Protocol of the Session on March 17, 2010

Antrag der Fraktionen der SPD und Bündnis 90/ Die Grünen vom 16. März 2010 (Drucksache 17/1225)

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Strafrechtliche und zivilrechtliche Verjährung bei sexuellem Missbrauch von Kindern abschaffen

Antrag des Abgeordneten Timke (BIW) vom 16. März 2010 (Drucksache 17/1224)

Dazu als Vertreter des Senats Herr Staatsrat Prof. Stauch.

Die gemeinsame Beratung ist eröffnet.

Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, ich wurde gerade gefragt, ob wir die Redezeit, weil wir jetzt drei Anträge haben, verlängern und nach Geschäftsordnung verfahren. Besteht hierüber Einverständnis im Haus?

(Zurufe: Ja!)

Dann verfahren wir so!

Das Wort erhält Frau Kollegin Motschmann.

Herr Präsident, meine Damen und Herren! Keine Debatte beschäftigt die Öffentlichkeit in den letzten Wochen mehr als das Thema sexueller Missbrauch an Kindern – zu Recht! Wer sich an Kindern vergreift, bricht ein letztes Tabu.

(Beifall bei der CDU und beim Bündnis 90/ Die Grünen)

Darum muss endlich mit dem Verschweigen, Verdrängen und Vertuschen Schluss sein. Wir sind es den Kindern schuldig, dass wir aufklären und handeln. Wir sind es den Kindern schuldig, dass alles getan wird, dass derartige Missbrauchsfälle in der Zukunft nicht weiter geschehen können.

Der sexuelle Missbrauch von Kindern ist ein schweres Verbrechen. Das Vertrauen, das Kinder Erwachsenen entgegenbringen, wird zerstört. Das Zutrauen der Kinder wird missbraucht, ihre Abhängigkeit und Anhänglichkeit sowie ihre Schutzbedürftigkeit werden schamlos ausgenutzt. Wer seinen Erziehungsauftrag missbraucht, indem er sich an Kindern sexuell vergeht, hat seinen Beruf verfehlt und verdient null Toleranz.

(Beifall bei der CDU, bei der SPD und beim Bündnis 90/Die Grünen)

Wer sich an Kindern vergangen hat, darf nicht einfach versetzt werden, um an einem anderen Ort andere Kinder wiederum sexuell zu missbrauchen. Hier hat die katholische Kirche schwere Schuld auf sich geladen.

(Beifall bei der CDU, bei der SPD und beim Bündnis 90/Die Grünen)

Aber auch Willi Lemke berichtet in seinem Buch, dass er einen Sportlehrer, der zwei Schülerinnen von 13 und 14 Jahren in sein Bett mitnahm, ihnen ein Glas Sekt angeboten und sie nach Aussagen der Mädchen unsittlich berührt hatte, nicht aus dem Schuldienst entlassen, sondern nur an eine andere Schule versetzen konnte. So gestern im „Weser-Kurier“ nachzulesen! Ein bedrückender Gedanke, dass so ein Lehrer in Bremen weiter unterrichten kann!

(Beifall bei der CDU, bei der SPD und beim Bündnis 90/Die Grünen)

Dass so viele Fälle in katholischen Einrichtungen sowie einer reformpädagogischen begangen wurden, kann man nur mit Bestürzung zur Kenntnis nehmen. Anspruch und Wirklichkeit klaffen hier krass auseinander und beschädigen das Ansehen der Institutionen erheblich. Trotzdem werden Sie mir abnehmen, dass ich die genannten Institutionen grundsätzlich nicht infrage stellen möchte.

Bernd Ulrich, selbst ehemaliger Schüler des Berliner Canisius-Kollegs schreibt in „Die Zeit“: „Der katholische Missbrauch und der reformpädagogische Missbrauch sind zwei Verkehrtheiten, die sich ineinander spiegeln.“

Warum fordert die CDU-Fraktion die Abschaffung der strafrechtlichen Verjährung? Dafür gibt es zwei

Gründe: Erstens, juristisch sind die Missbrauchsfälle verjährt, die Opfer jedoch leiden ihr Leben lang.

(Beifall bei der CDU, bei der SPD und beim Bündnis 90/Die Grünen)

Alle Fälle, die zurzeit bekannt werden, liegen Jahrzehnte zurück, sie sind straf- und zivilrechtlich verjährt. Nicht verjährt sind jedoch die Folgen für die Opfer, sie leiden noch heute, viele Jahre, mitunter Jahrzehnte nach dem Missbrauch, unter schweren psychischen Schäden, unter seelischen Verletzungen. Sie sind nachhaltig traumatisiert, oft ein Leben lang. Die Täter hingegen können nicht mehr zur Rechenschaft gezogen werden, ihre Verbrechen sind verjährt. Wenn dann auch die Kirche noch einen Mantel des Schweigens, Verdrängens und Vertuschens über diese Fälle deckt, bricht für die Opfer noch einmal eine Welt zusammen.

(Beifall bei der CDU und beim Bündnis 90/ Die Grünen)

Der zweite Grund für unseren Antrag: Erst nach vielen Jahren können Missbrauchsopfer über ihr Leid sprechen. Alle Missbrauchsfälle, die wir diskutieren, haben eines gemeinsam: Die Opfer konnten erst sehr spät, mitunter Jahrzehnte danach, über das reden, was ihnen widerfahren ist. Das erlebte, erlittene Leid wird weggeschlossen. Wann ein Opfer den Schlüssel in die Hand nimmt, um diese psychische, seelische Verschlusssache vor sich selbst, vor anderen und der Öffentlichkeit zu öffnen, weiß niemand und kann auch niemand wissen, nicht einmal der Betroffene selbst, auch kein Psychologe.

Hier liegt der Grund dafür, warum die derzeitigen Verjährungsfristen realitätsfremd sind. Auch der Vorschlag der bayerischen Justizministerin Merk, eine Verjährungsfrist von 30 Jahren, wäre aus meiner Sicht eine willkürliche Setzung. Natürlich liegt in der Aufhebung der strafrechtlichen Verjährungsfrist allein nicht die Lösung des Problems. Mir ist auch sehr wohl bewusst, warum sich Juristen im Vergleich zu den Verjährungsfristen anderer Straftaten mit der Verlängerung oder Aufhebung der Fristen schwertun, das wird auch gleich die Debatte zeigen, vermutlich jedenfalls. Dennoch, man würde den Opfern die Zeit geben, die viele von ihnen brauchen, bis sie reden können.

Im Übrigen müssen natürlich die Ursachen des Missbrauchs ebenso geklärt werden wie die notwendigen Konsequenzen, denn eines ist doch wohl klar: Nichts wäre schlimmer, als dass die große mediale Aufmerksamkeit, die wir augenblicklich erleben, verebbt, nichts konkret passiert und alles beim Alten bleibt. Dann haben die Betroffenen endgültig und abschließend verloren. Verloren haben aber auch die Kinder, die gegenwärtig und in Zukunft geschützt

werden müssen, und das ist unser Auftrag. Man muss es den Tätern schwermachen – so schwer wie überhaupt möglich –, sich an Kindern sexuell zu vergreifen, aber das, was wir an erster Stelle tun müssen, ist: Wir müssen unsere Kinder schützen.

(Beifall bei der CDU, bei der SPD und beim Bündnis 90/Die Grünen)

Die Ursachen können in einer kurzen Parlamentsdebatte nicht ausgelotet werden. Die erste Frage, die sich stellt: Begünstigt große Nähe den Missbrauch? Die Nähe in Klöstern, Schulen, Chören, aber auch in der Familie ist sicherlich ein Problem unter anderen. Die meisten Missbrauchsfälle finden in der Familie statt. Trotzdem wird niemand ernsthaft fordern, die Familie abzuschaffen. Begünstigt zu große Strenge und Autorität den Tabubruch oder zu große Freizügigkeit? Beides wird man schonungslos untersuchen müssen, beide Ursachen sind sicherlich nicht von der Hand zu weisen.

Im Hinblick auf eine sehr freie Sexualmoral räumt Daniel Cohn-Bendit ein, ich zitiere aus „Die Zeit“: „Aber wir haben im Überschwang auch Fehler gemacht, die man korrigieren muss. Wir haben keine klaren Grenzen gezogen.“ Dort, wo die Grenzen zu eng gezogen wurden und werden, in der katholischen Sexualmoral, wünscht man sich ein vergleichbares Eingeständnis von Fehlern und eine erkennbare Korrektur.

Ich kann nur jedem empfehlen, sich den Brief vorzunehmen, den Bischof Bode anlässlich des Missbrauchs geschrieben hat, der uns heute in der Andacht vorgelesen wurde. Er hat es in wünschenswerter Klarheit und, wie ich denke, sehr gut gemacht.

Die katholische Kirche wartet nicht auf Belehrungen von außen; auch ich will dieser Versuchung widerstehen. Man kann nur hoffen, dass die traurigen Missbrauchsfälle, die nicht nur in Deutschland, sondern überall auf der Welt zutage treten, zu einem intensiven und offenen Diskurs und zu Konsequenzen in der katholischen Kirche führen. Dazu gehört auch, dass die Diskussion über den Zölibat zugelassen und nicht von vornherein unterbunden und abgewürgt wird.

(Beifall bei der CDU, bei der SPD und beim Bündnis 90/Die Grünen)

Wer hier allerdings den einzigen Grund für die Missbrauchsfälle sucht, macht es sich zu einfach. Unbestreitbar ist, dass die zölibatäre Lebensform die betroffenen Männer vor enorme Herausforderungen stellt. Unbestreitbar ist jedoch auch, dass die allermeisten Mönche damit klarkommen, ohne sich an Kindern zu vergehen, sagt Bernd Ulrich in „Die Zeit“. Unbestreitbar ist aber auch, dass die Ehe kein Schaden

für das Pfarramt ist, das zeigt sich in der evangelischen Kirche. Die Ehe ist für den Pfarrer in jeder Hinsicht positiv zu bewerten.

(Beifall bei der CDU)

Die Ehe für Priester zu verbieten, ist auch deshalb problematisch, weil sie biblisch verankert ist. Warum also kann sich ein katholischer Pfarrer nicht frei entscheiden, ob er zölibatär leben möchte oder sich für die Ehe entscheidet? Im Übrigen war Petrus, auf dessen Stuhl der Papst sitzt, selbst verheiratet.

Abschließend möchte ich kurz die Konsequenzen sagen: Kinder müssen ermutigt werden, Missbrauch in Form von Gewalt oder sexuellem Missbrauch zu melden und darüber zu reden. Kein Missbrauchstäter darf sich in unserem Staat und in unserer Stadt sicher sein, dass er sein Leben lang unerkannt bleibt. Das setzt voraus, dass es nirgendwo, weder in der katholischen noch in der reformpädagogischen Einrichtung noch in unseren Schulen in Bremen Strukturen gibt, die das Verschweigen, das Verheimlichen, das Verdrängen begünstigen. Der runde Tisch von Familienministerin Christina Schröder ist sicherlich hilfreich, um Ursachen aufzuarbeiten.

Abschließend möchte ich betonen, dass die Aufhebung der Verjährungsfrist im Strafrecht den Opfern den zeitlichen Freiraum gibt, den sie brauchen, um sich zu offenbaren. Ein Klima der Offenheit ist in dieser Situation in unserem Land und in unserer Stadt gefragt. Dafür wollen wir uns mit den Initiativen, die wir hier gemeinsam einbringen, einsetzen. Wir stimmen dem Antrag der Koalition zu, aber wir lassen unseren eigenen weitergehenden Antrag zuvor abstimmen. – Vielen Dank!

(Beifall bei der CDU und beim Bündnis 90/ Die Grünen)

Als nächste Rednerin hat das Wort die Abgeordnete Frau Peters-Rehwinkel.

Herr Präsident, liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich freue mich schon, Frau Motschmann, dass Sie gerade doch sehr offen zu dem Thema Kirche gekommen sind, denn, ganz ehrlich gesagt, ich habe das in Ihrem Antrag vermisst. Das ist auch ein zentraler Punkt, warum überhaupt ein solcher Aufruhr da ist, der meines Erachtens leider erst jetzt in diesem Ausmaß da ist, weil dieses Thema nicht neu ist. Allein die Tatsache, dass diese Opfer heute erwachsen sind, wie Sie mir in diesem einen Fall auch schilderten – die Dame ist schon 50 Jahre alt –, ist das kein Thema, das erst seit ein ––––––– *) Von der Rednerin nicht überprüft.

paar Tagen aufgekommen ist. Ich finde es schön, dass Sie wenigstens noch diesen Weg gefunden haben, Kirche ist daran maßgeblich beteiligt.

Wir, die Koalition, haben hier einen eigenen Antrag vorgelegt, und das hängt damit zusammen, dass wir in dieser Angelegenheit einen anderen Weg gehen, denn pauschal die Verjährungsfrist aufzuheben – das dürfte den Juristen in Ihren Reihen klar sein –, geht so nicht. Die Verjährungsfrist hängt vom Strafmaß ab, und das ist der Ansatz, den wir hier gehen wollen, dass wir sagen, das Strafmaß ist doch wirklich der Punkt, der in diesem Deliktsfeld ganz genau anzusehen ist. Wenn man sich überlegt, dass bei einigen Taten zum Teil sein kann, dass nur wenige Monate die strafrechtliche Konsequenz eines Verhaltens sind, dann ist das im Grunde beschämend und ein Schlag in das Gesicht für die Opfer, was wir nicht hinnehmen dürfen. Das dürfen wir nicht hinnehmen.

(Beifall bei der SPD, bei der CDU, beim Bünd- nis 90/Die Grünen und bei der LINKEN)

Insoweit ist das der Ansatz, mit dem wir uns beschäftigen müssen. Das Strafgesetzbuch gibt uns ja auch in Paragraf 46 die Möglichkeit zu schauen, wie die Folgen einer Tat sind; daran kann ich ansetzen, wenn es um das Strafmaß geht. Leider ist das nur dieser einzige Punkt, der auf diese Opferbefindlichkeit eingeht, denn alle anderen Dinge in diesem Paragrafen sind täterbezogen. Man sollte sich dieses kleine Detail herausnehmen und sagen, die Opfer sind so schwer geschädigt, dass man das nicht in Worte fassen kann.

Ich würde an Herrn Tittmann, der bestimmt auch gleich etwas sagt, die Bitte richten: Werfen Sie Ihre Textbausteine heute einfach einmal weg, und reden Sie ganz normal zu diesem Thema!

(Beifall bei der LINKEN – Zuruf des Abg. T i t t m a n n [parteilos])