Protocol of the Session on May 7, 2009

(Beifall bei den Freien Wählern und des Abgeord- neten Prof. Dr. Barfuß (FDP))

Ich möchte als Deutscher und als Bayer dazu animieren, bei der ganzen Europa-Debatte etwas mehr Bescheidenheit walten zu lassen. Diese Europäische Union hat uns unglaublich viele Vorteile gebracht. Sie wurden bereits erwähnt. Ich sage ganz deutlich, dass wir Freien Wähler hinter der Idee der Europäischen Union stehen und sie vehement vertreten werden, auch im Europawahlkampf.

Ich sage aber auch, es ist immer kritisch, Türen von Anfang an zuzuschlagen. Bei der Türkeidebatte gehen wir auch nicht den ehrlichen Weg. Ich sage ganz deutlich, dass auch ich nicht für den Beitritt der Türkei plädiere, sowohl im Moment als auch aus verschiedenen Gründen in den nächsten Jahren. Anderseits können wir aber auch nicht die Augen davor verschließen, dass es ein Beitrittsgesuch der Türkei gibt, welches nicht abgelehnt worden ist. Wir befinden uns in Beitrittsverhandlungen.

(Beifall bei den Freien Wählern und der SPD)

Deshalb stelle ich mir schon die Frage, warum der Türkeibeitritt für Sie keine Frage ist. Darüber wird im Moment debattiert. Darüber debattieren auch CSU-Abgeordnete im Europäischen Parlament. Es ist gut so, dass sie darüber debattieren. Insofern haben wir eine Debatte. Wir haben, wie Sie, Frau Ministerin, zu Recht gesagt haben, schon neun Kapitel eröffnet. Davon ist zwar nur eines abgeschlossen, aber in diesen neun Kapiteln wird um den Beitritt gekämpft. Insofern sollten wir diese Debatte offen und ehrlich führen. Wir sehen zum aktuellen Zeitpunkt keine Chance für einen baldigen Beitritt der Türkei. Wir wollen ihn aber auch nicht ein für allemal ausschließen, denn wir wissen nicht, wie die Welt in 20 oder 30 Jahren aussehen wird. Vor wenigen Jahren wussten wir noch nicht einmal, dass der Eiserne Vorhang fallen wird. Wir alle müssen uns selbstkritisch eingestehen, dass sich die Welt schnell verändern kann, sodass man politisch schnell agieren muss.

(Beifall bei den Freien Wählern)

Eine letzte Bemerkung zur Neuausrichtung. Sie haben auf Seite 21 Ihres Konzepts, ziemlich am Ende, die großen Themen angesprochen. Trotzdem finde ich es ein bisschen abenteuerlich. Sie sprechen von der Außen- und Sicherheitspolitik und von Energie- und Klimaschutz. Das alles kann ich unterstreichen. Das alles ist richtig. Bei den Kompetenzen fehlt mir aber die Wirtschafts- und Währungsunion. Sie taucht überhaupt nicht auf. Bei den wichtigen Aufgaben, auf die sich Europa in nächster Zeit konzentrieren soll, tauchen viele Kompetenzen nicht auf. Wollen Sie diese Kompetenzen ähnlich wie die Landwirtschaftspolitik wieder auf die nationale Ebene zurückführen? Dazu hätte ich ganz gerne eine Antwort.

Lassen Sie mich meine letzten 15 Sekunden Redezeit dafür verwenden, zu überlegen, wohin die Europäische Union führen soll. Vor fünf Jahren hatten wir eine sehr spannende Debatte mit vielen Leuten und großen Namen: Habermas, Derrida, Muschg und viele andere könnte man nennen, die ihre Meinung in Zeitungen öffentlich gemacht haben. Das war der richtige Ansatz. Dahin müssen wir wieder zurück. Diese Debatte darf nicht nur im Parlament geführt werden. Sie muss in der europäischen Öffentlichkeit geführt werden.

(Beifall bei den Freien Wählern)

Ganz Europa muss in diese Neuausrichtung, von der Sie sprechen, eingebunden werden. Wir müssen uns gemeinsam über Parteigrenzen hinweg - in diese Richtung gibt es bereits Versuche - Gedanken machen, wie wir die Bürger für Europa noch mehr gewinnen können. Wir Freien Wähler stehen für Europa. Wir werden diese Debatte führen. Wir werden die Öffentlichkeit mit einbinden. Wir werden die neuen Ideen, die es in der Wissenschaft gibt, mit einbeziehen. So können wir weiter diesen erfolgreichen Weg gehen.

(Beifall bei den Freien Wählern und Abgeordneten der FDP)

Für die FDP-Fraktion darf ich Herrn Kollegen Dr. Kirschner das Wort erteilen.

Sehr geehrtes Präsidium, sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Europa ist in der Krise. Darin sind wir uns wohl alle einig. Wir stehen vor enormen Herausforderungen. Wir haben eine Finanzkrise und eine Wirtschaftskrise in allen Bereichen, wie sie uns seit dem Krieg nicht mehr widerfahren ist. Die Menschen im Land haben Sorge und Angst um ihre Arbeitsplätze und ihren Wohlstand. Diese Entwicklung hat Auswirkungen auf alle Lebensbereiche. Wohlstand ist Arbeit und Arbeit ist Wohlstand. Die Krise, die wir derzeit haben, wirkt sich auf alle Lebensbereiche aus, auf das Sozialwesen, auf die Ökologie und auf die Ökonomie.

Erste und zentrale Aufgabe der Europäischen Union muss es sein, Deutschland, Bayern und alle Länder, die der Europäischen Union angehören, zu stabilisieren. Die Banken müssen stabilisiert werden. Das tun wir bereits, ob es uns gefällt oder nicht. Die Wirtschaft, insbesondere die mittelständische Wirtschaft muss stabilisiert werden. Ich sage für die FDP ganz laut und deutlich: Die derzeit laufende Kurzarbeit in Deutschland ist zu begrüßen. Die Erweiterung ist ebenfalls zu begrüßen.

Wir müssen in Europa die Bürokratie abbauen. Sie belastet die Menschen und die Unternehmen.

(Zuruf von den GRÜNEN: Auch in Bayern!)

Wir brauchen keinen Protektionismus, und wir brauchen auch keinen Subventionswettlauf - schon gar nicht mit den uns benachbarten Staaten Slowakei, Tschechien und anderen.

Ich sage auch ganz ausdrücklich: Die Europäische Union ist in ihrer jetzigen Zusammensetzung ein Segen für alle Menschen, die hier leben, insbesondere auch für uns in Bayern. Ich darf es mit ein paar Zahlen hinterlegen. Seit 2004 ist der Export um 65 % gestiegen. Allein in Lettland und in Estland ist der Export um 100 % gestiegen. Zwischen 1998 und 2008 - innerhalb von zehn Jahren - ist das Exportvolumen aus Bayern von 75 Milliarden auf 155 Milliarden gestiegen. Das bedeutet Arbeitsplätze. In gleichem Maße ist das Importvolumen von 62 Milliarden auf 130 Milliarden gestiegen. Das bedeutet Arbeitsplätze und Wohlstand in unseren Nachbarländern. Allein in den zehn Beitrittsländern ist das Exportvolumen um 168 % auf 18 Milliarden und das Importvolumen um 170 % auf 21 Milliarden gestiegen. Das bedeutet Wohlstand für Bayern und Wohlstand für alle angrenzenden Nachbarländer innerhalb der EU.

Das Schengener Abkommen, das von so vielen kritisiert wird, ist zu begrüßen. Wir haben freie Wege, nicht nur in der Wirtschaft, sondern auch für die Menschen.

(Beifall bei Abgeordneten der FDP)

Was bedeutet die Krise für die Menschen in Europa, für die Menschen in Deutschland, für die Menschen in Bayern und was ist dagegen zu tun? Mein sehr geehrten Kolleginnen und Kollegen, ich sage es ausdrücklich: Wir müssen uns erst konsolidieren, bevor wir den nächsten Schritt der Erweiterung tun.

(Alexander König (CSU): Sehr richtig!)

Es ist wie zu Hause, wenn man ein kleines Unternehmen hat. Die Makroökonomie ist mit der Mikroökonomie vergleichbar. Der Staatsbetrieb ist mit einem kleinen Unternehmen oder mit der Familie vergleichbar. Wenn

ich in der Mikroökonomie, also in der Familie oder einem kleinen Unternehmen, eine Krise habe, kann ich mir nicht noch weitere Probleme aufladen. Weitere Probleme würden die EU, die in der EU lebenden Menschen, wie auch die Menschen in Deutschland und in Bayern genauso belasten. Das ist unverantwortlich.

(Beifall bei der FDP)

Die Staaten der EU sind derzeit so hoch verschuldet, dass in den nächsten drei Generationen nicht daran zu denken ist, diese Schulden überhaupt zu reduzieren. Estland, Lettland und Polen stehen vor dem Staatsbankrott. Die Länder - ich sage es auf gut bayrisch wären pleite, wenn es die EU nicht geben würde. Es kann nicht sein, dass wir in einer solchen Verfassung noch weitere Länder aufnehmen.

(Beifall bei der FDP und bei Abgeordneten der CSU)

Die FDP steht für ein freies Europa. Wir sind für weitere Verhandlungen mit der Türkei, wir sind derzeit aber nicht für eine Aufnahme. Dieser Auffassung schließe ich mich an.

(Beifall bei der FDP)

Jetzt darf ich für die CSU-Fraktion Herrn Kollegen Radwan das Wort erteilen.

Frau Präsidentin, meine Damen und Herren! Frau Ministerin, herzlichen Dank dafür, dass wir heute, in der Europawoche und einen Monat vor der Europawahl, eine Europadebatte führen können. Ich danke den Rednern, die sich konstruktiv und kritisch mit Europa auseinandergesetzt haben. Dass man als Landrätin in Mittelfranken einem Ingo Friedrich nicht begegnet, ist schon ein Kunststück. Man weiß, wie quirlig Ingo Friedrich ist. Dass man die EuGHBesetzung mit dem Parlament in Verbindung bringt, ist erstaunlich, weil der EuGH auf Vorschlag der Mitgliedstaaten im Konsens mit den Regierungen berufen wird. Dass man von Leidenschaft für Europa spricht, obwohl man darüber nachdenkt, nach der möglicherweise - wohl auch eher nicht - geglückten Europawahl gleich für den Bundestag zu kandidieren, ist auch spannend.

(Hubert Aiwanger (FW): Das macht ihr doch auch!)

Wunderbar ist, dass eine Frage heute geklärt wurde, nämlich welcher Fraktion die Partei der Freien Wähler angehören wird. Die anderen Fraktionen im Bayerischen Landtag gehören einer Fraktion des Europäischen Parlaments an. Eine Fraktion im EU-Parlament ist noch frei. Die Spitzenkandidatin der Freien Wähler hat sich dafür bestens empfohlen. Das ist die Partei der

Europakritiker, die überwiegend von Polen und Briten besetzt ist und die die Europäische Union abschaffen will. Allen anderen ging es heute darum, über die Zukunft der Europäischen Union zu reden.

Dabei geht es einerseits darum, die geografischen Grenzen und andererseits die inhaltlichen Grenzen zu diskutieren. Die CSU will den Türkei-Beitritt kritisch hinterfragen. Heute haben viele von Redlichkeit geredet. Meine Damen und Herren, die europäische Integration hat bisher gezeigt: Je länger Beitrittsverhandlungen geführt werden, desto unwahrscheinlicher ist ein NichtBeitritt. Darum sollten all diejenigen, die heute sagen, wir wollen Verhandlungen führen und in 10 oder 15 Jahren schauen, ob es zum Beitritt kommt, die Realität zur Kenntnis nehmen, dass jede weitere Verabschiedung eines Kapitels den Beitritt der Türkei wahrscheinlicher macht.

(Zuruf des Abgeordneten Dr. Linus Förster (SPD))

Ein zweiter Punkt ist die Integrationstiefe. Gerade Sie, Herr Dr. Förster, haben die kritische Frage zur Entscheidung des EuGH zur Entsenderichtlinie gestellt. Sie möchten aber mehr Kompetenzen an Europa geben.

Sie möchten ein soziales Europa. Ihr Nachredner von der SPD hat die Entscheidung über Mindestlöhne auf europäischer Ebene gefordert. Wir können diese Diskussion gerne führen, wo der Mindestlohn auf europäischer Ebene liegen soll, der im Europäischen Parlament und im Europäischen Rat beschlossen wird, dem Polen, Ungarn und - wie Sie möchten - die Türkei zustimmt. Ist das ein Niveau, das wir in Deutschland positiv begleiten können? Sie werden einen Teil der Politik europäisieren, obwohl Sie wissen, dass wir die Standards, die wir heute in Deutschland haben, auf europäischer Ebene nicht mehr halten können.

(Beifall bei der CSU)

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Güller?

Machen wir das am Schluss.

Darum gilt es heute, nicht isoliert über Integration und separat über Erweiterung zu reden, sondern das muss Hand in Hand gehen. Heute ist ein Tag - das ist bis jetzt nicht erwähnt worden -, an dem die Europäische Union mit sechs weiteren Staaten im Osten über eine Partnerschaft und Zusammenarbeit verhandelt. Das sind unter anderem die Ukraine und Weißrussland. Sind das für Sie potenzielle Mitgliedstaaten? - Ich habe die Angst - das sage ich aus eigener Erfahrung -, dass wir die Europäische Union überdehnen könnten. Das dürfen

wir nicht. Wenn wir möchten, dass die Europäische Union mehr inhaltliche Kompetenzen erhält, muss sie handlungsfähig sein und bleiben. Das gilt für das Parlament, den Rat und die Kommission. Wir brauchen deshalb den Lissaboner Vertrag, weil dort die Nachbarschaftspolitik vorgesehen ist, die wir für Staaten wie die Ukraine oder der Türkei brauchen. Bitte, überdehnen wir die Europäische Union nicht. Sie würde die Integration Stück für Stück zurückwerfen.

(Beifall bei der CSU - Zuruf von den Freien Wäh- lern)

Europa ist die Antwort auf die globalen Herausforderungen. Das wurde für die Bereiche Umwelt, Klima und Energie angesprochen. Natürlich wurden auch die Finanzmärkte angesprochen. Wichtig ist, dass die Europäische Union die Vorstellungen aus Bayern und Deutschland von sozialer Marktwirtschaft, davon, wie man mit Kapitalmärkten umgeht, was die Ziele sind - die kurzfristige Rendite auf der einen Seite oder die stabile langfristige Ausrichtung - im weltweiten Wettkampf mit anderen Kulturen, insbesondere der US-amerikanischen, übernimmt. Wir können es nur schaffen, unsere gemeinsamen Vorstellungen, was Rating-Agenturen, Aufsicht oder Hedgefonds betrifft, über die Europäische Union einzubringen. Das wird schwierig genug. Ich hoffe, dass wir eine gemeinsame Position auf europäischer Ebene finden.

In Aufsichts- und Währungsangelegenheiten war die Europäische Zentralbank die Institution, die als erste richtig und schnell reagiert hat. Deshalb kann ich das, was Frau Staatsministerin Müller gesagt hat, nur unterstützen, nämlich dass wir ein europäisches Aufsichtsregime bei der Europäischen Zentralbank unter den Zentralbanken ansiedeln, damit wir eine bessere Integration und Kooperation bekommen; denn ein Problem war, dass heutzutage die Aufseher zwar einigermaßen gut wissen, was im eigenen Land vorgeht, dass es ihnen bei grenzüberschreitenden Unternehmen und Produkten aber nicht möglich ist zu wissen, was in anderen Länder passiert und welche Folgewirkungen das hat.

Aus diesen Gründen ist es notwendig, die bayerischen Interessen in Brüssel zu vertreten. Europa ist zu unterschiedlich. Bestimmte Sachverhalte, die für uns selbstverständlich sind, gibt es in anderen Nationen nicht. Darum ist es wichtig, den Menschen zu vermitteln, dass aus der eigenen Region und dem eigenen Land Vertreter im Europäischen Parlament sind. Gute Europapolitik ist nicht nur, regelmäßig zu erzählen, was falsch läuft und negativ ist, sondern Europapolitik im positiven Sinne ist, Politik in unserem Sinne und nach unseren Vorstellungen zu gestalten. Was uns wichtig ist, müssen wir in den europäischen Prozess einbringen, an

statt immer nur zu erzählen, was die Kommission nicht machen soll.

(Beifall bei der CSU)

Zu einer Zwischenintervention, Herr Kollege Güller.

Kollege Radwan, Sie haben soeben kritisiert, dass Sozialdemokraten auf europäischer Ebene gegen Lohndumping Mindestlöhne fordern. Deshalb frage ich, ob Ihnen die Systematik der europäischen Gesetzgebung bekannt ist. Auf europäischer Ebene werden Mindeststandards festgesetzt. Das sind Standards, die in keinem der einzelnen Mitgliedstaaten unterschritten werden dürfen. Es widerspricht sich nicht, dass man dann - was die Sozialdemokraten auch fordern, was aber bisher an Ihnen in der Koalition im Bund scheiterte - die Mindestlöhne in Deutschland erhöht. Wir wollen einen Mindeststandard auf europäischer Ebene, und wir wollen bessere Standards in Deutschland. So funktioniert Europa. Ich hoffe, dass das inzwischen auch bei Ihnen angekommen ist.