Protocol of the Session on October 15, 2015

Die Kanzlerin hat sich im entscheidenden Augenblick auf die Seite der Humanität gestellt und mit ihr Hunderttausend andere hauptamtliche und ehrenamtliche Helfer und Helferinnen, die in einem bisher nicht da gewesenen Ausmaß Empathie zeigen und tatkräftige Hilfe leisten. Ich sage Ihnen, Humanität hat nichts mit Gefühlsduselei zu tun. Humanität ist die Grundlage

des zivilisierten Zusammenlebens in unserer Gesellschaft. Wenn man den Begriff der Leitkultur, von dem Sie immer reden, bemühen will, sage ich Ihnen: Humanität und Nächstenliebe sind die Grundpfeiler unserer Leitkultur.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Humanität und Menschenliebe sind unsere Stärke, und noch eines: Humanität und Nächstenliebe kennen keine Obergrenze.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Was uns unsere Werte wirklich wert sind, zeigt sich am klarsten in einer Krisensituation. Hier zeigt sich, wie reif eine Gesellschaft ist und welche Kraft sie hat. Die entscheidende Frage ist doch, ob wir zu unseren Grundwerten und zu unseren Grundrechten auch dann stehen, wenn davon vielfach Gebrauch gemacht wird, oder ob wir dann einknicken und sagen, der Satz, dass politische Verfolgte Asyl genießen, war nicht so gemeint. Leben wir unsere Werte auch dann, wenn es schwierig wird? Können wir unsere Offenheit und die europäische Einbettung, für die wir jahrzehntelang gearbeitet haben, auch in Zeiten großer Fluchtbewegungen bewahren?

In solchen Situationen entscheidet sich, aus welchem Holz Politikerinnen und Politiker geschnitzt sind. Ist jemand ein Staatsmann oder eine Staatsfrau, tritt jemand als Demagoge auf, oder gefällt sich jemand darin, den Trotzkopf zu geben?

(Beifall bei den GRÜNEN und Abgeordneten der SPD)

Bayern ist ein starkes Land, und Deutschland ist es auch. Wir sollten diese Stärke zur Lösung der zweifellos großen Aufgabe mobilisieren. Wir sollten die konstruktiven und nicht die destruktiven Kräfte mobilisieren. Was Sie in der Regierung und Sie als CSUFraktion in den vergangenen Wochen demonstriert haben, ist allerdings genau das Gegenteil davon, konstruktive Kräfte zu mobilisieren. Was soll denn zum Beispiel die Panikmache, wie sie Frau Aigner betreibt, wenn sie von sieben Millionen Familiennachzüglern spricht? So etwas ist nicht nur falsch, so etwas ist unverantwortlich.

(Beifall bei den GRÜNEN – Dr. Florian Herrmann (CSU): Das ist halt einfach realistisch!)

Was helfen auch untaugliche Scheinlösungen wie die geplanten Haftanstalten, die Sie Transitzonen nennen? - Herr Seehofer, Sie haben vorhin gesagt, dass wir seit Anfang September ungefähr 300.000 Flüchtlinge aufgenommen haben. Jetzt stellen Sie sich ein

mal vor, dass nur ein Drittel von ihnen an der bayerisch-österreichischen Grenze ankommt. Wollen Sie sie dann in dieses Auffanglager stecken und versuchen, dort menschenwürdige und rechtsstaatliche Verhältnisse zu schaffen? -Wie so etwas gehen soll, müssen Sie mir noch verraten.

(Beifall bei den GRÜNEN und Abgeordneten der SPD)

Was sollen hysterische Drohungen mit einer Klage vor dem Bundesverfassungsgericht? - Sie klagen ja gegen sich selber. Ich möchte Sie an dieser Stelle auch daran erinnern, dass Sie in der letzten Zeit mit Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts nicht gerade gute Erfahrungen gemacht haben. Deshalb sollten Sie sich noch einmal überlegen, ob das die beste Adresse ist, um für Ihre politischen Projekte Unterstützung zu bekommen.

Was soll auch die Rede von Notwehr? - Ich habe schon oft gesagt, glaube aber, man kann es nicht oft genug sagen: Nicht wir sind es, die sich in Not und Gefahr befinden. Die Flüchtlinge fliehen vor Not und Gefahr und suchen bei uns Schutz. Diesen Schutz müssen wir ihnen geben.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Was sollen auch all die Drohungen gegen die eigene Kanzlerin oder auch gegen Österreich? Was soll das Geraune Ihres Justizministers, der sogar die Existenz unseres Staates in Gefahr sieht? - Aus Ihren immer abenteuerlicheren Drohgebärden spricht nur eines: pure Hilflosigkeit.

(Beifall bei den GRÜNEN und Abgeordneten der SPD)

Was Sie im Moment lautstark betreiben, ist keine konstruktive Problemlösung; es ist destruktive Panikpolitik. Angst und Panik mobilisieren aber keine Kräfte. Sie lähmen, sie schwächen, und sie führen dazu, dass jeder nur noch seine eigene Haut retten will. Wir brauchen aber mehr Solidarität auf allen Ebenen, auf allen Ebenen der Gesellschaft, auf der kommunalen Ebene, zwischen den Bundesländern und auch auf europäischer Ebene – mehr und nicht weniger Solidarität.

Wohin führt denn Ihre Logik, Ihre Abschottung? - Sie führt zum Ersten zu immer mehr Zäunen, zu immer höheren Zäunen und zu immer mehr Stacheldraht. Sie führt zu einer Aufrüstung an unseren Grenzen, die wir zum Glück eigentlich schon überwunden hatten. Sie kostet im Übrigen auch einen Haufen Geld, Geld, das wir viel sinnvoller für ganz konkrete Hilfe, den Aufbau professioneller Betreuungsstrukturen und für

die Integration einsetzen können. Ungarn zum Beispiel gibt nach Angaben von Amnesty International knapp 100 Millionen Euro für den Bau von Grenzzäunen und ganze 27 Millionen Euro für die Aufnahme von Asylsuchenden aus – ein Viertel für die Hilfe und drei Viertel für die Abschottung. Das ist aberwitzig.

(Beifall bei den GRÜNEN – Dr. Florian Herrmann (CSU): Für die Sicherung der Außengrenzen!)

Die Logik der Abschottung gefährdet zum Zweiten ein offenes und freies Europa. Schon bei den letzten EUWahlen, also schon lange vor den aktuellen Flüchtlingszahlen, sind nationalistische und populistische Parteien stärker geworden.

(Dr. Florian Herrmann (CSU): Weil Sie Problemlösungen verweigern!)

Mit der Griechenlandkrise wurden die antieuropäischen Töne – auch auf Ihrer Seite – noch lauter, befeuert durch bayerische Regierungsmitglieder wie Markus Söder. Wir brauchen aber jetzt und in Zukunft ein starkes und ein einiges Europa, keinen unsolidarischen Hühnerhaufen und keinen Rückfall in Nationalismus und Provinzialismus.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Wir dürfen doch nicht die Strukturen schwächen, die wir dringend brauchen, um die Krise zu bewältigen. Aber genau das machen Sie im Moment. Europa wird die Herausforderung nur gemeinsam und im Geist der europäischen Solidarität bewältigen können. Jetzt ist es an der Zeit zu erklären, ob man sich zu einem geeinten Europa bekennt oder dagegen ist, und das haben Sie auch im Europa-Wahlkampf nicht geschafft. Halbscharige Europäer brauchen wir nicht. Sie sind nur nützliche Idioten für Le Pen, Strache & Co.

Ja, wir brauchen geordnete und rechtsstaatliche Verfahren. Wir müssen erreichen, dass sich alle Länder der EU fair an der Aufnahme der Schutzsuchenden beteiligen. Auch hier führt uns Kleinstaaterei nicht weiter. Die EU und die internationale Staatengemeinschaft müssen sehr viel mehr tun, um die Anrainerstaaten und die Krisenländer zu unterstützen. Vor Kurzem hat Außenminister Steinmeier gesagt: Es ist ein Skandal, dass das UNHCR bei der Flüchtlingshilfe und das World Food Programme auf Spenden angewiesen sind und dass ihnen das Geld gerade zum Zeitpunkt einer riesigen Krise in Kriegsländern und in Krisengebieten ausgeht. Wir müssen endlich dazu kommen, dass es gerade für diese Hilfsorganisationen ein gesichertes Budget gibt.

(Beifall bei den GRÜNEN und Abgeordneten der SPD)

Ich finde, Sie sollten sich lieber dafür einsetzen, anstatt darauf zu hoffen, dass Putin und Erdogan für eine Lösung sorgen. Beide sind übrigens sehr weit davon entfernt, lupenreine Demokraten zu sein.

Die Abschottungspolitik, der Sie anhängen, führt zum Dritten zu einer Radikalisierung im Inneren unseres Landes. Eine Folge sind Hassparolen. Engagierte Helferinnen und Helfer sowie Kommunalpolitiker werden bedroht. Im Moment erleben wir eine dramatische Zunahme rechter Gewalt. Ihre Abschottungspolitik führt auch zu Brandanschlägen und Morddrohungen. Der Bundesinnenminister hat in den vergangenen Tagen davon gesprochen, dass im Jahr 2015 bereits mehr als 490 Straftaten gegen Flüchtlingsunterkünfte zu verzeichnen sind.

Herr Ministerpräsident und meine Damen und Herren von der CSU, Sie glauben, Sie könnten den Tiger der Fremdenfeindlichkeit reiten, indem Sie ihm noch Futter geben. Dieser Ansatz ist zum Scheitern verurteilt. Das will ich Ihnen deutlich sagen.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Das wird Ihnen auch in den aktuellen Umfragen vor Augen geführt. Mit Ihrer Panikpolitik stärken Sie allenfalls Pegida, die AfD und andere rechtspopulistische oder rechtsextreme Gruppierungen. Es braucht keine Handlangerdienste für diese unappetitlichen Gruppierungen. Es braucht klare Kante gegen Rechts!

(Beifall bei den GRÜNEN und Abgeordneten der SPD)

Machen wir uns nichts vor: Die Menschen, die jetzt auf der Flucht vor Krieg und Verfolgung sind und zu uns kommen, werden zum Teil lange bleiben. Ihre Integration ist eine wichtige, dringend zu lösende Aufgabe. Damit muss sofort begonnen werden. Die Integration wird, zumindest am Anfang, teuer und manchmal auch mühsam sein – völlig klar. Am Ende werden jedoch wir alle davon profitieren, dass es in unserem Land mehr Wohnungen gibt, dass wir die Flüchtlinge gut ausgebildet und den Arbeitsmarkt für sie geöffnet haben.

Herr Ministerpräsident, mit vielen Punkten Ihres Integrationsprogramms sind Sie in der richtigen Richtung unterwegs, auch wenn manche angedachte Maßnahme viel zu zaghaft ausfällt; insoweit muss deutlich mehr möglich sein. Manches muss auch deutlich schneller gehen. Wenn zum Beispiel die Lehrerstellen, die Sie uns versprochen haben, erst zu Beginn des nächsten Schuljahres zur Verfügung stehen, dann

ist das zu spät. Sofort brauchen wir in den Schulen die Unterstützung durch zusätzliche Lehrerstellen.

(Beifall bei den GRÜNEN und Abgeordneten der SPD)

Beginnen Sie mit Ihrer zusätzlichen Unterstützung bei den Kommunen und dem ehrenamtlichen Bereich. Dort wird die Arbeit geleistet, die im Moment dringend notwendig ist. Wir brauchen dringend mehr hauptamtliches Personal vor Ort. Im Bereich der Hilfe müssen endlich professionelle Strukturen entwickelt werden. Sie dürfen nicht länger einen Großteil auch der staatlichen Aufgaben auf die ehrenamtlich Tätigen abwälzen. Ich habe vor Kurzem gesehen, dass in manchen Unterkünften ehrenamtlich Tätige sogar die Registrierung der Flüchtlinge vornehmen. Das geht gar nicht! Die ehrenamtliche Arbeit ist ein großer Segen für unsere Gesellschaft. Aber die Staatsregierung darf sich von ihrer Verantwortung nicht zulasten der ehrenamtlich Tätigen entlasten.

(Beifall bei den GRÜNEN und Abgeordneten der SPD)

Der Freistaat muss in die Finanzierung der vor Ort hauptamtlich Tätigen einsteigen. Sie haben bei den Landkreisen entsprechende Hoffnungen geweckt. Deren Vertreter waren nach einem Gespräch mit dem Finanzminister aber deutlich enttäuscht. Die einigen Hundert zusätzlichen Stellen, vom Land finanziert, würden den Kommunen und den ehrenamtlich Tätigen das Leben sehr erleichtern.

(Beifall bei den GRÜNEN und Abgeordneten der SPD)

Wir brauchen in jedem Landkreis und jeder kreisfreien Stadt in Bayern Integrationszentren. In manchen Kommunen sind entsprechende Strukturen bereits aufgebaut worden. In Nordrhein-Westfalen zum Beispiel gibt es seit Jahren ein Integrationsgesetz, auf dessen Grundlage in jeder kreisfreien Stadt und jedem Landkreis kommunale Integrationszentren eingerichtet worden sind. Diese Strukturen erweisen sich jetzt als hilfreich bei der Bewältigung der Herausforderungen. Die Bayerische Staatsregierung hat, was dies angeht, jahrelang geschlafen. Hier müssen wir sofort ansetzen.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Sie haben heute wieder den Begriff "Leitkultur" in den Raum gestellt. Da wir diese Diskussion seit Jahren führen, möchte ich Sie heute fragen, was Sie eigentlich genau unter "Leitkultur" verstehen. Ich habe den Eindruck, dass Sie diesen Begriff auch deswegen gern verwenden, weil er so schwammig, so undefi

niert ist. Jeder kann darunter verstehen, was er möchte. Den selbsternannten Wächtern der "Leitkultur" geht es aber in Wirklichkeit nicht um Integration. Das wird an der Art und Weise deutlich, in der sie diesen Begriff momentan häufig verwenden. Es geht ihnen vielmehr um Unterordnung, manchmal habe ich sogar den Eindruck, um Unterwerfung der Eingewanderten.

(Dr. Florian Herrmann (CSU): Eine absolute Unverschämtheit! Jetzt reicht es aber!)

Wir sollten von Werten und von Grundsätzen unseres Zusammenlebens sprechen statt von einer schwammigen, undefinierten "Leitkultur".

(Beifall bei den GRÜNEN)

Welche Werte sind für ein gelingendes Zusammenleben unverzichtbar? Diese Werte müssen wir nicht neu erfinden; sie stehen seit Jahrzehnten in unserer Verfassung. Ich nenne die Achtung vor der Würde des Einzelnen und die Gleichberechtigung. Ich finde es übrigens sehr nett, dass wir mittlerweile in einer Situation sind, in der Sie von der CSU, wenn Sie nach unseren Grundwerten gefragt werden, als Erstes auf die Gleichberechtigung kommen. Dafür habe ich 30 Jahre lang gekämpft. Hurra!