, das macht zusammen 802,3 Millionen Euro, die der Bund im Jahr 2016 dem Bundesland Bremen aus eigenen Mitteln zur Verfügung stellen wird. In Anbetracht solcher Zahlen ist
es nicht angezeigt, mit dem Finger immer nur auf den Bund zu zeigen, sondern man muss sich auch einmal überlegen, welche Anstrengungen man selbst unternommen hat, um die eigenen Einnahmen zu sichern.
Wir sind dafür, mit dem Bund darüber zu verhandeln, dass er zusätzliches Geld für die Flüchtlinge zur Verfügung stellt.
Verstehen Sie uns nicht falsch! Auch für die CDU – wir sind ehrbare Kaufleute – gilt: Das meiste zählt! Aber das meiste erreicht man nicht, indem man erst einmal seinen Vertragspartner beschimpft und beleidigt. Das meiste erreicht man dann, wenn man Vertrauen stärkt und sich an Verabredungen hält. Aber genau das Gegenteil machen Sie, meine sehr verehrten Damen und Herren!
Frau Senatorin, Sie messen Ihren alleinigen Erfolg ausschließlich an der Tatsache, dass es Ihnen gelingt, jedes Jahr vom Bund 300 Millionen Euro zu bekommen.
Das ist für Sie immer so das Argument: Solange wir das kriegen, ist ja alles „tutti frutti“. – Es gehört schon etwas dazu, dem Parlament nicht zu sagen, was der Stabilitätsrat eigentlich zum Sanierungsbericht Bremens beschlossen hat. Ich will das einmal aus der Sitzung des Stabilitätsrats vom 9. Dezember 2015 zitieren. Dabei geht es nur um Bremen. Da heißt es unter „Bewertung des aktualisierten Sanierungsprogramms“:
„Entscheidend trägt hierzu mit einem erwarteten Entlastungsvolumen von rund 27 Millionen Euro die ab 2016 wirksame Erhöhung des Grundsteuerhebesatzes der Stadt Bremen bei.“
„Weitere neue beziehungsweise neu quantifizierte Sanierungsmaßnahmen sind die Implementierung eines systematischen Forderungsmanagements im Rahmen des Programms ‚Neuordnung der Aufgabenwahrnehmung‘ (5,3 Millionen Euro) und die verzögerte Übertragung des Tarifabschlusses 2015/2016 auf den Beamtenbereich (6,8 Millionen Euro). Bremen weist zudem auf weitere in der Koalitionsvereinbarung angekündigte Sanierungsmaßnahmen hin, die allerdings“ – jetzt kommt es! – „noch nicht konkretisiert und quantifiziert sind.“
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„Von den 33 Projekten des Programms zur Neuordnung der Aufgabenwahrnehmung sind im Bericht weiterhin nur für wenige Projekte finanzielle Auswirkungen quantifiziert und als dauerhaft eingestuft. Das für 2016 ausgewiesene Gesamtentlastungsvolumen beträgt 10,5 Millionen Euro. Es zeichnet sich ab, dass nennenswerte (Netto-)Entlastungen durch weitere Projekte frühestens mittelfristig zu erwarten sind. Zu beachten ist, dass eine Reihe von Projekten keine zusätzlichen Entlastungswirkungen generieren dürften, sondern der Umsetzung bereits vereinbarter Sanierungsmaßnahmen (Personaleinsparun- gen, globale Reduzierung der konsumtiven Ausga- ben) dienen.... Die zusätzlichen Entlastungen seit Herbst 2013 werden jedoch überwiegend auf der Einnahmenseite erzielt. Die auf der Ausgabenseite ausgewiesenen Sanierungsbeiträge sind hingegen insgesamt zurückgegangen, vor allem weil die bei den Personalausgaben und den Sozialausgaben ausgewiesenen Entlastungswirkungen weit hinter den damaligen Planungen zurückbleiben.“
Meine Damen und Herren, der Bund stellt dem Senat eben keinen uneingeschränkten Bestätigungsvermerk aus, sondern er hebt den Zeigefinger und sagt ziemlich deutlich: Das, was ihr bisher vorgelegt habt, reicht hinten und vorne nicht, um auf der Ausgabenseite euren Haushalt zu sanieren. Strengt euch an und legt endlich etwas Neues vor!
Es ist völlig unverständlich, wie Sie dann durch das Land laufen und sagen können: Alles „tutti frutti“, wir kriegen die 300 Millionen und in den nächsten Jahre auch! Es ist, offen gesagt, ein öffentliches Betrugsmanöver,
In Ordnung! Es ist ein versuchtes Betrugsmanöver. Wir haben es ja entdeckt, und deswegen sind der Tatbestand und der Erfolg nicht eingetreten.
Wenn Sie mit Herrn Dr. Sieling sprechen wollen, können Sie es gern tun. Der Empfänger des Kanzlerbriefs ist Bürgermeister Scherf, wenn ich mich richtig erinnere, Frau Linnert! Das will ich an der Stelle auch einmal sagen: Es ist erstaunlich, mit welcher Respekt
losigkeit Sie sich als SPD aus der Regierungsverantwortung in der gemeinsamen Zeit mit der CDU ziehen und so tun, als ob es sie nie gegeben habe. Selbstverständlich stehen Sie auch für diese Zeit in der Verantwortung, sehr geehrter Herr Bürgermeister Dr. Sieling! Sie waren auch Parlamentarier.
Ob Ihnen das gefallen hat, ist ehrlicherweise wurscht! Mich fragt auch keiner, ob es mir mit Ihnen gefallen hat!
Meine Damen und Herren, zurück zu den Fakten! Wenn man über die Sanierung des Haushalts redet und der Bund einem attestiert, dass das, was man bisher geleistet und vorgelegt hat, nicht reicht, dann muss man sich vielleicht einmal die lange Linie Ihrer langjährigen Finanzverantwortung für Bremen anschauen. Frau Linnert, was hat sich seit dem Jahr 2008 – das ist das erste Jahr, für das Sie vollständige Haushaltssouveränität und verantwortung auch als Person in Anspruch genommen haben – bis zum Abschluss dieses Doppelhaushalts, den Sie für 2016/2017 beabsichtigen, eigentlich getan?
(Abg. Frau Dr. Schaefer [Bündnis 90/Die Grünen]: Keine Fehlinvestitionen für Markthallen und so wei- ter!)
Die Schulden haben sich von 14,2 Milliarden Euro – Stand 2007 – auf 20,7 Milliarden Euro erhöht. 6,5 Milliarden Euro neue Schulden haben Sie in Ihrer Regierungsverantwortung zu verantworten, Frau Linnert! Jeder vierte Euro Schulden, den Bremen hat, trägt Ihre persönliche Unterschrift. Wie Sie sich dann hier vorn hinstellen und sagen können: „Wir haben die Verschuldenspolitik gestoppt!“, das kann man nicht erklären. Es entspricht in keinem Fall der Wirklichkeit. Noch nie hat eine Finanzsenatorin oder ein Finanzsenator in Bremen in so kurzer Zeit so viel Schulden aufgehäuft wie Sie. Sie sind das Problem der Neuverschuldung und nicht die Lösung.