Protocol of the Session on April 19, 2002

Ich versichere Ihnen, vom Heiraten allein wird man nicht schwanger. Dies kam so rüber, als Herr Ministerpräsident von der Regenerationsfähigkeit sprach und ausführte, dass wir dazu Familien bräuchten. Man muss nicht heiraten, um schwanger zu werden. Überall dort, wo Kinder sind – unabhängig vom Familienstand –, muss entlastet werden. Materielle Armut führt zwangsläufig zur Chancenungleichheit. Die GRÜNEN auf Bundesebene haben das erkannt. Wir müssen für die Absicherung von Familien, aber auch für die Absicherung anderer Lebensformen sorgen. Deshalb haben wir den finanzierbaren Vorschlag einer Kindergrundsicherung vorgelegt. Ich betone die Worte „den finanzierbaren Vorschlag“. Der Mehrbelastung Alleinerziehender durch den stufenweisen Abbau des Haushaltsfreibetrages muss entgegengewirkt werden. Dieser Haushaltsfreibetrag muss anderweitig ersetzt werden. Wir geben zu, dass nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts auch andere Änderungen nötig sind.

Weiterhin fordern wir GRÜNEN, dass Eltern ihre erwerbsbedingten Betreuungskosten abziehen können.

Wir werden uns dieser Diskussion sehr selbstbewusst stellen, weil wir moderne Konzepte haben.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Diese Konzepte sind an den Wünschen der Frauen ausgerichtet und dienen nicht dazu, alte Rollenverteilungen festzuschreiben, wie wir das heute wieder gehört haben. Man kann es bedauern, dass tradierte Lebensmodelle nicht mehr hundertprozentig tragen. Wir können auch über die Spaßgesellschaft lamentieren. Das bringt uns aber nicht weiter; denn wir müssen darauf politisch reagieren. Wer darauf nicht reagiert, handelt fahrlässig. Als Kanzler hätte Herr Stoiber Richtlinienkompetenz. Man würde dann von ihm erwarten, dass er den politischen Weg vorgibt. Wie sieht dieser Weg jedoch aus? – Der Weg vom Wohlfahrtsstaat zur gesellschaftlichen Teilhabe war sehr lang. Behinderte sind nicht länger Almosenempfänger. Unverheiratete Schwangere müssen die Stadtmauern nicht mehr verlassen. Homosexuelle werden nicht ins Zuchthaus verbracht, und Sozialhilfeempfänger gelten zumindest offiziell nicht mehr als Bittsteller. Alle diese Entwicklungen sind nicht dem Innovationsgeist der CSU zu verdanken, sondern den tiefgreifenden Reformen der Siebzigerjahre, gegen die die konservative Seite und insbesondere die CSU damals schwer gewettert hat.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Viele haben mit diesen Reformen heute noch ihre Probleme. Das erleben wir zum Beispiel in den Diskussionen über die eingetragenen Lebenspartnerschaften.

Herr Staatsminister Zehetmair hat sich zu sehr eigenartigen Äußerungen über Homosexuelle und zur Verantwortung für den 11. September hinreißen lassen. Ein anderes Beispiel ist die Internetseite von Herrn Geis. Ich muss sagen: Hier ist noch sehr viel zu tun. Die Siebzigerjahre sind bei vielen Leuten noch längst nicht aufgearbeitet.

In der Diskussion stehen wir derzeit an einem Scheideweg: Wollen Sie eine Reformpolitik, die den Wertewandel begleitet? Ich frage mich dabei, ob wir tatsächlich einen Wertewandel haben oder ob die Werte vielleicht nur eine andere Ausformung bekommen haben. Wir werden uns entscheiden müssen, ob wir für Stillstand sind oder ob wir uns mit diesem Wandel begleitend beschäftigen. Wir sagen: Der Ministerpräsident steht für Stillstand. Diesen Stillstand haben wir unter Herrn Kohl bereits quälend erlebt. Dafür besteht bei uns kein weiterer Bedarf.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Starre Durchhalteparolen aus dem ministeriellen Kuriositätenkabinett helfen weder in der Bildungs- noch in der Integrationspolitik. Mit Parolen wie „Schluss mit der Kuschelpädagogik“ und „Bayern ist kein Einwanderungsland“ kommen Sie, Herr Kollege Stoiber, gesellschaftspolitisch nicht weiter.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Die Zahlenspielereien, die Sie heute wieder beim Thema „Zuwanderung“ betrieben haben, sind unseriös. Sie setzen nämlich die Zahlen nicht in Relation zueinander. Sogar der Bayerische Städte- und Gemeindetag bittet mittlerweile darum, im neuen Landesentwicklungsprogramm den Satz „Bayern ist kein Einwanderungsland“ zu streichen, weil dieser Satz zu hart ist und ausgrenzt.

(Dr. Dürr (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Und weil er nicht stimmt!)

Richtig. Dieser Satz entspricht auch nicht der Realität. Die Diskussion zur Zuwanderung wird von Ihrer Seite zudem sehr unehrlich geführt. Die meisten GreencardKräfte gehen laut Aussage von Herrn Professor Dr. Münz von der Humboldt-Universität, die er bei einer Podiumsdiskussion des Goethe-Instituts gemacht hat, nach Bayern. Das bayerische Sozialministerium wird beim Bundesarbeitsministerium vorstellig, weil es für die Pflege mehr ausländische Pflegerinnen haben möchte. Neben der Handwerkskammer hat auch die IHK festgestellt, dass 50000 Arbeitskräfte fehlen. Deshalb hat die Handwerkskammer mehr Zuwanderung gefordert. Diese Punkte haben Sie in Ihrer Rede weggelassen. Reden und handeln klaffen beim Kandidaten Stoiber weit auseinander. Ihr Auftritt im Bundesrat war keine ausgezeichnete Performance, wie Sie uns das heute weismachen wollten. Deshalb sind Sie für uns in dieser Frage nicht mehr glaubwürdig.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

Sie sprechen von Integration. Gleichzeitig verweigern Sie sich jedem Vorschlag, der den hier in Bayern beheimateten Migranten und Migrantinnen Teilhabe bieten würde. Das beste Beispiel für die Unfähigkeit zu einer grundlegenden Neuorientierung ist die Bildungspolitik. Von einem „Musterschüler Bayern“ kann hier nicht die Rede sein. Sie haben heute wieder mit sehr viel Weihrauch und Kesselschwingen versucht, uns etwas anderes vorzugaukeln. Der Heiligenschein ist nämlich schon weg.

Erstens zeigt die vorletzte Meldung aus dem bayerischen Staatskabinett, dass Sie nicht verstanden haben, worum es in der Bildungspolitik geht. Sie tun so, als ob sie generös an städtische und private Schulen Geld aus der Privatschatulle verschenkten, indem sie statt 60% nunmehr lächerliche 61% der Personalkosten übernehmen. Der Freistaat drückt sich jedoch nach wie vor um die komplette Übernahme, zumindest um eine anständige und ernst zu nehmende Aufstockung dieser Mittel. Die Schulen wurden in den Kommunen oder von Privatleuten jedoch nicht aus Jux und Tollerei eingerichtet, sondern weil es einen Bedarf dafür gab und gibt und der Staat diesen Bedarf nicht gedeckt hat.

Zudem kümmert man sich wenig bis gar nicht um die berufliche Bildung. Sie sagen, Sie würden ein Zeichen für die Vielfalt setzen. Wir sagen, Sie sähen dumm aus, wenn Sie das Angebot von Städten und Privaten nicht hätten.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

Zweitens zeigt die Erklärung aus dem Kabinett vom 09.04., dass die Diskussion um die Qualität der Schulen und die innere Schulreform zum Stillstand gekommen ist, weil Sie verkennen, dass in Bayern Bildung mehr ist als die Aufrechnung von Personalkosten. Bei der Klassenstärke an Grundschulen steht Bayern angesichts des Verhältnisses 24,2 : 22,7 im Vergleich zu den alten Bundesländern schlecht da. Der Freistaat steht bei allen Klassen insgesamt an vorletzter Stelle.

Über Ganztagsbetreuung und Ganztagsschulen brauchen wir nicht zu reden. Es wird zwar ein paar zusätzliche Gelder geben; diese ersten Schritte sind wichtig. Aber man muss auch sehen, wo Bayern steht und wie dramatisch hoch der Nachholbedarf hier ist.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

In Bayern verlassen mindestens 25% der migrierten Schüler die Schule ohne Abschluss und haben nur 19% der Schulabgänger die Hochschulreife – auf Bundesebene sind es immerhin 24,2% –, obwohl die Wirtschaft händeringend nach kompetenten Fachleuten sucht. Sich hier zum Klassenprimus zu erklären, kann nur mit einer sehr eingeschränkten Wahrnehmung erklärt werden; denn selbst wenn Bayern nach der regionalen Auswertung in Deutschland einen Spitzenplatz einnähme, wären wir im europaweiten Vergleich immer noch der Einäugige unter den Blinden. Dies ist doch der Punkt.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Vier Gewinner im Mathematikwettbewerb machen noch keine Spitzenstellung aus.

Ohne Frage besteht auch auf Bundesebene Nachholbedarf, und es muss gegengesteuert werden; denn es gibt auch im bundesweiten Vergleich eine zu hohe Zahl von Schulabgängerinnen und Schulabgängern ohne Abschluss. Allerdings haben wir dies erkannt und bieten dafür Lösungen an.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Aber Sie, Herr Ministerpräsident, haben zu diesem Thema nichts gesagt. Ich habe den Eindruck, Sie glauben, das Problem ließe sich durch Ignorieren beheben. Stattdessen sprechen Sie von Bildung als Holschuld. Das heißt, dass diejenigen Kinder, deren Eltern – aus welchen Gründen auch immer – nicht in der Lage sind, sich die Bildungsangebote zu holen, leer ausgehen. Nennen Sie das wirklich christlich und sozial? Ist es wirklich Ihre Vorstellung von Schulpolitik, dass man diejenigen, die sich die Bildungsangebote nicht holen können, einfach im Abseits stehen lässt? Ich fand diesen Satz so zynisch,

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

dass ich mir nicht sicher bin, ob das bewusst gesagt worden ist oder ob Sie tatsächlich ein solches Weltbild haben.

(Dr. Dürr (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Das ist die Innovation der Fünfzigerjahre!)

Genau. – Ich stelle fest, dass von Ihnen dort, wo es um Chancengleichheit und gesellschaftliche Teilhabe geht, zur Bildungsgerechtigkeit keine Vorschläge zu erwarten sind. Dies finde ich wenig sozial und nicht besonders innovativ.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Auch in Ihrer Sicherheitspolitik ist mehr Schein als Sein. Gerne schmücken Sie sich in der Sicherheitspolitik mit dem Titel „Spitzenreiter“. Tatsächlich können wir uns über eine hohe Aufklärung und geringe Kriminalitätsrate freuen. Erstere verdanken wir sehr engagierten Beamten, die trotz Unterbesetzung, schlechter Ausstattung und Überstunden ihren Dienst versehen. Die geringe Kriminalitätsrate ist laut Bertelsmann-Studie, auf die Sie sich so gerne berufen, der sozialen Kontrolle und der hohen Vereinsdichte im überwiegend ländlich geprägten Raum zuzurechnen, aber gewiss nicht der Sicherheitspolitik in Bayern. In Bayern versehen pro 100000 Einwohner 267 Polizisten ihren Dienst, während es im Bundesdurchschnitt 279 Polizistinnen und Polizisten sind. Laut Deutscher Polizeigewerkschaft fehlen in Bayern 3000 Beamte und Beamtinnen. Die Ausgaben für die Polizei liegen mit 12,6 Millionen e im Bundesdurchschnitt etwa auf gleicher Höhe. Dies ist aber keine Spitzenreiterposition.

(Zuruf von der CSU: Es geht um die Sicherheit, nicht um die Zahlen!)

Im Landtag betonen Sie doch immer die bayerische Spitzenposition. Das von Ihnen vorgestellte Sicherheitspaket ist Bundesdurchschnitt und Bundesniveau. Wo also sind Sie so genial?

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Dass wir in einem Punkt etwas weiter sind, verblüfft mich: Die Bayern scheinen mit 1200 Verurteilten im Vergleich zu durchschnittlich 1047 Verurteilten in den übrigen Bundesländern krimineller zu sein. Die Gefängnisse sind trotz Neubauten überfüllt. In der Betreuung von Gefangenen und damit bei der Resozialisierung mit Unterstützung von Bewährungshelfern und Sozialarbeitern bildet Bayern deutschlandweit das Schlusslicht. Auf diesem Gebiet sind Sie mit Blick auf die Prävention nicht Spitzenreiter.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Das Präventionsprojekt in Nürnberg – ein innovatives Projekt – hat nicht das Staatsministerium, sondern die Polizei selbst entwickelt.

Hinter diesen Sicherheitspaketen steckt nicht mehr und nicht weniger als in anderen Bundesländern auch. Sie sind nicht innovativ, sondern rein repressiv, nicht sozial, sondern kriminalisierend. Sie sind deprimierend, wenn es darum geht, Menschen in die Gesellschaft zurückzuführen und von Rückfällen abzuhalten.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Gesellschaftspolitik ist für uns GRÜNE Kulturpolitik. Nicht gemeint ist damit die Kulturpolitik als höfisches Zeremoniell à la Ministerpräsident Stoiber. Wir meinen mit Kulturpolitik weder den Passauer Aschermittwoch noch den Nockherberg und die Bewahrung toter Denkmäler.

(Dr. Wilhelm (CSU): Was ist ein totes Denkmal?)

Wir meinen damit Kulturpolitik im weiteren Sinne als Motor gesellschaftlicher Entwicklung. Kulturpolitik hat unseres Erachtens nichts mit Beschränkungen und Ausgrenzungen durch eine so genannte Leitkultur zu tun, sondern bedeutet, weltoffene Gesellschaftsmodelle zu entwickeln. Kulturpolitik heißt, sich die Frage zu stellen, wie wir zu welchen Bedingungen solidarisch miteinander leben wollen. Dies umfasst mehr als eine Wirtschaftspolitik mit etwas Beschäftigungspolitik und den Klingelbeutel für die sozial Schwachen. Kulturpolitik bedeutet nach unserer Ansicht den Schutz unserer Lebensgrundlagen, die Achtung aller Lebewesen, das heißt Chancengleichheit, gesellschaftliche Teilhabe und vor allem Integration.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Der Umweltschutz zur Sicherung der Lebensgrundlagen für die kommenden, von Herrn Stoiber so heiß ersehnten, möglichst deutschen Generationen muss Chefsache werden. Es ist bedauerlich, dass der Kanzlerkandi

dat zwar von Tradition und Werten spricht, aber den Erhalt unserer natürlichen Lebensgrundlagen nicht einbezieht und zugunsten überholter Wirtschaftlichkeitsberechnungen sogar bereit ist, diese zurückzustellen. Leider verrechnet er sich bei den wirtschaftlichen Folgekosten oft. Am deutlichsten hat man gesehen, wie er sich beim Donauausbau verrechnet hat.

Umweltschutz dient ihm lediglich zur Sicherung von Hochglanzkulissen auf Werbebroschüren zur Ankurbelung der Tourismusbranche. An der Fortschreibung des Landesentwicklungsprogramms ist am besten abzulesen, dass der ökologische Roll-back aus Bayern auch hier weiter forciert werden soll und was man unter Umweltschutz zu verstehen hat. In den Überschriften im Landesentwicklungsprogramm ist viel von Nachhaltigkeit zu lesen. Sein Inhalt bezieht sich auf nachhaltigen Straßenbau, bedenkliche Forschung mit atomwaffenfähigem Uran im FRM II in Garching, nachhaltige, große Mega-Einkaufszentren auf grüner Wiese, wobei Sie auch da untereinander Rückzugsgefechte auszukämpfen haben. Dies betrifft massive, nachhaltige Eingriffe durch Infrastrukturmaßnahmen. Gestrichen wurde der Erhalt des Naturerbes – ein eigentlich sehr wichtiger Wert –, die Herstellung von Biotopverbünden, der Schutz der Bevölkerung vor zuviel Transitverkehr. Aber dafür bekommen wir das Straßennetz, das auch bei wachsendem Verkehr funktionsfähig bleiben muss – ein echter Ausgleich für den Schutz des Naturerbes.

Die Messung von Umweltradioaktivität soll zwar fortgeführt werden, wird aber nicht mehr als Ziel festgeschrieben.