Kolleginnen und Kollegen, der Wahlgang ist geschlossen. Die Wahlergebnisse werden außerhalb des Plenarsaals ermittelt und wie immer später bekannt gegeben. Ich darf zwischenzeitlich mit der Tagesordnung fortfahren, bitte allerdings darum, vorher die Plätze einzunehmen.
Interpellation der Abgeordneten Margarete Bause, Dr. Sepp Dürr, Ulrike Gote u. a. u. Frakt. (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Soziale Lage in Bayern (Drs. 15/3204)
Ich eröffne die Aussprache. Die Redezeit beträgt 30 Minuten pro Fraktion. Für die Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN darf ich Herrn Kollegen Dr. Dürr das Wort erteilen. Bitte schön, Herr Kollege.
Frau Präsidentin, Kolleginnen und Kollegen! Die Staatsregierung hat es bisher nur einmal gewagt, einen Bericht zur sozialen Lage vorzulegen. Spätestens in dieser Legislaturperiode hätte sie nach einem Landtagsbeschluss aus dem Jahr 1996 den zweiten Sozialbericht vorlegen müssen, aber sie weigert sich. Die Bestandsaufnahme von 1998 mit dem hässlichen Befund „Bildungsarmut“ hat sie offenbar zu sehr schockiert; das passt nicht in ihr Bild von Bayern.
Wir sind nicht bereit, die soziale Lage in Bayern zu ignorieren. Dadurch, dass Staatsregierung und CSU weg
schauen und die sozialen Probleme in unserem Land ignorieren, werden sie nicht gelöst. Um konkrete Gegenmaßnahmen vorschlagen zu können, haben die GRÜNEN im Bayerischen Landtag eine eigene Studie zur Bildungsarmut in Bayern vorgelegt. Um aber auch die Staatsregierung zu einer Bestandsaufnahme zu bewegen, haben wir zusätzlich eine Interpellation zur sozialen Lage eingereicht. Eine fundierte Antwort ist uns die Staatsregierung allerdings bislang schuldig geblieben. Aus der Antwort auf unsere Interpellation lassen sich immerhin drei Schlüsse ziehen:
Erstens. Die Staatsregierung weigert sich, der Realität ins Auge zu blicken nach dem Motto: Wer nichts weiß, muss auch nicht handeln.
Drittens. Die soziale Spaltung nimmt zu, insbesondere die Ränder der Gesellschaft werden weiter abgedrängt.
Bildung ist der entscheidende Schlüssel zur Verbesserung der sozialen Lage und der Lebensqualität der Menschen.
Die Staatsregierung kommt ihrer Auskunftspfl icht nicht nach. Sie verweigert klare Aussagen, liefert Falschinformationen oder verdreht die Tatsachen. Ich will nur drei Beispiele für diese Vogel-Strauß-Politik der Staatsregierung nennen. Wir haben gefragt: Welche fi nanziellen Mittel müssen für ein, zwei und drei kostenfreie Kindergartenjahre aufgewandt werden.
Die Antwort lautet: Wissen wir nicht, interessiert uns nicht; denn die Elternbeiträge stellen kein Hindernis für den Besuch des Kindergartens dar. – Das haben wir zwar nicht gefragt – wir hätten lieber eine Antwort auf unsere Fragen gehabt –, aber die Staatsregierung interessiert das offensichtlich nicht.
Bei der Frage nach regionalen Unterschieden bei der Sterblichkeit antwortet die Staatsregierung: Wir haben einen Bericht machen lassen, der Bericht liegt uns auch vor, aber wir geben ihn euch nicht. An anderer Stelle, befragt nach den Bildungschancen von Migrantinnen, kommt die Staatsregierung zu folgender überraschender Schlussfolgerung: „Der Erfolg der Fördermaßnahmen lässt sich auch über die Bildungsbeteiligung ausländischer Schülerinnen und Schüler ablesen.“ Belegt wird der Erfolg damit, dass im Schuljahr 2002/2003 mit 56,6 % genau so viele Ausländerinnen und Ausländer auf die Hauptschule gehen wie vor fünf Jahren – das ist der
Erfolg –, während ihr Anteil an Gymnasien sogar noch leicht gesunken ist. So weit Ihre Fördermaßnahmen; die waren höchst hilfreich.
Unsere Fraktion lässt sich diese Art der Auskunftsverweigerung nicht bieten. Wir haben bereits am 19. Januar dieses Jahres eine Organklage zum Fragerecht der Abgeordneten eingereicht, nachdem die Staatsregierung in ihren Antworten auf eine zunehmende Zahl von Anfragen unsere Rechte aus Artikel 13 und 16 a der Bayerischen Verfassung verletzt hat. Mittlerweile haben wir das Verfassungsgericht auch auf die vorliegende Antwort auf unsere Interpellation hingewiesen als Beispiel dafür, dass die Staatsregierung in Sachen Auskunftsverweigerung eine unverbesserliche Wiederholungstäterin ist.
Nun zur Interpellation selbst: Die Interpellation untermauert das gravierendste Defi zit der bayerischen Politik. Die Startchancen für den sozialen Aufstieg sind ungerecht verteilt. Herkunft, Geschlecht und sozialer Status der Eltern haben in Bayern einen erheblich größeren Einfl uss auf Werdegang und Karrieremöglichkeiten als anderswo in Europa. Das heißt auch, dass sich Leistung nirgendwo so wenig lohnt wie in Bayern. In Bayern gilt die Devise: Wer hat, dem wird gegeben, wer nicht hat, ist selbst schuld, und wer sich anstrengt, hat Pech gehabt.
Ich greife drei Beispiele für die fehlende Chancengerechtigkeit heraus: Bildungsarmut, fehlende Geschlechtergerechtigkeit, regionale Unterschiede: Als erstes Stichwort nenne ich die Bildungsarmut. Jedes Jahr produziert das bayerische Schulsystem einen Sockel Ungelernter, die heute schon kaum Chancen auf dem Arbeitsmarkt haben und deren Perspektiven jedes Jahr schlechter werden. Der größte Skandal aber ist, dass Bildungsarmut in Bayern vererbt wird. Darauf hat schon der Sozialbericht der Staatsregierung vor sieben Jahren hingewiesen; Kollegin Dodell, wenn Sie ihn gelesen hätten, wüssten Sie das. Die Pisa-Studie hat es bestätigt: Nirgendwo in Europa ist der Bildungserfolg von Kindern so sehr an die soziale Herkunft gekoppelt wie in Bayern.
Lesen Sie das doch nach! Ich wette, keiner von Ihnen hatte die Pisa-Studie damals in der Hand. Ich bin sofort bereit, darauf zu wetten. Sie reden zwar gescheit daher, haben aber keine Ahnung von den ganzen Fragen.
Ich lese Ihnen vor, was drin steht. So besagt die Studie, dass ein Facharbeiterkind von vornherein im bayerischen Schulsystem zehnmal geringere Chancen hat, auf das Gymnasium zu kommen, als das Kind eines Ministerialbeamten. Das steht da drin. Bestehen dann die gleichen Chancen, wenn beide Kinder nachweislich die gleiche Leistung erbringen? – Überhaupt nicht, dann sind die Chancen des Beamtenkindes immer noch sechsmal höher. Das ist das bayerische System, jedenfalls für die Kinder aus den unteren Schichten: Leistung lohnt sich nicht. Das bedeutet, dass viele der Kinder und Jugendlichen, auf deren Leistungen wir beim aktuellen Länderver
gleich stolz sind, vom bayerischen Schulsystem für ihre Leistungen nicht belohnt, sondern bestraft werden.
Auch noch andere haben in Bayern das Nachsehen, nämlich Frauen. Bei den Karrierechancen für Frauen liegt Bayern europaweit ganz hinten, etwa mit dem blamablen niedrigsten Anteil von Frauen mit Professuren. Bayerischen Frauen wird es durch Ihre Politik, Kolleginnen und Kollegen der CSU, außergewöhnlich schwer gemacht, Familie und Beruf in einem Lebenslauf zu vereinen. Vielen Frauen bleibt nur ein Entweder – Oder. Die Folgen sind Armut und Arbeitslosigkeit bei Alleinerziehenden sowie eine im europäischen Vergleich unterdurchschnittlich niedrige Geburtenrate.
Schließlich nenne ich noch das regionale Süd-NordGefälle. Es gibt nicht nur ein drastisches wirtschaftliches Gefälle, sondern auch gravierende Unterschiede in Sterblichkeit, Krankheitsrisiken, Lebenserwartung und Bildungsniveau zwischen dem Süden und dem Nordosten Bayerns. Nirgendwo ist die Kluft zwischen den Zukunftschancen einzelner Regionen so groß wie in unserem Land. Das haben verschiedene Studien bestätigt. Dadurch nimmt gleichzeitig die soziale Spaltung zu; denn die Schere zwischen dem Norden und dem Süden Bayerns, zwischen den Jugendlichen aus so genannten Normalfamilien und aus benachteiligten sozialen Verhältnissen, zwischen Migrantinnen und Migranten und deutscher Bevölkerung klafft immer weiter auseinander. Gerade männliche Jugendliche aus sozial schwachen Verhältnissen setzen Sie, Kolleginnen und Kollegen der CSU, einem verhängnisvollen Trend aus, der heißt: jung, männlich, chancenlos. Immer mehr – viel zu viele – junge Männer drohen, ihr Leben lang auf dem sozialen und wirtschaftlichen Abstellgleis zu landen. Diese verhängnisvollen Entwicklungen wird meine Kollegin Renate Ackermann später noch genauer beleuchten.
Bereits jetzt kann man aber sagen: Diese Defi zite Ihrer Gesellschaftspolitik, Kolleginnen und Kollegen der CSU, ziehen schon heute enorme Folgekosten nach sich und bedeuten enorme Hypotheken auf unser aller Zukunft. Wer heute keine Chance hat, wird morgen erst recht keine haben. Diese Menschen, die von Ihnen heute keine Chance bekommen, werden sich selbst und uns allen noch Jahrzehnte zur Last fallen müssen. Deswegen müssen wir dringend investieren; denn Investitionen in die Chancen der Menschen, in ihre Fähigkeit, ihr Leben selbst in die Hand zu nehmen, zeitigen die größte Rendite.
Wer heute nicht handelt, lässt andere morgen dafür doppelt zahlen. Das ist wirklich keine nachhaltige Politik.
Was kann also die Staatsregierung tun, um die soziale Lage zu verbessern? – Sie kann eines nicht tun, um es gleich deutlich zu sagen: Sie kann nicht die Versprechen
einlösen, die Ministerpräsident Stoiber vollmundig vor über zehn Jahren gemacht hat und die er in diesem Wahlkampf leichtfertig erneuert. Der Ministerpräsident verspricht seit mehr als zehn Jahren, mehr Arbeitsplätze zu schaffen. Tatsächlich aber hat er den Menschen das Leben schwerer gemacht durch Einschnitte in soziale Leistungen, dadurch, dass er viel zu wenig in Bildung investiert und Maßnahmen zum Schutz unserer natürlichen Lebensgrundlagen blockiert. Tatsache ist auch: Nirgendwo sind in den letzten Jahren die Arbeitslosenzahlen so gestiegen wie bei uns. Die Politik nach dem Motto „Sozial ist, was Arbeit schafft“ ist gescheitert.
Auch dieser Slogan ist schon zehn Jahre alt. Diesen Spruch schleppt die Staatsregierung schon zehn Jahre mit sich, und er wird durch ständiges Wiederholen nicht richtiger. Er ist bis heute nicht eingelöst worden. Abgesehen davon, dass längst nicht jede Arbeit sozial ist – das müssten auch Sie wissen, Kolleginnen und Kollegen der CSU –, ist es auf keinen Fall sozial, Hilfen und Leistungen zu kürzen. Sozialabbau ist unsozial, selbst wenn er auf der Grundlage des vagen Versprechens von mehr Arbeitsplätzen gemacht wird. Es ist verantwortungslos, denen, die keine Arbeit haben, auch die übrigen Möglichkeiten zu nehmen, sich selbst zu helfen und ihre Lage zu verbessern.
Außer Arbeit und Einkommen beeinfl ussen nämlich noch andere Faktoren die Lebensqualität der Menschen, zum Beispiel Bildung, Gesundheit, Wohnsituation, soziale Teilhabe und Mitsprache, Umwelt und der Zugang zur Kultur. Hier muss die Politik, die die soziale Lage verbessern will, ansetzen. Was muss die Staatsregierung also tun? –
Erstens. Sie muss endlich Daten erheben; denn nur wer Armutsverläufe und gescheiterte Bildungskarrieren kennt, kann effi zient Hebel ansetzen. Deswegen fordern wir die Fortschreibung des bayerischen Sozialberichts.
Zweitens. Die bayerische Bildungspolitik muss endlich ihr größtes Defi zit korrigieren – die fehlende Chancengerechtigkeit.
Dazu bräuchte Bayern wirklich Bildungsinvestitionen auf dem internationalen Niveau, von dem Ministerpräsident Dr. Stoiber redet, es aber nicht erreicht. Vor allem aber bräuchte Bayern ein modernes bildungspolitisches Konzept. Wir haben dazu viele Vorschläge unterbreitet.
Drittens. In Bayern fehlt eine ganzheitliche aktive Integrationspolitik. Auch dazu haben wir Eckpunkte vorgelegt mit konkreten Maßnahmen für alle Politikfelder. Integration – das will ich deutlich sagen – bedeutet, die Ausgrenzung zu beenden und Hindernisse abzubauen.
Das gilt auch für den vierten Punkt. Sorgen Sie endlich für Geschlechterdemokratie. Auch dazu haben wir genügend Vorschläge gemacht. Sie müssen sie nur umsetzen.
Fünftens. Stärken Sie die Selbsterneuerungskraft der Regionen, zum Beispiel durch dezentrale Strukturen bei der Energieversorgung, wie sie das Erneuerbare-Energien-Gesetz – EEG – fördert. Rot-grün hat viel vorangebracht, um die Selbsterneuerungskraft der Regionen zu stärken.
Von der Mehrheitsfraktion im Bayerischen Landtag haben wir solches noch nicht mitbekommen, im Gegenteil: Sie reden davon, Sie wollen die Innenstädte der Mittelzentren stärken; was Sie machen, ist, Einkaufszentren auf der grünen Wiese zu genehmigen und Ämter zu schließen. Das ist keine Stärkung, sondern eine Schwächung der Mittelzentren.