Aber vielleicht kenne ich sie nur nicht, weil er in den letzten Monaten wenig Worte darüber verloren hat. Vielleicht darf man es auch nicht wissen; vielleicht erwartet uns die große Überraschung ja nach der Wahl.
Manchmal gibt er Antworten. Ich habe mir zum Beispiel auf Phönix die Antworten nach seiner letzten Klausur in Wörlitz angehört. Da muss ich fragen: Haben Sie vorher nicht mit Ihrem Medienberater Herrn Spreng gesprochen? Sie sollten sich zu Themen, von denen Sie nichts verstehen – hier zu Fragen der Krankenversicherung –; nicht äußern. Finger weg davon! Das kann nur in die Hose gehen.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Güller (SPD): Was bleibt denn da? – Zuruf des Abgeordneten Freiherr von Rotenhan (CSU))
Das Schlimme ist: Gerade diese Themen sind die Kernthemen auf Bundesebene. Hier stehen dringende Reformen an.
Nein, es ist einfach ein langer Weg, bis man eine wirklich ganz große Reform auf eine gute Basis stellt. Das wissen Sie eigentlich. Die Sozialversicherungssysteme sind nicht innerhalb von drei Jahren umzukehren. In dieser Zeit kann man nicht alles auf den Kopf stellen, auch wenn es vielleicht nötig wäre.
Die Menschen in Sachsen-Anhalt, aber leider eben nicht nur dort, liefen mit einem Bundeskanzler Stoiber sogar Gefahr, sich in denjenigen Bereichen, in denen sie für den Westen beispielgebend sind, etwa bei der hohen Versorgung mit Kinderkrippenplätzen, mit Kinderbetreuungsplätzen, auf bayerisches Niveau zu verschlechtern.
Meine Herren und Damen, die Ausflüge in die Bundespolitik waren heute ja sehr umfangreich. Aber wir sind hier im Landtag,
und ich möchte anhand von drei Landesthemen, nämlich Wirtschafts-, Gesellschafts- und Umweltpolitik, deutlich machen, was wir von der Interpretation der Begriffe innovativ, sozial und erfolgreich durch den Kandidaten Stoiber halten können, wie wenig glaubwürdig seine Ausführungen sind und wie wenig trag- und zukunftsfähig seine Politik ist.
Uns geht es gar nicht darum, Bayern schlecht zu reden. Es geht doch darum – nachdem das heute ja eine Bundestagswahlrede war – festzustellen, ob wir diesem Kandidaten die Lösung der dringenden Probleme zutrauen, ob wir glauben, dass er die Menschen zusammenführt oder ob er sie entzweit, ob wir auch glauben – da er immer betont, sich für Bürgerinteressen einzusetzen; wir überprüfen das auch –, dass er tatsächlich diejenigen stützen kann, die nicht Höchstleistungsansprüchen genügen, oder ob er sie ausgrenzt. Wir wollen wissen: Ist er ein Kanzler für alle oder nur für diejenigen, von denen er glaubt, dass sie ihm nützen?
In Bayern glaubte man sich fälschlicherweise über Jahre hinweg auf der sicheren Seite, weil die Wirtschaft und in Folge davon der Arbeitsmarkt in München und im umliegenden Speckgürtel boomte. Ein rechtzeitiger Blick auf die anderen bayerischen Regionen hätte jedoch gezeigt, dass in Franken, Schwaben und in der Oberpfalz andere Lebensbedingungen herrschen und Arbeitslosenquoten von zirka 13% in Hof und zirka 10% in Nürnberg mit entsprechenden sozialen Folgekosten sicher eine andere gesellschaftliche und kulturelle Entwicklung bedingen als eine Arbeitslosenquote von 4,3% in Erding. Das ist doch klar. Wir wollen also gleiche Chancen für alle bayerischen Regionen.
1996 haben Sie, Herr Ministerpräsident, mit dem Beschäftigungspakt Bayern eine Halbierung der bayerischen Arbeitslosenzahlen bis zum Jahr 2000 zugesagt – das haben wir heute schon gehört. Im März 2002 lag die Zahl bei 405000 Erwerbslosen; 1996 waren es 401000 Erwerbslose. Ich bin der Meinung, dass man angesichts solcher Zahlen sehr sparsam mit dem erhobenen Zeigefinger umgehen sollte, vor allem, wenn er sich gegen Rot-Grün richtet.
Die Einnahmen aus der Einkommen- und Lohnsteuer sinken. Städte und Gemeinden können nicht mehr investieren. Wer das Stadtbild von Sulzbach-Rosenberg mit der Maxhütte kennt und es mit dem Anblick der weißgetünchten Häuser in Starnberg vergleicht, weiß, wovon ich rede. Die Verschuldung der bayerischen Kommunen ist seit 1990 von 12,4 Milliarden e auf 20 Milliarden e, also um 57% gestiegen. Wir sehen uns sehr wohl in Mitverantwortung; denn tatsächlich haben auch wir, aber eben auch das Land dafür zu sorgen, dass sich an dieser Einnahmesituation etwas ändert. Von gleichen oder von der Angleichung von Lebensverhältnissen in allen Regionen kann jedenfalls in Bayern keine Rede sein.
Wenn das der Ministerpräsident im eigenen Land schon nicht schafft, wie soll er dann für Chancengleichheit im
Wettbewerb zwischen Ost und West und vielleicht auch noch im Wettbewerb zwischen Deutschland und Europa sorgen?
Aufgrund der hohen Arbeitslosigkeit steigen die Belastungen der Kommunen mit Sozialabgaben. Zusätzlich klagt der Bayerische Landkreis- und Städtetag, dass nur noch zwischen 13 und 16% der gewerbesteuerpflichtigen Betriebe, überwiegend Klein- und Mittelbetriebe, Steuern zahlen. Das darf nicht so bleiben. Wir haben gesehen, dass es diesbezüglich eine Fehlentwicklung gibt, die es aufzuhalten gilt. Wir GRÜNE sehen uns auf der Bundesebene und auf der Landesebene gefordert und haben Vorschläge zur Entlastung der Kommunen gemacht. Was tragen Sie dazu bei? – Ich konnte hier nicht hören, dass Sie bereit sind, beim Finanzausgleichsänderungsgesetz noch etwas zu tun. Es gab erste Schritte, aber wir wissen genau, dass es noch eine Reihe weiterer gäbe, mit denen wir für eine bessere Situation der Städte und Gemeinden sorgen könnten, zum Beispiel bei den Gastschulbeiträgen.
Auch in Bayern nehmen die Insolvenzen zu. In Bayern hatten wir 2001 einen überdurchschnittlichen Zuwachs an Pleiten in Höhe von rund 30% zu verzeichnen. Überholt wird Bayern dabei nur noch von Niedersachsen und Mecklenburg-Vorpommern. Wie wir aber seit dem letzten Dienstag wissen, sind diese Pleiten nicht so schlimm; das sind ja erfolgreiche Pleiten, weil sie einen Neuanfang beinhalten. In Bayern sind diese Pleiten natürlich noch erfolgreicher als anderswo.
Meine Herren und Damen von der Staatsregierung, auch zukünftig sollten Sie Ihre Pleiten nicht so schwer nehmen; vielleicht findet sich ja auch dafür eine Auffanggesellschaft.
Es stellt sich heraus, dass viel Geld in Branchen investiert worden ist, die sich als Problembranchen entpuppen. Der vielgepriesene Hightech-Bereich – zumindest was Herr Stoiber darunter versteht – schwächelt. Betroffen sind auch Handy- und PC-Hersteller, die Chip-Industrie und Telekommunikationsausstatter. Nokia, Infineon und Siemens sind nur drei Beispiele. Ministerpräsident Stoiber konnte dank seiner berüchtigten Schwäche für den schnellen Erfolg grenzenloses Wachstum vorgegaukelt werden. Er hat die Entwicklungsfähigkeit in diesen Branchen völlig überschätzt. Zu dieser Sparte gehört nämlich auch Pay-TV mit kränkelnder Decoder-Technik, die keiner zu dem angebotenen Preis haben wollte und für die dann auch das Programmangebot einfach nicht ausreichend war – aber man wollte ja einem Freund helfen.
4,15 Milliarden e aus Privatisierungserlösen für viele fragwürdige Gentechnologie-Projekte, durchaus auch für sinnvolle Werkstofftechnik und eben für die Entwicklung von Informations- und Kommunikationstechnologien – das sind Investitionen, die sich eigentlich rechnen
sollten. Bis heute gibt es bei diesen Projekten aber keine Erfolgskontrolle. Von 946 meist ausländischen HightechFirmen sind allein 826 in Oberbayern ansässig. Ich befürchte, das wird sich bitter rächen, wenn der Verdrängungswettbewerb zunimmt und aus dem Schwächeln eine Krise wird, wie wir am Zusammenbruch des KirchImperiums sehen können.
Auch auf den hochgepriesenen Dienstleistungssektor, etwa die Banken, kann sich der Ministerpräsident nicht mehr als ernsthafte Alternative zu in der Industrie verloren gegangenen Arbeitsplätzen berufen. Wir setzen stattdessen auf eine andere Strategie. Zum Beispiel erreichen wir durch den Einsatz der neuen Energietechnologien, von denen hauptsächlich kleine und mittlere Handwerksbetriebe profitieren, eine breitgestreute Förderung, die sich nicht auf einzelne Regionen konzentriert, und sichern in ganz Bayern Arbeitsplätze, nicht nur in Boom-Regionen.
In Deutschland sind auf diese Weise 120000 neue Arbeitsplätze entstanden. Auch in Bayern gab es eine 100-prozentige Zunahme an zusätzlichen Stellen. Betriebe in Bayern profitierten auch vom Bundesinvestitionsprogramm zur Verminderung von Umweltbelastungen, im bayerischen Polling beispielsweise die Ökobäckerei Schwarzmaier, die ihren Betrieb energiesparend umrüsten will und von Bundesumweltminister Trittin unterstützt wird. Das alles sind Projekte, bei denen viele sehr viel haben können.
Vielleicht sollten wir es aber einfach wie in Italien machen; vielleicht sollten wir wie Herr Berlusconi einfach die Bilanzbuchprüfung abschaffen. Das würde dann der Staatskanzlei im Nachhinein sehr viel Schönfärberei ersparen.
In dreieinhalb Jahren gab es eine einzige Regierungserklärung von Minister Wiesheu zum Arbeitsmarkt, und auch nur deshalb, weil im Januar die Arbeitslosenzahlen überproportional in die Höhe schnellten. Betroffen sind vor allem Jugendliche bis 25 Jahre, Alleinerziehende und Menschen ab 45 Jahren. Welche innovativen und sozialen Vorschläge haben Sie, Herr Ministerpräsident, für Erwerbslose? Das kam heute in Ihrer Rede nicht vor.
Billigjobs à la USA, Sanktionen für angeblich Arbeitsunwillige, mehr Scheinselbstständigkeit durch die von Ihnen angekündigten Gesetzesänderungen – wir GRÜNE bevorzugen das GRÜNE-Sieben-Punkte-Bundesprogramm mit seinem gesamtwirtschaftlichen und gesamtgesellschaftlichen Ansatz, über das wir im Landtag bereits diskutierten.
Im Osten Deutschlands wäre ein Ministerpräsident Stoiber mit seiner Wirtschaftspolitik gnadenlos baden gegangen. Im Osten gab und gibt es nämlich kein Tafelsilber, sprich Privatisierungserlöse für Anschubfinanzierungen, die Sie wie hier in Bayern auf Kosten der Steuerzahlerinnen und Steuerzahler verteilen könnten, Volksvermögen, das unwiederbringlich verloren ist – von
den Mitnahmeeffekten einzelner Branchen, die das gar nicht nötig hätten, ganz zu schweigen. Jetzt gibt es keine nennenswerten Beteiligungen mehr. Etwas hat man sich noch für die Wahl Ende 2003 aufgehoben, aber das war es dann schon. Ich bin sehr auf die Wirtschaftspolitik gespannt, die dann folgt. Wollen Sie eine solche Wirtschafts- und Arbeitsmarktpolitik wirklich unter die Begriffe „innovativ, sozial und erfolgreich“ subsumieren und tatsächlich auf ganz Deutschland übertragen? Das wird nicht funktionieren.
Die Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik ist für den Kanzlerkandidaten kein Thema. Er hat dazu heute zwar ein paar Ausführungen gemacht – das Ganze unter der Überschrift „sozial“ –, doch mit Gerechtigkeit, Chancengleichheit und Teilhabe hat dieser Begriff beim Kandidaten Stoiber nichts zu tun.
An der Gesellschaftspolitik zeigt sich für uns am deutlichsten, dass vom Kanzlerkandidaten Stoiber keine Erneuerung und keine Zusammenführung auseinander driftender kultureller Lebensstile zu erwarten ist. Seine alten Gesellschaftsbilder sind Blendwerk aus Gartenlaubenromanen oder aus Werken von Utta Danella. Das ist zwar sehr putzig, doch es ist weder innovativ noch sozial. Im Gegenteil: Sein Gesellschaftsbild nimmt Entwicklungen nicht wahr oder verdrängt sie. Es nützt nichts, das Hohelied der Familien anzustimmen, wenn damit gleichzeitig viele andere Lebensformen ausgegrenzt werden.
Für uns muss der Schutz der Schwachen im Vordergrund stehen, nicht die Bewahrung von Vorstellungen aus einer Kuschelromantikecke, wonach es die, die in der lauschigen Laube sitzen, gut haben sollen, während die anderen im Regen stehen gelassen werden. Zirka 2% aller bayerischen Haushalte beziehen Sozialhilfe, davon sind 73124 Kinder und Jugendliche betroffen. Fast jeder fünfte bayerische Haushalt wird als arm eingestuft. Wir haben darüber gestern sehr ausführlich diskutiert. Nürnberg hat die höchste Sozialhilfedichte. Ich möchte damit deutlich machen, wie groß die regionalen Unterschiede sind. In Nürnberg beziehen von 1000 Menschen 56 Sozialhilfe. In München sind es dagegen nur die Hälfte. 70% der bezugsberechtigten Haushalte sind Single-Haushalte oder Haushalte Alleinerziehender. Wir müssen uns über alle Ausgegrenzten Gedanken machen, nicht nur über einen Teil.
Gleichzeitig verfügt ein Zehntel der Haushalte in Bayern über 42% des gesamten Privatvermögens. Ich finde das erstaunlich. Wir müssen uns überlegen, wie wir mit dieser Zahl umgehen. Mit sozialer Gerechtigkeit hat das in meinen Augen nichts zu tun.
Kinder – das ist nicht neu – sind ein Armutsrisiko. Für Alleinerziehende gilt das insbesondere deshalb, weil Kinderbetreuungsplätze fehlen, die ihnen eine Berufsaufnahme ermöglichen würden. 495000 Haushalte sind
an der Armutsgrenze und erhalten ergänzende Hilfen. Ich denke dabei auch an Hilfen wie das Wohngeld, das von Ihnen ab 1990 nicht mehr erhöht oder angepasst worden ist. Erst die rot-grüne Regierung hat eine Anpassung vorgenommen. Das war richtig.
Ich versichere Ihnen, vom Heiraten allein wird man nicht schwanger. Dies kam so rüber, als Herr Ministerpräsident von der Regenerationsfähigkeit sprach und ausführte, dass wir dazu Familien bräuchten. Man muss nicht heiraten, um schwanger zu werden. Überall dort, wo Kinder sind – unabhängig vom Familienstand –, muss entlastet werden. Materielle Armut führt zwangsläufig zur Chancenungleichheit. Die GRÜNEN auf Bundesebene haben das erkannt. Wir müssen für die Absicherung von Familien, aber auch für die Absicherung anderer Lebensformen sorgen. Deshalb haben wir den finanzierbaren Vorschlag einer Kindergrundsicherung vorgelegt. Ich betone die Worte „den finanzierbaren Vorschlag“. Der Mehrbelastung Alleinerziehender durch den stufenweisen Abbau des Haushaltsfreibetrages muss entgegengewirkt werden. Dieser Haushaltsfreibetrag muss anderweitig ersetzt werden. Wir geben zu, dass nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts auch andere Änderungen nötig sind.