Protocol of the Session on October 18, 2000

Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Ich eröffne die 48. Vollsitzung des Bayerischen Landtags. Presse, Funk und Fernsehen sowie Fotografen haben um Aufnahmegenehmigung gebeten. Die Genehmigung wurde, Ihre Zustimmung vorausgesetzt, erteilt.

Meine sehr geehrten Damen und Herren, ich bitte Sie, eines ehemaligen Kollegen zu gedenken.

(Die Anwesenden erheben sich)

Am 16. Oktober verstarb Herr Manfred Humbs im Alter von 74 Jahren. Er gehörte dem Bayerischen Landtag von 1978 bis 1986 an und vertrat für die CSU den Stimmkreis Schwandorf. Als engagierter Lehrer und Kommunalpolitiker brachte er seine Erfahrung in die parlamentarische Arbeit ein und wirkte unter anderem in den Ausschüssen für Fragen des öffentlichen Dienstes und für Sozial-, Gesundheits- und Familienpolitik. Sein ganzer Einsatz galt der politischen Entwicklung Bayerns und den Menschen in seiner oberpfälzischen Heimatregion. Der Bayerische Landtag wird dem Verstorbenen ein ehrendes Gedenken bewahren. Sie haben sich zu Ehren des Toten von Ihren Plätzen erhoben. Ich danke Ihnen.

Meine Damen und Herren, bevor wir in die Tagesordnung eintreten, möchte ich noch einem prominenten Geburtstagskind meinen Glückwunsch aussprechen. Heute feiert Herr Landtagspräsident Johann Böhm Geburtstag. Im Namen des Hohen Hauses und persönlich gratuliere ich Ihnen, Herr Kollege Böhm, zu Ihrem Ehrentag sehr herzlich und wünsche Ihnen gute Gesundheit sowie viel Freude und Erfolg bei der Bewältigung Ihrer Aufgaben im bayerischen Parlament, dem Sie seit 26 Jahren angehören. Gleichzeitig danken wir Ihnen für die kollegiale Zusammenarbeit im Präsidium und im Ältestenrat und wünschen Ihnen alles Gute für den heutigen Tag.

(Allgemeiner Beifall)

Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich rufe auf:

Tagesordnungspunkt 4

Aktuelle Stunde

Für die heutige Sitzung ist die Fraktion der SPD vorschlagsberechtigt. Sie hat eine Aktuelle Stunde zum Thema „Bayerns Zukunft in Europa“ beantragt. In die Beratung beziehe ich ein:

Dringlichkeitsantrag der Abgeordneten Glück, Zeller und anderer und Fraktion (CSU)

EU-Grundrechte-Charta darf nicht zu weiteren Kompetenzen für Brüssel führen (Drucksache 14/4452)

Dringlichkeitsantrag der Abgeordneten Maget, Dr. Heinz Köhler, Dr. Hahnzog und anderer und Fraktion (SPD)

Zustimmung zur Charta der Grundrechte der Europäischen Union (Drucksache 14/4453)

Dringlichkeitsantrag der Abgeordneten Paulig, Gote und Fraktion (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Europa gestalten – Grundrechte ausbauen (Drucksa- che 14/4454)

In der Aktuellen Stunde dürfen die Redner grundsätzlich nicht länger als fünf Minuten sprechen. Auf Wunsch einer Fraktion kann einer ihrer Redner zehn Minuten sprechen. Dies wird auf die Gesamtredezeit der jeweiligen Fraktion angerechnet. Wenn ein Mitglied der Staatsregierung kraft seines Amtes das Wort ergreift, wird die Zeit seiner Rede nicht mitgerechnet. Ergreift ein Mitglied der Staatsregierung das Wort für mehr als zehn Minuten, erhält auf Antrag einer Fraktion eines ihrer Mitglieder Gelegenheit, fünf Minuten ohne Anrechnung auf die Dauer der Aussprache zu sprechen. Ich bitte Sie, auf mein Signal zu achten. Der erste Redner ist Herr Kollege Dr. Köhler.

Sehr geehrter Herr Präsident, Herr Staatsminister, liebe Kolleginnen und Kollegen! Die SPD-Landtagsfraktion hat diese Aktuelle Stunde mit dem Thema „Bayerns Zukunft“ beantragt. Die Beratung über dieses Thema ist nicht nur sinnvoll, sondern auch überfällig, weil auf europäischer Ebene eine Vielzahl politischer Entscheidungen anstehen, die unmittelbare Auswirkungen haben und im unmittelbaren Kontext mit der bayerischen Landespolitik stehen.

Ich möchte zunächst das Thema „Osterweiterung“ ansprechen. Dies ist für Bayern kein säkulares Ereignis. Kein Thema überregionaler Art wird solche Auswirkungen auf die Zukunft und auf die Struktur des Standorts Bayern haben wie die Osterweiterung. Bei der laufenden Regierungskonferenz in Nizza geht es um zentrale Fragen, die letztlich auch das Machtgefüge bei Entscheidungen zwischen den verschiedenen Ebenen betreffen. Wir haben vor wenigen Tagen die Charta der Grundrechte der Europäischen Union verabschiedet. Dies war der erste Einstieg in eine europäische Verfassungsdebatte. Deshalb müssen wir die Fragen der Finalität Europas und die Frage der jeweiligen Zuständigkeiten stärker beleuchten.

Seit wenigen Tagen liegt uns eine neue Mitteilung der Kommission über das für Länder, Städte, Gemeinden und Wohlfahrtsverbände zentrale Thema der Daseinsvorsorge vor. Hier stehen wir an einer Wegscheide von Entwicklungen und Traditionen, die wir als deutsches und europäisches Modell bezeichnet haben.

Bei dieser Aktuellen Stunde haben wir Gelegenheit, eine Positionsbestimmung vorzunehmen. Lassen Sie mich eines vorweg sagen: Es ist durchaus positiv und erfreulich, dass es nach wie vor auf nationaler Ebene einen weitgehenden Grundkonsens über die Ziele europäischer Politik gibt. Ich möchte das herausstellen, weil um

die Jahreswende der Eindruck entstanden ist, als wollten CDU und CSU – vor allem die CSU – aus diesem Grundkonsens aussteigen. Dieser Grundkonsens hat mitgeholfen, das erfolgreichste Modell auf diesem Kontinent Wirklichkeit werden zu lassen. Die europäische Integration ist das Essential aller Parteiprogramme und aller Politiker. Sie ist die wichtigste Säule supranationaler Politik in Deutschland und vor allem bei uns in Bayern.

Aus bayerischer Sicht gibt es gar keine Frage: Wir brauchen die Osterweiterung. Sie bietet Chancen und birgt Risiken. Leider wird hauptsächlich über die Risiken gesprochen. Sie bietet nicht nur die Chance auf neue Märkte. Wir können auch über europäische Standards verhindern, dass an einer Nahtstelle mit unterschiedlichen politischen Systemen Sozial– und Umweltdumping entsteht.

(Beifall bei der SPD)

Wir Bayern können das verhindern. Das möchte ich herausstellen.

Ohne Zweifel müssen wir die Finalität Europas stärker in den Mittelpunkt rücken und auch fragen, wer wofür zuständig ist. Wir müssen letztlich die Kompetenzen und Aufgaben sehen, wobei man aufpassen muss, nicht zu formalistisch vorzugehen. Eines ist aber sicher: Ein Weiterwursteln à la Maastricht oder Amsterdam, das heißt ein Vertrag ohne Finalität, ist in Zukunft nicht mehr möglich. Wir müssen uns vor allem um die Daseinsvorsorge kümmern, weil das Teil des deutschen und vor allem europäischen Gesellschaftsmodells ist.

Die europäische Integration hat sich als das erfolgreichste Projekt der Nachkriegsgeschichte des europäischen Kontinents herausgestellt. Sie hat den Frieden gesichert und vor allem mitgeholfen, dass ein supranationales Gebilde auf dem Boden des Rechts entstehen kann. Die europäische Geschichte war eine Geschichte des Strebens nach Hegemonie. Zum ersten Mal in der Geschichte dieses Kontinents kommt es zu Zusammenschlüssen auf der Ebene eines gemeinschaftlichen Rechts und gemeinschaftlicher Werte, und wir haben Wohlstand und soziale Sicherheit weitgehend der europäischen Integration zu verdanken.

In den Zielen insgesamt gibt es keine wesentlichen Unterschiede, wie die letzte Rede des Ministerpräsidenten in Berlin gezeigt hat. Der Ministerpräsident hat dabei in Berlin ferner gesagt: „Europa fällt uns nicht in den Schoß“. Das ist wohl wahr; das kann ich aus unserer Sicht nur unterstreichen. Ich habe aber Zweifel, ob mit den Presseerklärungen und Reden von Mitgliedern der Staatsregierung und des Ministerpräsidenten bei unterschiedlichen Anlässen die notwendige Akzeptanz der europäischen Integration erreicht werden kann; da gibt es noch erhebliche Mängel in der Bevölkerung. Wer das Projekt der europäischen Integration will, muss in der Bevölkerung dafür die nötige Akzeptanz erreichen. Dazu haben auch wir als politische Parteien und die Regierung einen Beitrag zu leisten.

Das bedeutet zwar nicht, dass am Weg dazu keine Kritik geäußert werden kann. Die 15 Länder gehen aus unter

schiedlichen Traditionen an diese Fragen heran, und nicht jede Tradition kann sich durchsetzen. Ich muss aber die maßlose Kritik an dem Projekt der europäischen Integration, die aus Ihren Reihen immer kommt, wenn es gerade günstig ist, als problematisch und kritisch betrachten. Ich erinnere mich noch daran, wie der Ministerpräsident bei einer Veranstaltung zum Thema Euro gesagt hat: Wie können wir denen in Brüssel unser Geld übergeben, wenn sie nicht in der Lage sind, in Jugoslawien für Frieden zu sorgen? Wer so redet, zerredet das Projekt Europa.

(Beifall bei der SPD)

Herr Kollege Zeller, in Ihren Presseerklärungen der letzten Zeit zur Grundrechtscharta war die Rede vom „Megastaat“. Bisher hat man immer vom „Superstaat“ Europa gesprochen, und jetzt kommen wir schon zum Megastaat. Sie arbeiten mit Begriffen, die Europa negativ belegen sollen. Damit machen Sie das Projekt Europa kaputt.

(Beifall bei der SPD – Zuruf von der CSU: Man braucht sich nur den Euro anzuschauen!)

Wir brauchen ein Ja zu Europa und gehen davon aus, dass das auch von Ihnen kommt, obwohl ich daran immer wieder Zweifel habe. Ich denke da an das berühmte Interview des Ministerpräsidenten nach seiner Regierungsübernahme in der „Süddeutschen Zeitung“, in der er den Austritt aus der europäischen Gemeinschaft zur Debatte gestellt hat. Ich denke auch daran, wie Kollege Matschl, der jetzt nicht mehr hier ist, immer vom Zweckverband Europa gesprochen hat. Ich denke auch an Ihre Formulierung vom Europa der Nationen und Regionen. Das würde weiter nichts bedeuten als einen Staatenbund, von dem de Gaulle vor 30 oder 40 Jahren schon als Europa der Vaterländer gesprochen hat. Das ist aber keine supranationale Organisation, die den europäischen Herausforderungen gerecht werden kann und wie wir sie benötigen. Uns ist ein solcher Staatenbund zu wenig; wir wollen ein neues supranationales Gebilde, das es in dieser Form auf dieser Erde noch nie gegeben hat.

Ich warne davor, den Begriff Nation zu stark zu strapazieren. Die Situation innerhalb der europäischen Gemeinschaft ist völlig anders. Die Forderung nach Nationen auf europäischer Ebene ist auch ein Signal an die Gruppierungen, die zum Zerfall von Einzelstaaten beitragen. Catalunya bezeichnet sich nicht als Staat, aber durchaus als Nation. Verbale Europapolitik reicht nicht aus. Wir brauchen ein klares Bekenntnis zur europäischen Integration.

Wir sehen eine Entwicklung sehr kritisch, die im Augenblick auf europäischer Ebene vor sich geht, dass nämlich Deutschland nicht mehr mit einer Zunge spricht. Da spielt vor allem Bayern eine entscheidende Rolle, nachdem der Ministerpräsident Europa als Spielwiese entdeckt hat. Wenn die Bundesregierung und 16 Länderregierungen jeweils ihr eigenes Spiel treiben, wird man Deutschland auf europäischer Ebene nicht mehr wahrnehmen. Das schwächt die Vertretung der Interessen

Deutschlands in der Europäischen Union. Wir brauchen da etwas mehr Sensibilität.

(Beifall bei der SPD)

Ihre Europapolitik leidet unter Ihrer Widersprüchlichkeit, die letztlich auch zu mangelnder Glaubwürdigkeit auf europäischer Ebene führt. Wenn wir im Ausschuss eine Diskussion über ein europäisches Förderprogramm führen, sind Sie strikt dagegen mit der Begründung, dass wir 70% zahlen. Wenn uns aber ein Programm zugute kommt, sind die Vertreter der Staatsregierung die Ersten, die europäische Förderprogramme fordern.

(Zuruf der Frau Abgeordneten Schweder (CSU))

Selbstverständlich, Frau Schweder. Sie scheinen keine Zeitung zu lesen, denn sonst wüssten Sie, was die Vertreter Ihrer Regierung in der Region sagen.

(Beifall bei der SPD)

Es klingt wunderschön, wenn Minister Schnappauf in Oberfranken 4 Milliarden Mark für ein Grenzprogramm fordert. Das konterkariert aber die Politik, die Sie ansonsten betreiben.

(Zuruf der Frau Abgeordneten Schweder (CSU) – Weitere Zurufe von der CSU)

Bei jeder Gelegenheit weisen Sie eine Einmischung Brüssels in bayerische Angelegenheiten zurück. Gut, prima; aber wenn es der CSU in den Kram passt, schickt sie einen Brief in Sachen Atomausstieg nach Brüssel, in dem sie fordert, die Bundesregierung zu bremsen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, so kann man nicht Politik machen. Man kann nicht einerseits prinzipiell dagegen sein und andererseits dann, wenn es uns nützt, dafür sein. Diese Politik ist nicht nur widersprüchlich, sondern darunter leidet auch die Glaubwürdigkeit der Europapolitik insgesamt.

(Beifall bei der SPD)

Herr Kollege, Ihre Redezeit ist zu Ende.

Ich würde gerne noch einige Sätze zur Osterweiterung sagen. Ein zentrales Problem ist für uns die Freizügigkeit. Ich habe mich mit einer schriftlichen Anfrage danach erkundigt, wie sich die Freizügigkeit auf Bayern auswirkt. Das Ergebnis war, dass es bei der Staatsregierung keine Überlegungen und Untersuchungen dazu gibt, wie sich die Freizügigkeit und Pendlerbewegungen nach einer Einheit mit Tschechien auswirken.

(Unruhe)

Ich rede in letzter Zeit öfter beim Roten Kreuz als im Landtag.

(Herrmann (CSU): Das Rote Kreuz ist die einzige supranationale Organisation, die ich akzeptiere!)