Protocol of the Session on June 29, 2016

Dazu brauchen wir einen echten Dialog, in dem sich die Bür gerinnen und Bürger sowie die Kommunen und die regiona len Parlamente stärker wiederfinden können.

(Beifall der Abg. Daniel Rottmann und Hans Peter Stauch AfD)

Wir müssen uns am Prinzip der Subsidiarität orientieren. In Baden-Württemberg haben wir starke Kommunen, und auch das muss künftig so bleiben. So ist die Daseinsvorsorge, also die Versorgung der Bürgerinnen und Bürger mit dem Notwen digsten vor Ort, seit jeher eine Aufgabe der Kommunen. Die Kommunen in Baden-Württemberg meistern diese Aufgabe mit Bravour, jede Kommune ganz individuell, aber immer zum Wohle der Menschen. Hier ist eine europäische Steue rung nicht notwendig.

Wir haben es im Fall der kommunalen Wasserversorgung er lebt. Hier haben wir die europäische Einmischung nicht ge wünscht. Die europäische Zivilgesellschaft, die europäischen Bürgerinitiativen haben über Landesgrenzen hinweg mobili siert und eine Privatisierung der Wasserversorgung verhindert.

Auch das war in meinen Augen ein ganz klares Signal an die europäische Ebene, und dieses Signal nehmen wir ernst.

(Beifall bei den Grünen und Abgeordneten der CDU sowie des Abg. Andreas Kenner SPD)

Auch die Regionen, die Landesparlamente müssen eine stär kere Rolle spielen. Hier in diesem Haus hat im Jahr 2012 der Präsident des Bundesverfassungsgerichts, Herr Professor Voß kuhle, von der Entparlamentarisierung der EU gesprochen. Es darf nicht nur eine Floskel sein, sondern es muss auch Auf trag für uns sein, die Rechte der Landesparlamente in einer starken Europäischen Union wieder zu beleben und diese Rechte hier einzubringen.

(Vereinzelt Beifall bei den Grünen und der AfD)

Ein echtes Europa der Regionen kann den Menschen starke und räumlich greifbare Identifikationspunkte bieten, kann eu ropäische Politik vermitteln und lokale Besonderheiten über setzen. Die Stärke Europas war immer seine Vielfalt; diese Vielfalt können die Regionen voll ausspielen.

Der richtige Ort für eine solche Diskussion, wie sie der Mi nisterpräsident eben angesprochen hat, wäre daher in unseren Augen auch dieses Parlament. Von diesem Parlament sollte ein Aufbruch für eine Weiterentwicklung der Europäischen Union ausgehen. Denn wir machen es ja bereits jetzt: Denken Sie an die Donauraumstrategie, bei der sich Baden-Württem berg mit den Nachbarländern engagiert; mit 14 Ländern ko operieren wir dabei innerhalb und außerhalb der Europäischen Union.

Wir wollen das Europäische Parlament zu einem echten Bür gerinnen- und Bürgerparlament machen. Dafür muss das Eu ropäische Parlament lebendiger werden. Uns schweben für das Europäische Parlament Fragestunden vor, in denen sich die Kommission – ähnlich, wie es im britischen Unterhaus oder hier im baden-württembergischen Landtag der Fall ist – den Fragen der Abgeordneten stellen muss. Wir wollen ein In itiativrecht für das Europäische Parlament, sodass die Abge ordneten Gesetze und Richtlinien selbst auf den Weg bringen können. Das Abstimmungsverhalten der Mitgliedsstaaten im Rat muss öffentlich nachvollziehbar werden.

Wer solche einfachen Wege der Transparenz nicht ausschöpft, der macht es den Populisten viel zu einfach. Deswegen ist der Reformbedarf hier offenkundig, liebe Kolleginnen und Kol legen.

(Beifall bei den Grünen sowie der Abg. Konrad Epp le CDU und Dr. Gerhard Aden FDP/DVP)

Wir wollen, dass Europa Motor für Innovation und Entwick lung ist. Dafür könnte ein neues, EU-weites Investitionspro gramm ein Weg sein. Denn die wirtschaftlichen Probleme ei niger Staaten gehen uns alle an. Dies gilt nicht nur, weil die EU für die baden-württembergische Wirtschaft der größte Ab satzmarkt ist, sondern weil Menschen, die sich abgehängt füh len, für Populisten und Angstmacher besonders anfällig sind – sei es in Holland, Österreich, England oder auch in Deutsch land. Dem müssen wir uns alle gemeinsam entschieden ent gegenstellen – auch hier im Landtag von Baden-Württemberg.

(Beifall bei den Grünen sowie Abgeordneten der CDU, der SPD und der FDP/DVP)

Denn die Europäische Union bringt uns Wohlstand – hier in Baden-Württemberg ganz direkt. Einheitliche Standards ha ben auch für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer große Vor teile. Die Freizügigkeit ermöglicht es uns, Jobs auch in ande ren Ländern anzunehmen, aber auch, geeignete Fachkräfte an zuwerben. Bei der Anwerbung von Fachkräften durch die Un ternehmen in Baden-Württemberg ist eine starke und funkti onierende Europäische Union mit einem gemeinsamen Ar beitsmarkt nicht nur eine Hilfe, sie ist eine Notwendigkeit.

Wir brauchen jetzt einen großen Schritt hinein in die Integra tion – nicht hinaus aus der europäischen Integration –, kein „Weiter wie bisher“, sondern die Fortentwicklung der euro päischen Institutionen und eine Reform auf Grundlage einer klaren Analyse der Defizite. Denn eines steht fest: Die Euro päische Union ist trotz großer Anstrengungen bei der Weiter entwicklung der Verträge von Maastricht, Amsterdam, Nizza bis Lissabon und auch im europäischen Verfassungskonvent an vielen Stellen verbesserungsbedürftig.

Das gilt für die zu geringen Mitspracherechte des Europäi schen Parlaments, der nationalen Parlamente und auch der Re gionen, aber auch für die intransparenten Entscheidungspro zesse bei den Verhandlungen über Freihandelsabkommen wie TTIP und CETA.

(Vereinzelt Beifall bei der AfD)

Es darf nicht sein, dass gewählte Abgeordnete sich Verhand lungsdokumente in einem Leseraum zwar anschauen können, sich aber keinerlei Notizen machen dürfen,

(Beifall bei den Grünen sowie Abgeordneten der AfD und der SPD)

geschweige denn, dass die Abgeordneten in der Öffentlichkeit darüber reden dürften.

(Beifall bei Abgeordneten der AfD)

So wirbt man nicht um das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger. Dies gilt erst recht angesichts dessen, dass die Euro päische Kommission aktuell verkündet, dass sie das Freihan delsabkommen CETA ohne Beteiligung der nationalen Parla mente durchdrücken möchte. Das ist in meinen Augen Amts hilfe für Populisten. Wir sollten an der Mitwirkung der Parla mente und an Transparenz arbeiten.

(Beifall bei Abgeordneten der Grünen, der CDU, der AfD und der SPD)

Als überzeugte Europäerinnen und Europäer müssen wir der EU diese Verbesserungsvorschläge klar benennen. Wir müs sen uns gemeinsam auf den Weg machen – auf den Weg zu mehr Europa, auf den Weg zu einem effizienteren, demokra tischeren und transparenten Europa. Denn für uns Grüne ist die Europäische Union die Zukunft, und das gilt auch weiter hin.

Lassen Sie mich zum Schluss noch Folgendes in aller Deut lichkeit sagen: Wir jungen Leute wissen: Ein Zurück in die sogenannte gute alte Zeit, wie es von den „Brexit“-Befürwor tern versprochen wurde, wird und kann es nicht geben. Die Welt von vor 50 Jahren gibt es nicht mehr. Die Welt ist schnel ler und komplexer geworden. Darüber werden auch keine neu

en Schlagbäume hinwegtäuschen. Wir werden die Herausfor derungen nur gemeinsam und zusammen meistern können. Die Europäische Union ist dafür das richtige Vehikel. Sie ist nicht Teil des Problems, sie ist Teil der Lösung. Daran wollen wir arbeiten, für einen neuen Aufbruch.

Vielen Dank.

(Beifall bei den Grünen und der CDU sowie Abge ordneten der AfD, der SPD und der FDP/DVP)

Für die Fraktion der CDU er teile ich Herrn Fraktionsvorsitzendem Dr. Reinhart das Wort.

Frau Präsidentin, ver ehrte Kolleginnen und Kollegen! „Was ist los mit dir, Euro pa?“, hat Papst Franziskus bei der Verleihung des Karlsprei ses Anfang Mai gefragt. Ich finde, das ist eine gute Frage, die wir alle uns in der Tat sehr gründlich stellen müssen. Die Ent scheidung vom Donnerstag – da kann ich den Vorrednern nur zustimmen – ist in der Tat eine harte Zäsur für Europa. Damit ist sie ein wirklich dringender Weckruf, und zwar für jeden Europäer.

Heute tagen in Brüssel die Regierungschefs das erste Mal oh ne den britischen Regierungschef. Mit diesem „Brexit“-Refe rendum hat zum ersten Mal ein europäisches Volk bewusst er klärt: „Wir wollen nicht mehr Teil des europäischen Eini gungsprozesses sein – mit allen Konsequenzen.“ Die Briten verabschieden sich damit in freier Selbstbestimmung von ei nem welthistorisch einmaligen Modell des Friedens und der Zusammenarbeit.

Nun hatte das Vereinigte Königreich schon immer ein ganz besonderes Verhältnis zum Kontinent, und als Teil der vom Ministerpräsidenten anfangs zitierten Vereinigten Staaten von Europa hat Churchill selbst Großbritannien in toto nie gese hen. – Er hatte natürlich auch alte Commonwealth-Erinnerun gen.

(Vereinzelt Beifall bei der AfD)

Als Europäer bin ich dennoch überzeugt: Die Mehrheit in Großbritannien hat eine Entscheidung getroffen, die wider die Vernunft war.

(Beifall bei der CDU und den Grünen sowie Abge ordneten der SPD – Zuruf von der AfD)

Die „Südwest Presse“ hat es heute entsprechend kommentiert: Sie ist den Argumenten der „Leave“-Kampagne gefolgt, die glauben machen will, ohne Europa besser dran zu sein.

(Zuruf von der AfD: Ohne die EU!)

Nein. Ich glaube, das ist eine folgenreiche Täuschung. In ei ner vernetzten, globalen Welt kann der Weg nicht zurückfüh ren in eine Neuauflage der Splendid Isolation, wie es die Bri ten nennen. Damit sind die Vorzüge der Insellage gemeint. Ich bin auch davon überzeugt, dass erst jetzt die Diskussion in Großbritannien selbst beginnen wird. Ich meine, Cameron hat sich einfach verzockt; auch das muss man sehen, wenn man es einmal realistisch betrachtet.

(Beifall bei der CDU und den Grünen sowie Abge ordneten der SPD)

Natürlich werden wir das Votum der Briten als eine demokra tische Entscheidung respektieren, respektieren müssen. Da bei sind wir auch gut beraten, jetzt nicht in eine Katastrophen stimmung zu verfallen. Wenn wir zum Abschied etwas von den Briten lernen können, dann ist es sicherlich diese typisch britische Eigenschaft, auch bei Rückschlägen Haltung zu be wahren. Ich glaube, das ist jetzt auch angesagt. Denn dieser – so nenne ich es einmal – disziplinierte Pragmatismus und die se Unerschütterlichkeit brauchen wir jetzt auch auf dem Kon tinent. Die Briten haben übrigens eine alte, traditionelle Ge schichte der Demokratie und des Parlamentarismus. Insoweit muss man auch das respektieren. Gefragt sind jetzt sicherlich – wie es die Kanzlerin gesagt hat – Besonnenheit und auch Übersicht.

Europa muss und wird sich verändern. Ich bin auch sicher, Europa wird nicht untergehen. Schließlich war dies nicht die erste Abstimmung, in der sich die Bürger gegen europäische Vorhaben gewandt haben. Ich erinnere daran: 2005 stimmten die Franzosen gegen die EU-Verfassung – auch das war ein Einschnitt –, die Iren haben 2008 gegen den Lissabon-Vertrag votiert, erst kürzlich im April haben die Niederländer das EUUkraine-Abkommen in einer Volksabstimmung abgelehnt. Die Euroskepsis war und ist also durchaus ein steter Begleiter der europäischen Integration.

Natürlich muss sich auch Europa immer der kritischen Debat te stellen. Das gehört zur demokratischen Selbstverständlich keit. Aber mit der „Brexit“-Entscheidung geht es jetzt um et was mehr. Die aggressive Kampagne der „Brexiteers“ und die schrillen Anti-Europa-Reflexe auch in vielen anderen EU-Län dern zeigen: Dem vereinten Europa droht derzeit die Erosion von innen. Wenn wir das vor Augen haben, dann braucht es – ich finde, das hat der Kollege Schwarz zu Recht angesprochen – stärkere Graswurzeln in der europäischen Gesellschaft, da mit es vom Wind der Geschichte nicht einfach verweht wird. Aristoteles hat einmal gesagt: „Man kann den Wind nicht än dern, aber man kann die Segel anders setzen.“

(Beifall bei der CDU sowie Abgeordneten der Grü nen und der SPD)

Ich glaube, da muss die Diskussion beginnen. Denn sicher wird Europa als Raum der Freiheit und des Rechts, als Wer tegemeinschaft und als Modell des internationalen Interessen ausgleichs derzeit in der Welt gebraucht wie noch nie.

Helmut Kohl, ein großer Europäer, der oft über das „Haus Eu ropa“ leidenschaftlich und begeistert gesprochen hat, hat den starken Satz geprägt: „Die Einheit Europas bleibt eine Frage von Krieg und Frieden.“ Schauen wir heute einmal den Feu erring an, der sich mit Kriegen und Krisen von der Ukraine über Syrien bis Libyen um Europa legt, dann ist dieser Satz vielleicht drängender und aktueller denn je.

(Beifall bei der CDU sowie Abgeordneten der Grü nen, der AfD, der SPD und der FDP/DVP)

Es gibt das bekannte Bild: Zwei Erzengel standen am Tor von Europa, der Erzengel der Freiheit – nie wieder Knechtschaft – und der Erzengel des Friedens – nie wieder Krieg. Das soll ten wir uns vor Augen halten. Niemand sollte glauben, dass wir auf dem europäischen Kontinent einen Anspruch auf den ewigen Frieden hätten. Aber offenbar reicht die Begründung

von Europa als Friedenswerk vielen europäischen Bürgern heute nicht mehr. Das haben der Kollege Stoch und auch der Ministerpräsident zu Recht angesprochen. Das ist die Heraus forderung, über die wir reden müssen; keine Frage.

(Zuruf von der AfD)