Protocol of the Session on June 29, 2016

Herr Stoch wollte zu einer großen europäischen Genossen schaft aufrufen.

(Zurufe von der SPD)

Gemeinsam seine Ziele besser zu erreichen als im Alleingang, das ist der Grundgedanke einer jeden Genossenschaft. Inso fern war das durchaus visionär, lieber Kollege Stoch.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Meine sehr verehrten Damen und Herren, diese Debatte hat natürlich auch zum Ausdruck gebracht, dass manche Analy se der letzten Tage möglicherweise etwas zu schnell, etwas verkürzt oder etwas verfrüht war. Wer geglaubt hat, den „Bre

xit“ ausschließlich zu einem britischen Problem zu machen, ihn auf ein britisches Problem reduzieren zu können, der hat die Dimension der Euroskepsis nicht hinreichend erkannt. Wer geglaubt hat, den „Brexit“ ausschließlich zur Folge rechtspo pulistischer Parteien zu machen, der hat möglicherweise Ur sache und Wirkung verkannt.

Ich glaube, in diesem „Brexit“ liegt auch eine Chance, näm lich die Chance, manche europäische Schieflage aufzugreifen, dieses Europa zu reformieren, zu einem Europa der Menschen werden zu lassen.

Jetzt muss ich fast aufpassen, dass ich selbst Erwin Teufel mindestens so oft zitiere, wie ihn Kolleginnen und Kollegen aller anderen Fraktionen – auch der Herr Ministerpräsident und Herr Schwarz – zitiert haben. Das schaffe ich gar nicht. Ja, Erwin Teufel müssen heute die Ohren geklingelt haben, indem sein Eintreten für dieses geeinte Europa richtiger denn je und aktueller denn je geworden ist, meine Damen und Her ren.

(Beifall bei der CDU und Abgeordneten der Grünen)

Der „Brexit“ – das ist im Verlauf dieser Debatte deutlich ge worden – betrifft nicht nur die Menschen in Großbritannien, sondern er betrifft die Menschen in ganz Europa und auch bei uns hier in Baden-Württemberg. Man hat seit dem vergange nen Donnerstag fast den Eindruck, am Morgen nach der Ab stimmung sind die Menschen überall in Europa mit ungläubi gem Staunen aufgewacht. Auch bei den „Brexit“-Befürwor tern in Großbritannien, die ihren Sieg lautstark gefeiert haben, ist der Kater inzwischen mitunter groß. Das liegt vor allem daran, liebe Kolleginnen und Kollegen, dass es unter denje nigen, die mit ihrer populistischen Kampagne für den Aus stieg aus der EU geworben haben, keinen Plan für den Tag da nach gab. Die „Brexit“-Befürworter scheinen geradezu in den „Brexit“ hineinzustolpern, und das restliche Europa muss die Sache mit ausbaden.

Man muss es sich einmal vorstellen: Da werden Grundprin zipien des Binnenmarkts wie die Personenfreizügigkeit hef tig bekämpft, und dann, nachdem der „Brexit“ beschlossen ist, heißt es, den Binnenmarkt wolle man natürlich behalten. Es sieht fast so aus, als ob die „Brexit“-Befürworter in Wahr heit nur so „ein bisschen ,Brexit‘“ gewollt hätten. Aber so we nig, wie es „ein bisschen europäisch“ gibt, so wenig gibt es auch „ein bisschen ,Brexit‘“, liebe Kolleginnen und Kollegen. Auch das muss die Botschaft an unsere Freunde in Großbri tannien nach dieser Entscheidung sein.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU, der Grünen und der SPD)

Als ob sie jetzt erst merken, dass sich „Brexit“ und Binnen markt ausschließen – schon allein diese Planlosigkeit sollte all denjenigen eine Warnung sein, die auch bei uns mit dem Feuer eines EU-Austritts spielen, die geschichtsvergessen und populistisch Europa an den Pranger stellen.

Herr Professor Meuthen, ich will wirklich den Versuch unter nehmen, mich auch differenziert mit dem auseinanderzuset zen, was Sie gesagt haben, auch wenn es gelegentlich schwer fällt. Aber was ich beklage und wo ich Sie ermuntern und an Sie appellieren will: Ändern Sie Ihre Rhetorik, wenn es Ihnen im Ergebnis tatsächlich darum geht, Europa nicht zu spalten,

sondern zusammenzuführen. Wer sich einer Rhetorik bedient, wie Sie es heute hier in diesem Haus gemacht haben, der spal tet Europa und führt es nicht zusammen. Bitte, denken Sie selbst darüber nach.

(Beifall bei den Grünen, der CDU, der SPD und der FDP/DVP)

Viele vergessen, dass uns die Europäische Union die längste Phase des Friedens in der jüngeren deutschen Geschichte ge bracht hat. Ich beklage und sehe mit Sorge, dass gerade die junge Generation diese großen Errungenschaften von Frieden und Freiheit aus dem Blick verloren hat. Kollege Reinhart hat es so ausgedrückt: Es reicht offenbar nicht mehr aus, für Frie den und Freiheit zu stehen. Das ist offenbar zu wenig gewor den für das europäische Fundament.

Deswegen ist es eine unserer wichtigsten Herausforderungen, diese große europäische Errungenschaft, die über allem steht, Europa als eine Werte- und Friedensgemeinschaft, in das Herz, in die Seele, in das Bewusstsein der Menschen zu bringen. Das ist unsere Aufgabe als gewählte Abgeordnete und als Mit glieder dieser Regierung, und das muss auch das Ziel dieser leidenschaftlich geführten Debatte am heutigen Tag hier im Hause sein.

(Beifall bei der CDU und Abgeordneten der Grünen)

Gerade für uns Deutsche sind inzwischen über 70 Jahre Frie den, Freiheit und Wohlstand eben keine Selbstverständlich keit. Sie sind vielmehr das deutliche Zeichen eines im Grun de funktionierenden Europas.

Kollege Schwarz, Sie haben – ein bisschen in Andeutung an einen historischen Ausspruch – gesagt: Ich bin ein Europäer. Das müssen die Leute wieder mit Leidenschaft von sich be haupten, und dazu müssen sie stehen: ein Europa, in dem wir Deutschen unseren Platz gefunden haben, ein Europa, das ge rade unseren wirtschaftlichen Erfolg erst möglich gemacht hat. Gerade Baden-Württemberg profitiert als exportorientier tes Land vom Europäischen Binnenmarkt in erheblichem Maß.

Europa gefährdet keine Jobs im Land, sondern Europa ermög licht Arbeit und Wohlstand, auch bei uns. Der „Brexit“ und die Schwächung Europas sind deswegen ganz grundsätzlich ein Rückschlag für uns alle, aber auch ganz konkret, wenn es darum geht, unsere wirtschafts- und ordnungspolitischen Grund sätze und damit eine Rahmenbedingung für unseren wirt schaftlichen Erfolg zu verteidigen.

Denn die britische Volkswirtschaft ist stark und wettbewerbs fähig. Großbritannien ist ein Stabilitätsfaktor in Zeiten, in de nen andere Mitgliedsstaaten mit wirtschaftlichen und finanzi ellen Problemen zu kämpfen haben. Wirtschaftsstarke Regi onen wie Baden-Württemberg werden einen wichtigen Part ner und Fürsprecher innerhalb der EU verlieren. Großbritan nien war in der EU oft Impulsgeber, wenn es um die Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit und um Deregulierung und Entbü rokratisierung ging.

Vor allem ist das marktorientierte Großbritannien immer ein Gegengewicht zu den Staaten vor allem im Süden Europas gewesen, die weniger auf Leistung und mehr auf Umvertei lung setzen wollen. Schon jetzt ertönen verhängnisvoll die ersten Forderungen nach mehr EU-Programmen, nach einem

Schritt in Richtung Transferunion, ja, nach einem Schritt in Richtung Europa, das noch mehr Kompetenzen an sich zieht. Um es klar zu sagen: Das wären die falschen Antworten auf den „Brexit“.

(Beifall bei der CDU sowie Abgeordneten der Grü nen und der FDP/DVP)

Der Reflex, jetzt immer noch mehr Europa zu fordern, könn te Europa erst recht in die Krise stürzen, könnte Anlass für Ausstiegskampagnen auch in anderen Ländern sein.

Stattdessen gilt es, nicht nur auf die unbestreitbaren Erfolge Europas zu blicken, sondern auch differenziert die Probleme zu benennen. Nicht jede Problemdiskussion – Kollege Dr. Rülke hat es gesagt – ist ein Schlechtreden von Europa. Eu ropa muss es uns erlauben und ermöglichen, kritische Punk te auch beim Namen zu nennen; denn die Ursachen der euro paskeptischen Stimmungen liegen nicht nur in der fehlenden Begeisterung für das Projekt Europa, sondern sie liegen auch im gegenwärtigen Zustand der Europäischen Union.

(Beifall bei Abgeordneten der AfD)

Bürgerferne, Zentralismus und mangelnde Problemlösungs kompetenz sorgen nicht gerade für Europaeuphorie bei den Bürgern. Kollege Reinhart hat es gesagt: Nicht Gängelungs maschine, sondern Problemlösungszentren; ein Europa der Ermöglichung, das muss die Botschaft sein.

Die völlig unverständliche Ankündigung der EU-Kommissi on – Kollege Dr. Rülke – vom gestrigen Abend, das Freihan delsabkommen mit Kanada ohne Beteiligung der nationalen Parlamente abschließen zu wollen, zeigt eindrucksvoll, dass Brüssel diese Entwicklung offenbar noch immer nicht ernst genug nimmt. Transparenz ist das Gebot der Stunde, liebe Kolleginnen und Kollegen.

(Beifall bei den Grünen und der CDU sowie Abge ordneten der AfD und der FDP/DVP)

Wer das Gebot der Transparenz nachhaltig missachtet, muss sich nicht wundern, wenn Entfremdung und Distanz, im schlimm sten Fall Ablehnung entstehen.

Die Antwort auf die beschriebenen Probleme kann dabei kein einfaches „Weiter so!“ – dies ist von allen so benannt worden – sein. Das hat auch der Ministerpräsident in seiner Regie rungserklärung anklingen lassen. Europa droht – Kollege Reinhart hat es gesagt – eine Erosion von innen.

Jeder, der wie die meisten Kollegen hier und auch wie ich die Bedeutung Europas als großes Projekt für Frieden, Freiheit und Wohlstand sieht, muss jetzt auch bereit sein, Reformen anzustoßen. Aus dem abstrakten Bekenntnis zu Europa muss ganz konkreter Reformwille werden. Die letzte Reformrunde, der im Jahr 2002 gestartete Verfassungskonvent, hatte den Hauptauftrag, mehr Bürgernähe, mehr Subsidiarität und eine demokratische Stärkung herbeizuführen. Europa sollte – wir haben es schon mehrfach gehört: so sagte es Ministerpräsi dent Teufel damals – wieder vom Kopf auf die Füße gestellt werden.

Genau das muss auch jetzt die Diskussionsgrundlage sein. Eu ropa darf und muss sich nicht um alles kümmern, aber Euro

pa muss sich um die richtigen Angelegenheiten kümmern. Ver hängnisvoll ist es, wenn die Menschen den Eindruck gewin nen, dass Europa nicht die Kraft hat, die wirklichen europäi schen Probleme zu lösen, dafür aber von Tag zu Tag mehr Eu phorie entwickelt, in den Alltag der Menschen hineinzuregu lieren, hineinzudirigieren. Das schafft Frust über Europa. Da ran muss gearbeitet werden, liebe Kolleginnen und Kollegen.

(Beifall bei der CDU sowie Abgeordneten der Grü nen und der FDP/DVP)

Diesen Kern können auch die Länder auf dem Weg über den Bundesrat, über die Subsidiaritätsrüge und die Subsidiaritäts klage für nationale Parlamente bewahren helfen. Die Debatte darüber, wofür Europa zuständig sein soll, ist deswegen in der Tat eine Debatte, die auch uns Landespolitiker angeht, die auch die Parlamente angeht.

Frau Präsidentin, aus meiner Erfahrung als Landtagspräsident möchte ich Sie ausdrücklich ermuntern: Auch die Parlamen te müssen in diesem europäischen Prozess eine wichtigere Rolle spielen. Europa braucht die regionalen Parlamente, um den europäischen Gedanken an die Menschen heranzutragen.

(Beifall des Abg. Arnulf Freiherr von Eyb CDU)

Es kann nicht sein, dass die regionalen Parlamente bei Föde ralismuskommissionen am Katzentisch sitzen. Frau Präsiden tin, vertreten Sie selbstbewusst dieses Parlament, auch auf dem Weg zu Europa!

(Beifall bei den Grünen und der CDU sowie Abge ordneten der SPD und der FDP/DVP)

Das ist eine Debatte, die wieder Spielräume eröffnen könnte für bürgernahe Lösungen vor Ort. Ich will den Ministerpräsi denten darin unterstützen, dass wir auch im Land eine Debat te über Europa führen sollten – eine Debatte nicht nur über Strukturen, sondern eine Debatte darüber, wie Europa in der Seele, in den Herzen der Menschen ankommt, eine Debatte nicht aus politischer Notwendigkeit, sondern eine Debatte, die wir aus Leidenschaft führen.

Diese Debatte muss – das sage ich auch als Europaminister und als überzeugter Föderalist – das Subsidiaritätsprinzip wie der zum Maßstab in der EU machen. Diese Debatte – lassen Sie mich das auch als Justizminister sagen – muss die EU auch als Rechtsgemeinschaft wieder stärken, damit klar wird, dass auch die Mitgliedsstaaten ihre Verpflichtungen einhalten müs sen, und damit klar wird, dass es europäische Alleingänge nicht geben kann. Denn auch die Mitgliedsstaaten haben ih ren Anteil, insbesondere wenn der EU fehlende Problemlö sungskompetenz vorgeworfen wird.

Auch derzeit erleben wir, dass viele Mitgliedsstaaten europä isches Recht nicht einhalten. Immer wieder wird die Defizit marke des Stabilitäts- und Wachstumspakts gerissen. Recht liche Verpflichtungen der Mitgliedsstaaten im Rahmen des Umsiedlungsprogramms für Flüchtlinge aus Griechenland und Italien werden gar nicht oder extrem schleppend umgesetzt. Damit geben wir nicht nur ein schlechtes Beispiel, sondern stellen auch eine Errungenschaft Europas infrage, um die wir überall auf der Welt beneidet werden: den funktionierenden Rechtsstaat als europäische Tradition.

Überhaupt ist Europa eine Rechtsgemeinschaft, eine Gemein schaft, die auf einem gemeinsamen, historisch gewachsenen Verständnis von Grundrechten aufbaut, eine Gemeinschaft, die mit den Grundfreiheiten des Binnenmarkts Wohlstand und Stabilität gebracht hat, eine Gemeinschaft, deren Zukunft uns alle angeht.

Für Baden-Württemberg kann die Frage daher nicht heißen, ob wir uns zu Europa und der EU bekennen. Für uns kann die Frage nur heißen: Wie kann man Europa und die EU besser machen? Auf diesem Weg war die heutige Debatte ein Schritt in die richtige Richtung.

Ich bin ein Europäer. Wir sind Europäer. Lassen Sie uns das mit Herzblut und Leidenschaft aus diesem Plenarsaal hinaus tragen.

Herzlichen Dank.

(Beifall bei den Grünen und der CDU sowie Abge ordneten der SPD und der FDP/DVP)