Wir müssen uns auch davor hüten, gewissen Menschen, die ihre Meinung kundtun, eine höhere Legitimation, ein höheres demokratisches Recht zuzuordnen. Natürlich ist es eindrucksvoll, wenn 50.000 oder 100.000 Menschen demonstrieren. Aber 50.000 und 100.000 Menschen sind in Deutschland noch keine Mehrheit. Das bitte ich einmal festzuhalten.
Woher wollen denn die Demonstranten wissen, dass die anderen 83 Millionen Menschen mehrheitlich der Meinung der 100.000 sind? Hierüber können wir nichts sagen.
Eine Allensbach-Demokratie, die nach Umfrageergebnissen geht, steht nicht in unserem Grundgesetz. Wir haben eine repräsentative Demokratie. Das ist Fakt, auch wenn wir uns für mehr plebiszitäre Elemente einsetzen. Da wir derzeit eine repräsentative Demokratie haben, können wir nicht sagen, dass es ge
rechtfertigt sei, einen Protest unfriedlich durchzuführen, wenn den Protestierenden eine politische Einstellung nicht passt.
Der Antrag von CSU und FDP "Ja zur Demokratie, Ja zum Rechtsstaat, Nein zur Gewalt!" ist richtig und angesichts der Vorkommnisse mit dem Schottern von Gleisanlagen durchaus auch angemessen und berechtigt. Herr Kollege Schindler, Sie haben recht, dass man nicht jeden Tag seine Rechtsstaatlichkeit vor sich hertragen muss. Aber der Anlass rechtfertigt diesen Antrag.
Im Übrigen hat auch die SPD einen Dringlichkeitsantrag mit dem Titel "Ja zur Demokratie, Ja zum Rechtsstaat, Nein zur Gewalt!" mit einigen Abweichungen eingebracht. Ich denke, dass man auch diesem Antrag zustimmen kann.
Die Überschrift des Antrags der GRÜNEN "Keine Lobbypolitik auf dem Rücken der Polizei" geht in die falsche Richtung. Sie suggeriert, dass die Gewalt, die zum Polizeieinsatz geführt hat, ursächlich auf die Politik der Bundesregierung zurückzuführen ist. Aber so, liebe Kolleginnen und Kollegen, geht es nicht, dass wir politische Meinungen bewerten und sagen: Wenn es uns nicht passt, dürfen wir Gewalt anwenden; wenn es uns passt, dann machen wir es anders.
Wir müssen uns an formale rechtsstaatliche Regeln halten. Deswegen werden wir dem Antrag von CSU und FDP und dem Antrag der SPD zustimmen. Dem Antrag der GRÜNEN können wir unsere Zustimmung jedoch nicht geben.
Sehr geehrter Herr Kollege, ich will die Gelegenheit nutzen, ein bisschen zu erklären, wie so etwas abläuft. Sie sprachen von einer Blockade und einen Satz später von Gewalt und von Gratwanderung. Aber große Blockaden laufen in der Regel folgendermaßen ab:
Ein Bahngleis ist für den Schienenverkehr gesperrt. Das ist Fakt. Das Bahngleis wird bewacht. Die Demonstranten begeben sich friedlich und gewaltfrei auf das Gleis. Wenn sie aufgehalten werden, gehen sie nicht weiter. Wenn sie sich auf die Schiene setzen, sind die Polizei und die Einsatzleitung um Welten weiter als die Mehrheit in diesem Haus; das muss ich ganz ehrlich sagen.
Die Einsatzleitung der Polizei sucht schnell das Gespräch mit den Verantwortlichen. Dann wird ein Kompromiss für eine gewaltfreie Lösung gesucht; denn in diesem Fall möchte keiner Gewalt anwenden. In dem Gespräch wird ausgehandelt, zu welcher Uhrzeit die Leute gewaltfrei weggetragen werden und dass deren Personalien nicht aufgenommen werden. So etwas wird mit der Polizei ausgemacht. Damit ist man dort um einiges weiter.
Man muss bedenken, dass wir da in einem gesellschaftlichen Konflikt stehen. Wenn 5.000 Menschen friedlich und gewaltfrei auf der Straße stehen, dann ist das eine große Herausforderung für die Polizei. Da wird dann vor Ort - das muss man sagen -seitens der Polizeibeamten viel sensibler vorgegangen, als wir in diesem Hause diskutieren. Eigentlich wünsche ich mir, dass Sie zu dem Ort der Demonstration fahren und sich die Lage anschauen; Sie müssen ja nicht mitdemonstrieren. Sie werden dann erkennen, wie sensibel die Polizei sich dort verhält.
Drittens. Sie haben mir jetzt Nachhilfe im Ablauf derartiger Sitzblockaden gegeben. Jetzt werde ich Ihnen einmal Nachhilfe im Grundkurs Strafrecht geben und sagen, was man uns damals zu den Sitzblockaden beigebracht hat. Unser Professor hat damals gesagt: Wenn Sie sich vor eine Kaserne setzen und damit einem Panzer die Möglichkeit versperren, aus der Kaserne herauszufahren, dann üben Sie Gewalt aus; denn der Panzerfahrer kann ja wohl nicht über Sie hinwegfahren.
Wenn Sie auf einem Gleis sitzen, müssen Sie zur Kenntnis nehmen, dass Gleise nicht dafür gebaut werden, dass Sie dort Ihren Mittagsschlaf halten, sondern dafür, dass darauf Züge fahren.
Es kommt noch eine Zwischenbemerkung. Die wurde aber sehr spät angemeldet. Herr Kollege Arnold zu einer Zwischenbemerkung.
Herr Kollege Pohl, wenn es um den Grundkurs Strafrecht geht, gehe ich davon aus, dass Sie diesen Grundkurs vor dem 10. Januar 1995 absolviert haben. Zu dem Zeitpunkt hat nämlich das Bundesverfassungsgericht entschieden, dass einfaches Sitzen ohne Gewaltanwendung nicht den Straf
tatbestand der Nötigung erfüllt. Das hat Ihr Professor damals nicht antizipieren können. Nehmen Sie das zur Kenntnis?
Herr Kollege Arnold, danke, dass Sie mir die Rechtsprechung des Amtsgerichts Fürth zur Sitzblockade erläutert haben. Ich habe Herrn Kollegen Hartmann, wenn Sie sich an meine Ausführungen erinnern, gesagt, dass er sich im gefährlichen Grenzbereich bewegt hat. Ich habe dem Kollegen Hartmann nicht per se unterstellt, dass er sich einer Nötigung schuldig gemacht hat. Das ist eine Frage des Einzelfalls. Das kommt darauf an, wie er sich bei der Sitzblockade benommen hat, ob er dem Beamten, der ihn wegtragen wollte, in den Arm gebissen hat oder sonst etwas. Das weiß ich schlichtweg nicht.
Nächste Wortmeldung: Frau Staatsministerin Dr. Merk für die Staatsregierung. Die Staatsregierung kann jederzeit das Wort ergreifen.
Herr Präsident, verehrte Kolleginnen und Kollegen! Ich halte Protestaktionen gegen die Castor-Transporte aus Frankreich für falsch, respektiere aber das legitime Recht zu demonstrieren. Dies muss aber mit dem Mittel des zivilen Ungehorsams, das heißt, gewaltfrei, geschehen. - Dieser Satz stammt von Herrn Bundesminister a. D. Jürgen Trittin, zitiert nach einer Agenturmeldung der dpa vom Februar 2001. Es ist der gleiche Jürgen Trittin, der nun Kritik an den Vorgängen des letzten Wochenendes als Diffamierung bezeichnet. Anderswo bei den GRÜNEN verklärt man - wir haben das heute schon mehrfach gehört - diese Proteste zu einer Sternstunde der Demokratie. Herr Schindler, Sie sagen, man brauche keine Glaubensbekenntnisse zum Rechtsstaat abzugeben. Ich meine, dass man das sehr wohl tun muss.
Nach einem solchen Wochenende und nach einem solchen Verhalten gibt es für uns gar keine andere Möglichkeit. Ich weiß nicht, was man sich bei den GRÜNEN unter demokratischem Protest vorstellt. Dazu nur ein paar Daten zum letzten Sonntag. 20 000 Polizeibeamte aus dem gesamten Bundesgebiet müssen nach Gorleben fahren und vier Tage lang den Castor-Transport absichern. 78 Polizistinnen und Polizisten werden durch Demonstranten verletzt. Joachim Herrmann hat sehr deutlich gemacht, was dort passiert ist: Angriffe mit Steinen, Flaschen, mit angespitzten Holzpflöcken, Brandsätzen und Ähnlichem.
Das ist doch Gewalt, und dabei sind schwerste Verletzungen in Kauf genommen worden. Frau Tausendschön spricht von einem geringen Anteil an Gewalt.
- Frau Tausendfreund, das ist ein lieber Freud’scher Versprecher. Aber das, was Sie gesagt haben, verehrte Frau Kollegin, war meines Erachtens ein deutliches Kleinreden von brutalen Dingen, die passiert sind.
Ich freue mich, wenn Sie lachen, aber solche Anschläge auf Leib und Leben von Menschen, die unserem Staat dienen, haben für mich nicht das Geringste mit Demokratie zu tun. Solche Anschläge haben für mich auch gar nichts mit Gewaltfreiheit zu tun. Das hat für mich im Jahr 2001 genauso gegolten wie es für mich heute im Jahr 2010 gilt. Das ist bei den GRÜNEN offenbar anders. Dort kennt man gute und schlechte Castor-Transporte. Sie unterscheiden sich nicht danach, ob Gewalt ausgeübt wird oder nicht, sondern sie unterscheiden sich danach, ob die GRÜNEN gerade an der Regierung sind oder nicht.
Deshalb sage ich: Was die GRÜNEN als Sternstunde der Demokratie bezeichnen, ist in Wahrheit eine Sternstunde der Heuchelei und Scheinheiligkeit.
Um eines klarzustellen: Wir wissen, dass nicht alle Demonstranten dieses Wochenendes Steinewerfer waren. Wir wissen, dass dort viele in ehrlicher Sorge um einen verantwortungsvollen Umgang mit Atommüll unterwegs waren. Viele waren dort, um ihre Meinung zu äußern und auch zu diskutieren und zu protestieren. Das will niemand verhindern. Die Demonstrationsfreiheit ist ein zentrales Grundrecht. Wer in einem demokratischen Staat lebt, für den muss das Demonstrationsrecht eine Selbstverständlichkeit sein. Wer in einem demokratischen Staat Politik macht, der muss mit kritischen Demonstrationen leben. Es steht jedem frei, die Atompolitik des Jahres 2010 abzulehnen und die Atompolitik des Jahres 2001 zu befürworten. Meine Damen und Herren von der Opposition, Sie aber lenken vom Thema ab, und Sie haben verharmlost. Es geht um etwas anderes, es geht darum, dass Gewalt im Jahre 2010 noch genauso zu verabscheuen ist wie Gewalt im Jahre 2001.
Ich frage Sie: Worin soll der Diskussionsbeitrag liegen, wenn jemand einen Stein auf eine zwanzigjährige Polizeibeamtin wirft? Worin soll die Sorge um un
sere Energieversorgung zum Ausdruck kommen, wenn jemand Einsatzfahrzeuge in Brand setzt, die noch mit Polizisten besetzt sind?
Worin soll man ein demokratisches Ringen um Einigkeit sehen, wenn jemand Bahngleise unterhöhlt? Zu demonstrieren ist eine Sache, Gewalt auszuüben eine andere. Wer Polizeibeamte angreift, greift unseren Staat und uns alle an.
Was noch viel schlimmer ist: Wer Polizeibeamte angreift, der sucht sich das am leichtesten verfügbare Opfer. Dem ist es vollkommen egal, dass die Uniform von einem Menschen getragen wird. Es ist doch der Mensch, der verletzt und mit Schmerzen im Krankenhaus liegt, nicht unser Staat.
Der Antrag der GRÜNEN, die dies kleinreden, bedient negative Gefühle und verdient in keiner Weise unsere Zustimmung. Von den vielen GRÜNEN-Politikern, die am Sonntag vor Ort waren, hätte ich mir gewünscht, dass sie gegen Gewalttäter ihre Stimme erheben, und nicht, dass sie sich mit ihnen solidarisch erklären.
Noch ein Wort, gerade als Justizministerin: Ich finde es fatal, wenn gewalttätige Demonstranten meinen, sich auf das Bundesverfassungsgericht berufen zu können. Es ist zwar richtig, Herr Arnold, dass das Bundesverfassungsgericht 1995 eine Sitzblockade nicht als strafbare Nötigung angesehen hat. Unsere Polizeibeamten tragen buchstäblich schwer an diesem Urteil. Man muss aber sehen: Damals ging es um das völlig passive Verharren an einer Stelle, und es ging um Feinheiten des verfassungsrechtlichen Bestimmtheitsgebotes der Strafgesetze. Dass der gezielte Wurf mit Flaschen und Steinen auf Menschen strafbare Gewalt ist, steht außer Frage. Dass auch Sitzblockaden, jedenfalls dann, wenn sich Demonstranten anketten, Gewalt bedeuten, hat das Bundesverfassungsgericht längst festgestellt.
Oft wird derzeit häufig von einem Widerstandsrecht geredet. Ich weiß nicht, was Gewalttäter damit für sich in Anspruch nehmen wollen. Ich kenne das Widerstandsrecht aus Artikel 20 unseres Grundgesetzes. Das existiert nur gegen denjenigen, der die verfassungsmäßige Ordnung beseitigen will. Zu unserer verfassungsmäßigen Ordnung gehört es aber gerade, dass man Entscheidungen, die in einem demokratischen Verfahren durch gewählte Volksvertreter getroffen worden sind, respektiert. Deshalb gibt es kein Widerstandsrecht gegen Castor-Transporte. Auch die Lautstärke des Protestes ist kein Maß für seine demokratische Legitimation.
Auch außerhalb der Parlamente darf man in unserem Land selbstverständlich seine Meinung vertreten. Man darf dafür auf die Straße gehen. Wer aber nicht zu respektieren bereit ist, was in gewählten Parlamenten beschlossen wird - auch wenn anderes beschlossen wird, als das während der Vorgängerregierung der Fall war -, steht außerhalb der Demokratie. Wer mit Selbstjustiz arbeitet, Steine auf Polizeibeamte wirft, der steht außerhalb unseres Rechts.
Den am Sonntag verletzten Polizistinnen und Polizisten ist kriminelles Unrecht widerfahren. Ihnen gelten mein tiefstes Mitgefühl und mein tiefster Respekt. Ich kann mir nicht vorstellen, dass dies im Bayerischen Landtag nicht von allen geteilt wird.