Frau Präsidentin, die Uhr geht leider falsch. Ich hätte noch vieles zu sagen, möchte aber zum Abschluss folgende Forderung deutlich formulieren:
Wir vonseiten der SPD fordern einen Sozialbericht, der diesen Namen verdient, der aktuelle Zahlen enthält und der die Voraussetzung dafür ist, dass in diesem Land Armutsbekämpfung überhaupt stattfi nden kann.
(Anhaltender Beifall bei der SPD – Franz Maget (SPD): Das können wir jetzt bei Herrn Joachim Unterländer abziehen!)
Verehrte Kolleginnen und Kollegen, bevor ich im Aufruf der Wortmeldungen fortfahre, möchte ich dem Hohen Haus bekannt geben, dass sich Frau Staatsministerin Stewens beim Präsidenten des Bayerischen Landtags für heute mit folgender Begründung entschuldigt hat: Sie ist heute auf Einladung der Beauftragten der Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge und Integration bei einer Besprechung der Länder.
Nächste Wortmeldung: Herr Kollege Unterländer. Bitte schön, Herr Kollege Unterländer, Sie haben das Wort.
Sehr geschätzte Frau Präsidentin, meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich begrüße es außerordentlich, dass wir uns heute mit dem Thema der Armutsentwicklung im Freistaat Bayern auseinandersetzen. Es ist eine zentrale gesellschafts- und sozialpolitische Aufgabe, dass wir uns im Hohen Haus austauschen.
Herr Kollege Wahnschaffe, ich habe aber erlebt, dass Sie diese Chance auf eine vernünftige sachorientierte Diskussion vertan haben. Sie haben sich hier lediglich auf Vorwürfe begrenzt, ohne auf Analysen und Konzepte einzugehen, und das ist für die Politik dieser Landtagsopposition symptomatisch, die hier Probleme konzeptionslos anspricht.
Die Diskussion über die Armut – darauf möchte ich mich ausdrücklich konzentrieren – darf sich eben nicht auf das Abspulen von Zahlen zur Situation der Sozialhilfeempfänger in diesem Land beschränken, sondern wir müssen die Scherenentwicklung, das Auseinanderdriften, das angesprochen worden ist, stärker in den Fokus nehmen.
Herr Kollege Wahnschaffe, es ist wirklich unbehelfl ich, hier das Bayerische Kinderbildungs- und -betreuungsgesetz als eine Ursache für Armut zu nennen; das ist absoluter Unsinn. Wir haben für die Kinderbetreuung in den Haushalt zusätzliche Mittel aufgenommen. Es hat in den letzten Jahren beim Ausbau der Kinderbetreuung eine Steigerung über 40 % gegeben. Hier von Sparmodellen zulasten der sozial Schwächeren zu reden, ist schlichtweg falsch.
Lassen Sie mich im Zusammenhang mit Ihren Ausführungen ein Zweites ansprechen: Sie sprechen von Hartz IV und den Beziehern von ALG II. Es ist sicherlich begründet, sich mit der Situation dieser Menschen zu befassen.
Aber Sie wollen hier als Partei Ihre Mitverantwortung für Hartz IV in den Hintergrund rücken; auch das ist schlichtweg falsch. Erinnern Sie sich bitte an die Verantwortung, die gerade die frühere rot-grüne Bundesregierung bei Hartz IV hatte.
Die Armutssituation von Menschen zeigt, dass es zwischen der positiven wirtschaftlichen Entwicklung eines Landes, einem guten Arbeitsmarkt und der Armutsbekämpfung einen klaren Zusammenhang gibt. Deshalb ist es eben nicht verwunderlich, dass im Freistaat Bayern mit der zweitniedrigsten Arbeitslosenquote und der niedrigsten Zahl an Sozialhilfeempfängern zum Beispiel auch die Verschuldung geringer ist. Es helfen weder Hartz IV noch sonstige Veränderungen, wenn es nicht gelingt, die Arbeitslosigkeit abzubauen. So verschiebt sich für mich auch die Fragestellung der Armutsbekämpfung. Unsere Frage muss lauten: Wie gelingt es, Wege aus der Armut zu begehen und im Sinne eines aktivierenden Sozialstaates präventiv zu verhindern, dass Menschen in Langzeitarbeitslosigkeit gelangen und so einem hohen Armutsrisiko ausgesetzt sind? Darauf wird Herr Kollege Sailer noch eingehen.
Die beste Armutsvermeidungsstrategie ist deshalb eine gute Wirtschafts- und Arbeitsmarktpolitik. In der Frage, wie ich dem Trend zum Auseinanderdriften unserer Gesellschaft begegnen kann, ist unter anderem die Wirtschafts- und Arbeitsmarktpolitik ein Lösungsansatz. Der zweite Lösungsansatz aber ist die Herstellung von Chancengerechtigkeit in und durch die Bildungspolitik. Daher gilt für uns insbesondere auch die Herausforderung, Kindern und Jugendlichen ohne Schulabschluss und mit Migrationshintergrund durch bildungspolitische Maßnahmen eine Perspektive zu geben.
Armut ist auch ein Thema persönlicher Einschränkungen und Behinderungen. Diese Benachteiligungen führen immer häufi ger zur Privatinsolvenz oder zu hoffnungsloser Überschuldung. Ich muss Ihnen ehrlich sagen, nach den Zahlen einer wissenschaftlichen Untersuchung kommen immer mehr Menschen in eine ausweglose Situation. Da besteht großer Handlungsbedarf. Es ist für uns eine große Aufgabe, den Menschen mit Insolvenzberatung, über die wir sehr lange diskutiert haben, und mit einer Begleitung eine Lebensstruktur zu geben, damit sie dieser Armutssituation begegnen können.
Es ist auch ein Anstieg von Armut bei Familien nachgewiesen. Kolleginnen und Kollegen, es ist ein Skandal, wenn Kinder ein Armutsrisiko sind.
Hier geht es darum, Hilfe zur Selbsthilfe zu gewähren. Im Sinne einer Entscheidungsfreiheit für Familien ist es auch notwendig, materielle Entlastungen zu geben. Deswegen hat sich die CSU-Landtagsfraktion für eine Fort
setzung der Gewährung des Landeserziehungsgeldes ausgesprochen. Sie müssen sehen, dass Bayern neben drei anderen Bundesländern das einzige ist, das diesen Schwerpunkt setzt, der auch zur Bekämpfung von Armut bei Familien dient. Frau Kollegin Dodell wird auf die familienpolitischen Fragestellungen noch eingehen.
In Zukunft wird es in unserer Armutsbekämpfungsstrategie darum gehen, gesellschaftliche Veränderungen sensibel wahrzunehmen und darauf zu reagieren. Es gab in der Diskussion in den Siebziger- und Achtzigerjahren die von Heiner Geißler aufgeworfene „neue soziale Frage“ und in den Neunzigerjahren die These von den „Modernisierungsverlierern“. Gerade die aktuelle Diskussion – auch hervorgerufen durch die Studien der Bertelsmann-Stiftung und der Friedrich-Ebert-Stiftung – knüpft daran an.
Handlungsauftrag ist es, die Perspektiven von arbeitslos gewordenen älteren Menschen in der politischen Prioritätensetzung in den Vordergrund zu rücken. Die Fragestellung lautet: Wie können sich Familien aus der Armutsfalle befreien? Wie können ALG-II-Bezieher oder ehemalige Sozialhilfebezieher wieder in eine Arbeitsstruktur gebracht werden? Welche Perspektiven haben chronisch Kranke oder Menschen mit Behinderung? Wo gehen die 10 % der Jugendlichen ohne Bildungsabschluss hin? – Bei der Lösung dieser Probleme hilft keine Hau-drauf-Mentalität. Nein, wir müssen uns der Armutsvermeidungspolitik gezielt annehmen. Dazu unternehmen die Staatsregierung und die CSU-Landtagsfraktion immer wieder erfolgreiche Anstrengungen.
Erstens. Eine arbeitsplatzschaffende, wirtschaftsfreundliche und den Arbeitsmarkt stimulierende Politik führt dazu, dass im Freistaat Bayern die Zahlen der Armut im Vergleich zu denen anderer Bundesländer wesentlich geringer sind.
Zweitens. Auch den schulisch weniger Begabten durch eine chancengerechte Bildungspolitik eine Perspektive zu geben, ist eine vorrangige Aufgabe.
Drittens. Wir haben eine Familienförderung, die gerade hilfsbedürftigen Familien eine größere Unterstützung gibt.
Viertens. Wichtig ist eine Politik, die stärker auf Durchschnittsverdiener Rücksicht nimmt. Es ist unsere Aufgabe, diejenigen, die bei Einkommensgrenzen durch alle Raster von Hilfe und Unterstützung fallen, präventiv zu unterstützen, damit sich ihre Situation nicht verschlechtert.
Siebtens. Wir brauchen eine Bereitschaft der Politik, nicht organisierte Interessen noch sensibler wahrzunehmen. Menschen ohne große Verbände im Rücken muss durch unsere Politik eine akzeptable und armutsbekämpfende Perspektive gegeben werden.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, gestatten Sie mir noch einen Hinweis auf die Forderung nach dem Sozialbericht. Sie wissen, dass es auf der Grundlage des Beschlusses des Landtages aus der letzten Legislaturperiode einen Auftrag zur Fortschreibung gibt. Sie wissen, dass wir es abgelehnt haben, dies zu einem Zeitpunkt zu tun, als die Zahlen, insbesondere neue Gesetzgebungsvorhaben wie Hartz IV betreffend, noch nicht zur Verfügung standen. Es wäre unsinnig gewesen, hier einzusteigen. Wir haben außerdem zu berücksichtigen, was die Vereinbarung der Großen Koalition in Berlin zu dem Thema beinhaltet, nämlich dass Sozialberichte auf Bundes- und Länderebene abgestimmt und gemeinsam fortzuschreiben sind. Wollen wir denn isoliert tätig werden, ohne diese Entwicklungen zu berücksichtigen? Vor diesem Hintergrund ist auch der Vermerk im Entwurf des Haushaltsplans zu verstehen.
Frau Präsidentin, wenn Sie mir noch einen Satz gestatten. Herr Kollege Wahnschaffe hatte auch die Möglichkeit, seine Rede zu Ende zu führen.
Kolleginnen und Kollegen, mir ist es wichtig, und ich lade Sie dazu ein, dass wir im Zusammenhang mit dem, was wir im „Forum Soziales Bayern“ diskutiert und entwickelt haben, die Sozial- und Armutsberichterstattung auf eine neue Ebene stellen. Wir wollen nicht nur einen analytischen Teil, sondern wir wollen die Überprüfung von Maßnahmen dahin gehend, ob das, was an sozialpolitischen Instrumenten vorhanden ist, auch tatsächlich greift. Hier muss es eine ständige Überprüfung im Sinne eines Sozialstaats-TÜV geben. Wir werden das berücksichtigen.
Ich denke, wir sollten die Politik für ärmere Menschen und mit ärmeren Menschen so vernünftig und vorausschauend betreiben, dass die Integration all derer, die Unterstützung benötigen, im Freistaat Bayern möglich ist.
Frau Präsidentin, Kolleginnen und Kollegen! Armut ist ein unbequemes Thema, um das Politik und Gesellschaft gern einen Bogen machen. Insbesondere in einem reichen Land wie Bayern wirkt Armut störend; sie wirkt wie ein Schandfl eck, der nicht ins schöne Bild passt. Armut ist ein Schandfl eck, aber nicht für die Armen, sondern für Politik und Gesellschaft.
Die deprimierendste Form von Armut ist Kinderarmut. Armut wird von vielen – nicht nur von konservativen Politikern – zu ihrer Entlastung gern unter den Aspekten von Schuld und Unschuld diskutiert. Wer an seiner Armut scheinbar selbst schuld ist, dem gegenüber fühlt sich die Gesellschaft nicht schuldig, und konservative Regierungspolitik sieht sich damit entlastet. Es ist dann scheinbar nicht ihr Versagen, sondern das persönliche Versagen der Armen. Bei Kindern ist das nicht so leicht. Arme Kinder sind arm, weil ihre Eltern arm sind. In den Debatten über
das Versagen des dreigliedrigen Schulsystems in Bayern wird von Ihnen, Kolleginnen und Kollegen von der CSU, immer wieder die Verantwortung und damit Schuld der Eltern betont. Natürlich haben die Eltern Verantwortung, aber wenn sie ihre Verantwortung aus welchen Gründen auch immer nicht wahrnehmen, dann dürfen eben nicht die Kinder darunter leiden.
Wie groß die Fehler und Mängel ihrer Eltern und deren echtes oder nur vermeintliches Versagen auch immer sein mögen, die Kinder sind schuldlos, und davon muss Politik in Bayern endlich ausgehen.
Kinder können kaum Schuld haben, und Kinder sind die Zukunft unseres Landes. Wer Kinder für das Tun und Lassen ihrer Eltern bestraft, bestraft uns alle. Leider ist genau das in Bayern der Fall: Kinder haften für ihre Eltern. Von den Chancen der Eltern, von ihrem Vermögen, von ihren fi nanziellen, kulturellen und sozialen Möglichkeiten hängen in Bayern die Chancen der Kinder ab, und zwar mehr als in jedem anderen europäischen Land. Die fehlende Chancengerechtigkeit ist das größte Defi zit in Bayern, und wir GRÜNE werden nicht aufhören, diesen skandalösen Missstand zu bekämpfen.
Kolleginnen und Kollegen, Bayern ist ein reiches Land, aber immer mehr seiner Bewohnerinnen und Bewohner haben keine Chance auf einen Anteil am gesellschaftlichen und privaten Reichtum. Ungelernte Jugendliche, Langzeitarbeitslose und Alleinerziehende sind die größten Verlierer der Politik der Staatsregierung. Jedes Jahr gehen 10 % der bayerischen Schülerinnen und Schüler ohne Abschluss von der Schule. Jedes Jahr produziert das bayerische Schulsystem einen Sockel Ungelernter, die schon heute kaum Chancen haben und deren Chancen jedes Jahr noch schlechter werden.
Kolleginnen und Kollegen der CSU, Sie haben schon im Januar auf Ihrer Fraktionsklausur versuchsweise Selbstkritik geübt. Der Titel Ihrer Klausur hieß: „Chancen schaffen für alle“. Das war praktisch ein Schuldeingeständnis. Damit haben Sie endlich zugegeben, dass in Bayern eben viele keine Chance haben. Alois Glück hat am Wochenende noch einmal nachgelegt und gesagt, die CSU wolle – ich zitiere – „allen Menschen Chancen eröffnen, unabhängig von ihrer sozialen und kulturellen Herkunft.“
Das hört sich gut an. Das ist eine echte politische Vision; denn davon sind wir in Bayern noch himmelweit entfernt.