Protocol of the Session on October 12, 2011

Ich will auch deutlich sagen: Wir begrüßen den proaktiven, vorbeugenden Ansatz des neuen Schengener Evaluierungsmechanismus. Insbesondere die unangekündigten Kontrollen in den Mitgliedstaaten halten wir für ein sinnvolles und geeignetes Instrumentarium, um etwaige Mängel festzustellen.

Grundsätzlich ist auch zu begrüßen, dass die Kommission den seit 2006 veränderten Gegebenheiten

Rechnung trägt und die Möglichkeiten der temporären Wiedereinführung von Grenzkontrollen erweitert. Es ist richtig, dass die Möglichkeit bestehen soll, auf eine ernsthafte Bedrohung für die öffentliche Ordnung oder innere Sicherheit der EU oder eines Mitgliedstaates entsprechend reagieren zu können. Bisher war dies insbesondere bei sportlichen oder politischen Großereignissen oder bei Terroranschlägen möglich. Dies soll nun erweitert werden. Es ist richtig, diese Möglichkeit künftig auch vorzusehen, wenn dauernde ernste Defizite eines Mitgliedstaates bei der Sicherung der EU-Außengrenze und/oder der Rückführung von illegalen Migranten vorliegen oder ein hoher Zustrom von Drittstaatsangehörigen über eine EU-Außengrenze erfolgt und daraus unerwartet große Wanderungsbewegungen innerhalb des Schengenraumes resultieren.

Es ist auch in Ordnung - das sieht der Vorschlag der Kommission auch vor -, dass die temporäre Wiedereinführung von Grenzkontrollen in der Regel für einen maximalen Gesamtzeitraum von sechs Monaten statt wie bisher nur 30 Tagen möglich ist. Hieran sehen Sie auch den Unterschied unseres Dringlichkeitsantrags zu den Vorschlägen der GRÜNEN und der SPD. Aus meiner Sicht verkennt der Vorschlag der GRÜNEN, dass die temporäre Wiedereinführung von Grenzkontrollen auch schon nach der geltenden Rechtslage möglich war. Durch den Vorschlag der Kommission sollen die genannten Fälle ausgeweitet werden. Es kommen ja nicht völlig überraschend ganz neue Fälle dazu.

Völlig klar ist auch: Zur Europäischen Union gehört auch die Schengenfreiheit. Zur Schengenfreiheit gehört aber auch ein Mechanismus, der dann greift, wenn die Schengenfreiheit insgesamt in Gefahr ist. Aus diesem Grunde sind wir für die grundsätzliche Möglichkeit der temporären Wiedereinführung von Grenzkontrollen gemäß des erweiternden Vorschlages der Kommission.

Allerdings greift die Verlagerung der Zuständigkeit für die vorübergehende Wiedereinführung von Grenzkontrollen auf die Kommission in den Kernbereich nationaler Souveränität ein und ist daher entschieden abzulehnen. Die Kommission erhält dadurch faktisch ein Erstentscheidungsrecht; denn zur Mitwirkung der Mitgliedstaaten im Rahmen des Komitologieverfahrens kommt es nur dann, wenn auch die Kommission die Wiedereinführung der Grenzkontrollen bejaht und dem Ausschuss eine entsprechende Entscheidung vorlegt.

Die Entscheidung über die temporäre Wiedereinführung von Grenzkontrollen basiert auf einer intensiven Prüfung der nationalen Sicherheitslage, die nur von

den Mitgliedstaaten auf Grundlage ihrer Erkenntnisse, ihrer fachlichen Kompetenz und der Ressourcen der Sicherheitsbehörden getroffen werden kann. Zudem wird das derzeit geltende, sehr schlanke Verfahren aufgrund der alleinigen Entscheidungsbefugnis der Mitgliedstaaten durch die nun von der Kommission vorgeschlagene Übertragung auf die Kommission unflexibler und bürokratischer. Im Ergebnis wird den Mitgliedstaaten aufgrund der geplanten Änderung eine eigenverantwortliche Entscheidung über die Durchführung von Grenzkontrollmaßnahmen verwehrt. Damit ist die Souveränität der Mitgliedstaaten bei der Bewältigung von Polizeieinsätzen erheblich eingeschränkt.

Insgesamt ist die bisherige Rechtslage besser, weil sie den Mitgliedstaaten die Kompetenz für die Grenzsicherung belässt. Eine Neuregelung lässt aus unserer Sicht kaum Verbesserungen erwarten. Die Überlegungen der Kommission und des Europäischen Parlaments hebeln diese Kompetenzzuweisung aus und verwehren in der Konsequenz den Mitgliedstaaten eigenverantwortliche und selbstständige Kontrollmaßnahmen. Die Mitgliedstaaten sollten auch weiterhin zu Maßnahmen der Aufrechterhaltung der inneren Sicherheit und Ordnung in eigener Regie berechtigt sein. Ein "Mehr an Europa" ist in diesem sensiblen Bereich nicht angezeigt.

Wir fordern daher die Staatsregierung auf, sich im Bundesrat entschieden dafür einzusetzen, dass die Entscheidungskompetenz der Mitgliedstaaten in dieser wichtigen Frage nicht beschnitten wird.

(Beifall bei der CSU)

Nächste Wortmeldung: Frau Kamm für das BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN. Bitte.

Sehr geehrter Herr Kollege Herrmann, bei Ihrem Redebeitrag habe ich mir gedacht: Was ist wichtiger? Ist eine Stärkung der Reisefreiheit in Europa wichtiger oder ist es wichtiger, die Grenzen Europas zu stärken? Die Personenfreizügigkeit und die Abschaffung der Grenzkontrollen galten viele Jahre lang bis jetzt in diesen Minuten als wichtiger und wertvoller Grundpfeiler Europas. Ich meine, das soll auch so bleiben.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Europa lebt und profitiert von der Begegnung und dem Zusammenkommen der Menschen. Wir alle haben erlebt, mit welcher Begeisterung und Erleichterung jeweils das Wegfallen der Grenzstationen und der Schlagbäume von den Menschen begrüßt wurde

und wie sehr Grenzen in Europa Entwicklungen blockieren und Menschen lähmen können.

Wir wollen daher keine Kontrollen an den Binnenmarktgrenzen über die derzeit schon vorhandenen Ausnahmeregelungen hinaus - Herr Kollege Herrmann, Sie haben diese erwähnt -: schlimme Terrorismussituationen und Sicherheitsgefahren. Ich meine, die Tatsache, dass sich in Europa Asylbewerber befinden, gehört nicht zu den Ausnahmen, die Grenzkontrollen rechtfertigen dürfen.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Die Einführung nationaler Grenzkontrollen in Dänemark in diesem Sommer war ein Tabubruch und beschädigte eine der größten Errungenschaften der EU. Zu Recht hat die Wiedereinführung der Grenzkontrollen entlang der dänischen Grenze zu harschen Protesten geführt, auch von FDP-Ministern. Sie erinnern sich vermutlich noch an den Minister, der geraten hat, man möge in diesem Sommer nicht nach Dänemark fahren. Das war der Europaminister aus Hessen. Offenbar spielt das heute aber bei Ihnen keine Rolle mehr.

Bedauerlicherweise hat die EU-Kommission nun am 16. September 2011 mit ihrem Vorschlag zur Änderung des Schengen-Regimes den Bereich der Ausnahmeregelungen, nach denen temporäre Grenzkontrollen möglich sind, deutlich erweitert. Die temporäre Einführung von Grenzkontrollen soll nun nicht mehr nur bei schlimmen Terroranschlägen oder Großereignissen - was das dann im Einzelfall ist und wie sinnvoll es ist, in solchen Fällen Grenzkontrollen durchzuführen, weiß ich nicht -, sondern auch bei unzureichender Rückführung von Migranten eines Nachbarlandes oder bei einem Zustrom von Drittstaatsangehörigen möglich sein.

Flüchtlinge sind kein Sicherheitsrisiko, das die Einführung von Grenzkontrollen und Schlagbäumen rechtfertigen könnte. Die Bestrebungen Frankreichs im letzten Sommer, an einer seiner Grenzen zu Italien Grenzkontrollen einzuführen, entbehrten jeder Grundlage. Die Zahl der Flüchtlinge, die über Italien nach Europa kamen, war relativ niedrig, wenn man sie mit der großen Zahl der Flüchtlinge vergleicht, die in den jeweiligen Nachbarstaaten der Krisenregionen hier Schutz suchen mussten.

Statt höherer Grenzen brauchen wir endlich eine EUFlüchtlingspolitik, die diesen Namen wirklich verdient. Die derzeitige Abschottungspolitik, die wir beobachten, gefährdet Menschenleben. Statt über das Wiederaufstellen von Schlagbäumen zu diskutieren, sollte man sich besser auf gemeinsame Regelungen zur Aufnahme, Verteilung und Rückführung von Flüchtlin

gen verständigen. Wir brauchen nicht nur den in dem Vorschlag angedachten Evaluierungs- und Monitoringmechanismus zur Überprüfung der SchengenVereinbarung, sondern vor allem auch einen Evaluierungs- und Monitoringmechanismus, um zu überprüfen, ob die Mindeststandards für ein rechtsstaatliches Verfahren und eine menschenwürdige Unterbringung von Asylbewerbern eingehalten werden. Zudem brauchen wir dringend einen Mechanismus, der prüft, ob bei den Einsätzen der EU-Grenzschutzagentur Frontex die Menschenrechte eingehalten werden.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Leider gibt es hier bis jetzt kein Monitoring.

Zudem ist es wichtig, dass das von Malmström vorgeschlagene Resettlement-Programm endlich umgesetzt wird. Es genügt nämlich nicht, die Freiheitsbewegungen in Nordafrika nur zu begrüßen; vielmehr müssen die europäischen Länder alle Anstrengungen unternehmen, die dortigen Initiativen zum Aufbau neuer Gemeinwesen zu unterstützen.

Die Notwendigkeit des Schutzes der Flüchtlinge betont auch die Begründung des SPD-Antrags. Allerdings billigt der Antrag unumwunden den derzeitigen Vorschlag der Kommission, von dem wir noch hoffen, dass er geändert werden kann und die neuen zusätzlichen Ausnahmetatbestände gestrichen werden.

Im Grunde halten wir es für vernünftig, eine temporäre Einführung über eine Fünf-Tage-Grenze hinaus in die Verantwortung der EU-Mitgliedstaaten in ihrer Gemeinschaft zu stellen, damit Grenzkontrollen nicht im Alleingang eingeführt werden können.

Letzteres tun Mitgliedstaaten leider - das zeigte der vergangene Sommer -, aber weniger aus Sicherheitsgründen, sondern um rechtspopulistische Strömungen zu befriedigen. Diesem Treiben wollen wir keinen Vorschub leisten.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Der Vorschlag der Kommission, dass Mitgliedstaaten über die Einführung von Grenzkontrollen über fünf Tage hinaus nicht sollen entscheiden können, sondern nur in Absprache mit den Nachbarstaaten und der Kommission, ist daher vernünftig. Fünf Tage reichen aus. Dies kann unbegründete Grenzkontrollen im Alleingang verhindern.

Der jetzt erarbeitete Vorschlag der Kommission ist daher zu Recht eine Ohrfeige für die betroffenen Mitgliedstaaten. Offene Grenzen und ungehinderte Reisefreiheit dürfen nicht leichtfertig, wie es in dem CSU/

FDP-Antrag der Fall ist, aufs Spiel gesetzt werden. Es ist richtig, dass die EU Alleingänge verhindert, aber nicht richtig, dass Asylbewerber mit Kriminellen oder gar Terroristen und organisierter Kriminalität gleichgesetzt werden. Das darf in Europa nicht Eingang finden.

Wir hoffen, dass auch Sie, Herr Innenminister, sich dafür einsetzen, dass diese Ausnahmen für Grenzkontrollen zurückgenommen werden.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Ich merke an, dass zum Dringlichkeitsantrag auf Drucksache 16/9766 namentliche Abstimmung beantragt wurde. Es handelt sich um den Antrag der CSU.

Herr Dr. Förster von der SPD, ich bitte Sie ans Redepult.

Eigentlich wollte ich dem Kollegen Herrmann auf seinen Einwurf, dass die Debatte vielleicht nicht emotional, sondern populistisch ist, etwas entgegnen. Aber da er diesen Raum verlassen hat, scheint er das Thema nicht als guten Brenner zu empfinden. Das Geklatsche von vorhin werden wir bis zum Zeitpunkt der namentlichen Abstimmung wahrscheinlich nicht erreichen.

Nach zwei verheerenden Weltkriegen dauerte es Jahrzehnte, bis man die Grenzen in vielen Ländern der EU zugunsten eines vertrauensvollen Klimas abgeschafft hatte. Heute führt die Freizügigkeit innerhalb der EU zur Annäherung an den Faktor der Einheit. Damit Europa irgendwann tatsächlich im Bewusstsein der Menschen ankommt, braucht es diese europaweite Begegnung und diese Reisefreiheit. Nur so entsteht ein europäischer Gedanke. So sind die Vorschläge der Kommission die einzig richtige Antwort auf entsprechende populistische Vorschläge, den europäischen Herausforderungen mit Schlagbäumen und Grenzhäuschen zu begegnen.

Ich möchte ein paar Worte darüber verlieren, warum wir diese Thematik besprechen. Zum Teil hat es Christine Kamm schon vorweggenommen. Ich will aber auch auf die Frage eingehen, ob die in diesem Jahr vollzogenen Alleingänge zur Einführung von Grenzkontrollen auf Fakten oder Ursachen beruhen oder eher innen- oder parteipolitisch motiviert waren.

Aktualität hat die Debatte am 11. Mai bekommen. Unsere dänischen Nachbarn hatten beschlossen, Grenzkontrollen aus Angst vor illegaler Einwanderung und organisierter Kriminalität aus Osteuropa wieder einzuführen. In den Wochen zuvor hatte Italien Flüchtlingen auf Lampedusa eine begrenzte Aufenthaltserlaubnis

für die 25 Länder des Schengen-Raums gegeben. Darauf haben unsere französischen Freunde mit Grenzkontrollen an der französisch-italienischen Grenze reagiert und dort sogar den Zugverkehr eingestellt.

Schauen wir gezielt auf diese Länder und auf ihre damaligen innenpolitischen Konstellationen, muss man die Geschehnisse in einen anderen Kontext setzen. Italien war im Frühjahr dieses Jahres einer großen Zahl von Flüchtlingen ausgesetzt. Hintergrund waren, wie wir alle wissen, die Revolutionen im arabischen Raum. Dennoch stand Italien - das unterstreiche ich hier ausdrücklich - nicht vor einer Apokalypse, sondern vor dem Problem, dass nationale Behörden und die Politik versagten und mit dem Anstieg der Flüchtlingszahl aufgrund ineffizienter Strukturen nicht fertig geworden sind.

Ob Sarkozy die Grenzkontrollen wieder eingeführt hat, weil es eine schwerwiegende Bedrohung der öffentlichen Ordnung und der inneren Sicherheit seines Landes gab - so steht es in Art. 23 des momentan geltenden Schengener Abkommens -, was die Wiedereinführung von Grenzkontrollen ja rechtfertigen würde, oder ob sich Sarkozy als "Law-and-Order"-Politiker - damit hätte er etwas mit unserem Innenminister Herrmann gemeinsam - profilieren wollte, möchte ich hier fragend in den Raum stellen.

In Dänemark hat eine rechtspopulistische Gruppe im Parlament dafür gesorgt, dass sich die damalige Minderheitsregierung ihr beugte und deren eigenwilligen, nicht nachvollziehbaren Forderungen nachkam. Alles in allem sehen wir, dass es in erster Linie parteipolitische Gründe waren. Es ist traurig, wenn Herr Kollege Herrmann versucht, sich in die Tradition dänischer Rechtspopulisten zu stellen.

(Beifall bei der SPD)

Jetzt wende ich mich an die drei Kollegen der FDP, die noch hier sind. Sie wollen das in Zukunft weiterhin in dieser Form ermöglichen.

(Tobias Thalhammer (FDP): Ich korrigiere: Wir sind fünf!)

- Okay, es sind fünf anwesend. Bleiben wir bei der Wahrheit!

Wenn Sie sich an Ihrem FDP-Innenexperten Alvaro im Europäischen Parlament orientieren, hätten Sie diesen Antrag niemals mitgetragen. Ihr Kollege Alvaro wurde im Hinblick auf Dänemark im Mai 2011 in der "Zeit" folgendermaßen zitiert:

Wenn sich Dänemarks Regierung von den Rechtspopulisten so unter Druck setzen lässt, dass sie die Axt an eine der europäischen Grundfreiheiten legt, dann stellt sie auch die Gretchenfrage der Mitgliedschaft Kopenhagens im Schengen-Raum.