Herr Präsident, meine Damen und Herren! Die Feststellung, dass sieben Jahre nach der Einführung der Pflegeversicherung die Probleme dieser Sozialversicherung immer größer geworden sind, ist in der Tat völlig, aber auch völlig zutreffend. Tatsache ist doch, es gibt überforderte Helfer, hilflose Patienten und Chaos bei den Pflegediensten. Es herrschen dramatische, unsoziale Zustände in den Altenheimen. Mindestens 10 000 Menschen sterben jährlich an mangelhafter Versorgung, mehr als die Hälfte der Heimbewohner ist mangeloder unterernährt. Über dieses Thema sollten Sie sich nicht lustig machen!
Das ist zu ernst! Meine Damen und Herren, die Lage ist so dramatisch wie nie zuvor. Der kürzlich in Berlin vorgestellte so genannte deutsche Altenpflege-Monitor bestätigt dies und lässt zudem erkennen, dass fast zwei Drittel der Bevölkerung im Alter nicht ins Pflegeheim wollen. Sie haben Angst vor der Endstation, und viele ältere Menschen begehen aus diesem Grund sehr oft Selbstmord. Das ist der eigentliche politische Skandal.
Aus der Studie geht hervor, die Altenpflege ist für sage und schreibe 68 Prozent der Befragten einfach zu teuer, und 66 Prozent der Befragten beklagen zu Recht, dass die Pflegekräfte viel zu wenig Zeit hätten. 47 Prozent erklären, dass die Pflegekräfte zu schlecht bezahlt würden, und sogar 30 Prozent sagten aus, dass sie davon überzeugt sind, dass die Pflegebedürftigen oft nur mit Medikamenten ruhig gestellt werden.
Meine Damen und Herren, in der Antwort des Senats auf die Große Anfrage der CDU-Fraktion wird unter anderem die demographische Entwicklung älterer Menschen mit zunehmender pflegerischen Betreuung erwähnt. Tatsache ist aber auch, mit dem Pflegeversicherungsgesetz hat es eine deutliche Öffnung eines rein gewinnorientierten Marktes gegeben, die sehr bedenklich ist. Es gibt bis jetzt keine effektiven Qualitätskontrollen, um die schwarzen Schafe, die sich gerade auf diesem Markt tummeln, vom Markt zu nehmen. Hier ist Handlungsbedarf angesagt. Das auf Kosten und zu Lasten kranker, alter Menschen ist eine Schande sondergleichen!
Wenn hier in der Anfrage der CDU von der defizitären Finanzsituation der Pflegeversicherung die Rede ist, dann muss dazu gesagt werden, dass eine familienfreundliche Politik, die der Geburtenarmut entgegenwirkt, allemal billiger kommt als der Kollaps der sozialen Systeme durch Bruch des Generationenvertrags. In Zukunft werden auf jeden Fall immer mehr Menschen auf soziale Fürsorge angewiesen sein. So sprechen auch diese Zahlen eine deutliche Sprache: Im Jahre 2050 wird die Hälfte der Bevölkerung bei uns älter sein als 50 Jahre, ein Drittel, 21,3 Millionen, über 60 Jahre. Die Zahl der Pflegebedürftigen wird in den nächsten 20 Jahren von 1,89 auf rund drei Millionen anwachsen. Es ist eine Schande, dass verantwortliche Politiker auf Grundlage dieser erschreckenden Zahlen nicht die geringsten Konsequenzen ziehen.
Meine Damen und Herren, laut Altenpflege-Monitor haben über 60 Prozent der Befragten bisher keine Vorsorge getroffen. Sie vertrauen offenbar immer noch auf die da oben, das wundert mich auch. Aber die Mehrheit der Betroffenen kann sich keine Abstriche vom Lebensstandard mehr erlauben. Es geht nicht mehr! Darum ist es ihnen finanziell auch gar nicht mehr möglich, etwa eine Zusatzpolice zur Pflegeversicherung abschließen zu können. Das ist die Realität und nichts anderes!
Meine Damen und Herren, es steht jetzt schon fest, dass es eine sozial gerechte, echt effektive und umfassende Reform der Pflegeversicherung, die diese Bezeichnung auch verdient, unter Rotgrün nicht geben wird. Im Gegenteil, die Bearbeitungszeiten für das Pflegegeld und so weiter sind eigentlich viel zu lang. Man peilt erneut Beitragserhöhungen zum Ausgleich des Defizits in der Pflegekasse an. Es bleibt also mit Sicherheit beim antisozialen Kurs zu Lasten der Bürgerinnen und Bürger. Was Bremen betrifft, ist die von Frau Senatorin Röpke gestartete Aktion eine reine Politpropagandaaktion, die auch nicht einmal im Ansatz einen Wandel zum Wohle der Bürger in Bremen und Bremerhaven bewirken wird, eine Politpropagandaaktion, die außer wahrscheinlich 40 000 bis 50 000 Euro Kosten nichts bringen wird.
Meine Damen und Herren, aus DVU-Sicht ist es unzweifelhaft, dass ein grundsätzlicher und durchgreifender Kurswechsel auch bezüglich der pflegerischen Versorgung bedürftiger Menschen getroffen werden muss. Die Betreuung älterer Menschen ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe unter Einbeziehung von Hilfs- und Betreuungsleistungen staatlicher Institutionen, freier Träger und Organisationen sowie der Förderung individueller familiärer Selbsthilfe.
Darüber hinaus ist die Errichtung und Erweiterung von Lehrstühlen für Altersheilkunde in allen medizinischen Fachbereichen zu fördern, um der Altersmedizin einen höheren und angebrachten Stellenwert zu verleihen. Mehr Solidarität mit Pflegebedürftigen unseres Volkes ist das Gebot der Stunde. Dem Problem der Vereinsamung gerade älterer Menschen muss zudem durch eine Politik der sozialen Gerechtigkeit begegnet werden, und die sehe ich noch lange nicht!
Herr Präsident, liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich denke, wir sind uns alle darüber einig, dass die Pflegeversicherung zu der Zeit, als sie eingeführt wurde, genau richtig war. Es ist das unschöne Wort Teilkaskoversicherung genannt worden.
Ja, aber im Zusammenhang mit Menschen ist es eigentlich nicht schön. Ich habe meinen Pkw teilkaskoversichert.
Hätten wir die Pflegeversicherung nicht, und da schaue ich einmal zur Sozialsenatorin hinüber, dann, glaube ich, wären Ihre Sorgen noch viel größer. Wir ––––––– *) Vom Redner nicht überprüft.
haben in der letzten Legislaturperiode hier diskutiert, wie die Entlastung der Kasse des Landes Bremen durch die Pflegeversicherung ausgefallen ist. Wir sind schon fast pleite, dann wären wir noch, ja, pleiter kann man nicht sagen,
dann wären wir schon einen Schritt weiter, wenn wir die Pflegeversicherung nicht hätten, meine Damen und Herren, darüber müssen wir uns alle im Klaren sein!
Frau Linnert, dass Kinder für ihre Eltern aufkommen und Eltern für ihre Kinder aufkommen, ist für Christdemokraten ganz selbstverständlich. Wir haben das Pflegeversicherungsgesetz auch niemals als Erbschaftssicherungsgesetz verstanden. Der Staat bezahlt die Pflege, und die Kinder gehen fröhlich mit der Erbschaft davon, wenn sie die Trauer überwunden haben, das kann es nicht sein. Das ist kein Verständnis von christlich-sozialer Politik.
Herr Brumma, der runde Tisch ist sicherlich eine gute Idee, wenn er dann zu irgendetwas führt. Wir würden uns daran selbstverständlich auch beteiligen. Bei allen Unterschieden eint uns ja doch das eine, dass wir sagen, es muss in der Pflege grundsätzlich etwas geschehen. Wir können nicht auf der einen Seite bedauern, dass wir ein überalterndes Volk sind, anderen Völkern in Europa geht es ähnlich. Aber, Frau Linnert, dazu muss ich noch etwas sagen. Frankreich hat es geschafft, die Geburtenrate wieder zu steigern auf über zwei Kinder. Die Franzosen waren in einer ähnlichen Situation wie wir, doch die haben das geschafft.
Herr Brumma, zu dem jetzt beschlossenen Gesetz im Bundestag wegen der Pflegeversicherung: Eines ist völlig klar, mit dem Beschlossenen ist der Gang zum Bundesverfassungsgericht schon wieder vorprogrammiert, weil es Familien nicht entlastet. Das ist der falsche Weg. Woher Sie die vielen hundert Milliarden haben, die die CDU fordern will, das weiß ich nicht, mir liegen solche Zahlen nicht vor.
Ich kann Ihnen nur sagen, der Vorschlag von Andreas Storm, um 0,1 Prozentpunkte zu erhöhen, würde bei einem Spitzensatz zur Pflegeversicherung eine Erhöhung von 3,49 Euro bedeuten, und da die CDU vorschlägt, fünf Euro pro Kind abzuziehen, wäre das bei einem Kind in der Spitzenlage immer noch eine Entlastung von 1,51 Euro. Das ist nicht viel, aber wäre immerhin noch eine Entlastung und würde dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts mehr entgegenkommen als das, was in Berlin beschlossen worden ist.
Meine Damen und Herren, wir werden das Thema Pflege hier noch häufiger auf den Tisch bekommen. Eine Initiative ist von der Koalition, das habe ich angedeutet, bereits eingereicht worden. Aber es
Herr Präsident, meine Damen und Herren! Es ist hier ja schon gesagt worden, dass sich unsere Gesellschaft verändern wird, sehr deutlich verändern wird, was die Zusammensetzung der Altersstruktur betrifft. Wir werden eine ältere Gesellschaft werden, in der die Mehrheit die älteren Menschen sind. Das ist in der Tat, das sehe ich auch so, Frau Linnert, kein Grund für Angst. Darin können auch Chancen bestehen. Aber wir müssen uns darüber klar sein, dass sich unsere Gesellschaft wirklich verändern wird.
Es wird eine andere Gesellschaft sein, und viele von uns sind darauf noch überhaupt nicht vorbereitet. Das, was immer unter demographischer Wandel diskutiert wird, wird an vielen Stellen einfach noch verdrängt, nicht wahrgenommen, oder es wird so getan, als würde das irgendwie an uns vorbeigehen. Es wird nicht an uns vorbeigehen! Es wird kommen, und wir werden auch gar nicht die Möglichkeit haben, selbst wenn wir jetzt alle Anstrengungen unternehmen, diese Lücke in der Generationenentwicklung wieder aufzuholen. Es wird nicht funktionieren, wir müssen uns also darauf einstellen.
Das trifft natürlich auch insbesondere die Frage, wie unsere sozialen Sicherungssysteme sich dieser neuen Herausforderung stellen. Da fehlen uns an vielen Stellen, nicht nur bei der Pflegeversicherung, in der Tat noch die richtigen Antworten.
Ich möchte Herrn Oppermann ausdrücklich zustimmen, dass über die Pflegeversicherung sehr viel erreicht worden ist. Sie hat die Pflegesituation in unserem Land deutlich verbessert, wenn auch bei vielen Menschen in der Tat der Eindruck entstanden ist, Frau Linnert hat es gesagt, dass die Pflegeversicherung alle Risiken abdeckt. Das ist nicht so, darauf hätte die Politik vielleicht noch deutlicher hinweisen müssen. Es ist aber trotzdem eine Versicherung, die diverse Leistungen erbringt, auch die Angehörigen in die Lage versetzt, die häusliche Pflege besser durchzuführen und für viele gute individuelle Lösungen sorgt. Immerhin sind es in unserem Land zwei Millionen Menschen, die diese Leistungen in Anspruch nehmen.
Die Pflegeversicherung, das sollten wir auch nicht vergessen, hat deutlich dazu beigetragen, dass Menschen in wesentlich geringerem Umfang als vorher in die Sozialhilfe gedrängt werden. Auch das schafft ein Stück Sicherheit.
Aber wir haben natürlich, das ist schon gesagt worden, dringenden Handlungsbedarf. Die kritische Finanzsituation der Pflegeversicherung, allein in den letzten drei Jahren Defizite, die konjunkturelle Einnahmeschwäche, das ist ein wesentlicher Grund. Hinzu kommt, dass die Beiträge seit Einführung der Pflegeversicherung unverändert geblieben sind. Das wiederum führt zu steigendem Zuzahlungsbedarf auch in der Sozialhilfe.
Die demographische Entwicklung ist schon angesprochen worden. Es ist wirklich dramatisch, wenn man sich vor Augen hält, dass sich bis zum Jahr 2050 die Zahl der Menschen, die in der Pflege sein werden, verdoppelt, auch vor dem Hintergrund, dass sich die Zahl der Menschen, die 2050 älter als 80 Jahre sein werden, verdoppeln wird. Verdoppeln wird sich im Übrigen auch die Zahl der Demenzkranken. Schon jetzt sind 1,2 Millionen Menschen an Demenz erkrankt. Was das im Jahr 2050 bedeutet, kann man sich in etwa vorstellen. Gerade für diese Gruppe gilt es, besondere Anforderungen in der Betreuung und Pflege zu schaffen.
Die Ziele der Pflegeversicherung sind, das muss man auch eingestehen, an vielen Stellen nicht so realisiert worden, wie das im Gesetz angelegt worden ist. Der Vorrang häuslicher Pflege vor stationärer Pflege gerät leider immer mehr in den Hintergrund. Wir haben jetzt schon ein überproportionales Wachstum in der stationären Pflege zu verzeichnen. Auch der Vorrang Prävention und Rehabilitation, im Gesetz festgelegt, hat sich leider in der Realität nicht grundlegend durchsetzen lassen.
Wir brauchen also eine grundsätzliche Reform der Pflege, und da ist in der Tat die Frage zu stellen, was unserer Gesellschaft die Pflege wert ist. Da kann, das sage ich auch ausdrücklich, die Berücksichtigung der Kindererziehung, jetzt auf der Basis des Bundesverfassungsgerichtsurteils, von der Bundesregierung auf den Weg gebracht, wirklich nur ein allererster Schritt sein. Da können wir nicht stehen bleiben. Das ist im Übrigen auch die Auffassung der Sozialminister auf der A-Länder-Seite.
Wir brauchen dringend Regelungen für die Demenzkranken, wir brauchen dringend Regelungen, um die häusliche Pflege weiter zu stärken. Wir müssen besser werden in den Übergängen vom Krankenhaus in die pflegerische Versorgung. Die Institutionen müssen besser zusammenarbeiten. Wir müssen auch etwas Neues ausprobieren, zum Beispiel die persönlichen Budgets erproben. Wir müssen auch neue Wege gehen, wie zum Beispiel das, was hier in Bremen, finde ich, sehr gut läuft, mit Wohngemeinschaften für Demenzkranke. Die Woge ist ein solches Beispiel. Das müssen wir stärker unterstützen.
Dabei bin ich insgesamt sehr froh, dass alle heute gesagt haben, dass die Pflege auch ein Wirtschafts
faktor ist, auch ein Faktor in Bremen und Bremerhaven für Beschäftigung, und zwar sichere Beschäftigung, weil die Menschen an der Stelle wirklich gebraucht werden. Wir haben hier in Bremen und Bremerhaven allerdings schon jetzt gute Angebote. Das Gute macht vor allem die Verankerung in den Stadtteilen aus, dass sie nicht irgendwo am Stadtrand sind, sondern mitten in der Stadt, mitten im Stadtteil, so dass die Menschen auch die Möglichkeiten haben, hier Kontakte und Nachbarschaften zu pflegen.
Das ist auch etwas, worüber wir uns noch Gedanken machen, wie wir Nachbarschaften stärker einbeziehen, auch vor dem Hintergrund der demographischen Entwicklung. Wir haben immer mehr ältere Menschen, die auch noch etwas tun wollen, die sich einbringen wollen. Vielleicht wäre das ja auch noch eine Möglichkeit, darüber noch einmal verstärkt nachzudenken, wie man Netzwerke innerhalb Bremens und Bremerhavens schaffen kann.
Ein weiterer Punkt, der mir noch sehr wichtig ist! Wir sprechen immer von einer familienfreundlichen Gesellschaft. Wir wollen familienfreundliche Städte Bremen und Bremerhaven. Dabei denken wir in erster Linie immer an die Kinder. Aber es ist genauso wichtig, an die alten Menschen zu denken, die unsere Unterstützung in der Pflege brauchen, sei es im Heim oder zu Hause.
Auch da sind Unternehmen gefordert, diesen Aspekt zum Beispiel in die Arbeitszeitregelung einzubeziehen. Da haben wir noch viel zu tun, um diese Möglichkeiten zu erörtern und miteinander zu diskutieren.
Aber das sind alles Chancen, die ich sehe, die jetzt noch einmal aufgegriffen werden. Ich finde es sehr gut, Herr Brumma, wenn Sie diesen runden Tisch initiieren. Unser Ressort ist gern dabei. – Danke schön!
Die Bürgerschaft (Landtag) nimmt von der Antwort des Senats auf die Große Anfrage der Fraktion der CDU Kenntnis.