Protocol of the Session on June 29, 2016

Bei aller Kritik und auch den unzureichenden Antworten: Wir müssen auch auf europäischer Ebene besser werden. Es gibt keine Alternative zu Europa. Ein Zurück zum Nationalismus wäre ein verhängnisvoller Irrweg, gefährdete den Frieden nachhaltig und führte auch – so zeigt die Geschichte – nicht selten zu Krieg und Aggression.

Aber das heutige Europa und die europäische Politik müssen sich verändern, und zwar so verändern, dass die Menschen in Europa ein Bewusstsein als Europäerinnen und Europäer er langen, weil sie eben nachvollziehen können, was „die da oben“ oder „die in Brüssel und in Straßburg“ machen. Die Menschen können sich dann wieder mit einer Idee von Euro pa identifizieren, wenn sie verstehen, was unmittelbar in ih rem Alltag für sie selbst, in ihrem persönlichen Umfeld von Europa zu erwarten ist, was sie an Mehrwert von Europa ha ben. Da gilt es, für mehr Transparenz auf europäischer Ebene zu kämpfen, für klare und eindeutige Entscheidungen auf eu ropäischer Ebene zu kämpfen, und, meine sehr geehrten Da men und Herren, da gilt es auch, für mehr soziale Gerechtig keit in Europa zu kämpfen.

(Beifall bei der SPD)

Deswegen möchte ich ein Zitat an den Abschluss meiner Re de stellen, ein Zitat aus einer Kolumne von Jakob Augstein, die vor Kurzem in SPIEGEL ONLINE erschien:

Das Versprechen der europäischen Gründung lautete: Nie wieder Krieg! Heute muss es lauten: Nie wieder Unge rechtigkeit! Damals ging es gegen Gewalt und Hass. Heu te muss es gegen Arbeitslosigkeit und Armut gehen.

Ein soziales Europa – das ist die moderne Variante des Gründungsversprechens vom friedlichen Europa.

Herzlichen Dank.

(Beifall bei der SPD und Abgeordneten der Grünen sowie des Abg. Dr. Wolfgang Reinhart CDU)

Für die Fraktion GRÜNE er teile ich das Wort Herrn Fraktionsvorsitzendem Schwarz.

Frau Präsidentin, liebe Kol leginnen und Kollegen!

(Zuruf von der AfD: Schöne Krawatte!)

Das Referendum, das in der vergangenen Woche in Großbri tannien stattfand, ist eine Zäsur für die Europäische Union. Zum ersten Mal wird die Europäische Union kleiner, nicht größer. Das ist ein historischer Rückschlag. Mich persönlich macht das traurig und betroffen. Es ist ein Warnsignal, das wir alle aufnehmen müssen, ein Warnsignal, das bei uns ankommt.

Überall in Europa sind Kräfte erstarkt, die zurück wollen zu Kleinstaaterei, die sich abkapseln wollen und die gerade die europäische Solidarität aufkündigen wollen, die ihr eigenes nationales Süppchen kochen möchten. Aber ich sage Ihnen: Einen solchen rechtspopulistischen Dominoeffekt dürfen wir in Europa nicht zulassen, liebe Kolleginnen und Kollegen!

(Beifall bei den Grünen sowie Abgeordneten der CDU, der SPD und der FDP/DVP)

Wir dürfen einen solchen rechtspopulistischen Dominoeffekt gerade aus Sicht von Baden-Württemberg nicht zulassen. Wir profitieren wirtschaftlich enorm von der Europäischen Union, und deswegen müssen wir gerade als Baden-Württemberge rinnen und Baden-Württemberger die Europäische Union ver teidigen.

Unsere Landesgeschichte macht es ja deutlich: Baden-Würt temberg kann die Früchte einer gelungenen Integration bereits heute ernten. Die Vereinigung von Baden-Württemberg als Union aus Württemberg-Baden, Baden und Württemberg-Ho henzollern ist eine Erfolgsgeschichte einer gelungenen Inte gration hier im Südweststaat. Diese Erfolgsgeschichte aus dem Südweststaat wollen wir fortführen, für den Zusammen halt der Europäischen Union auch in Zeiten, in denen es schwie rig ist, liebe Kolleginnen und Kollegen.

Meine Generation, die Menschen unter 40 Jahren, haben in Großbritannien nicht für den „Brexit“ gestimmt. Sie wollen die Europäische Union erhalten. Sie wollen weiterhin am Wohlstand der Europäischen Union partizipieren.

(Zuruf des Abg. Winfried Mack CDU)

Denn die Europäische Union ist nicht nur Grundlage unseres Wohlstands und des anhaltenden Friedens auf diesem vorher von Kriegen beherrschten Kontinent. Die Europäische Union ist nicht nur, wie es der Ministerpräsident formuliert hat, Staatsräson, sie ist für mich und für meine Generation auch ein Lebensgefühl. Sie ist für mich Identität, und ich sage hier: Ich bin Europäer.

Viele junge Leute in Großbritannien sehen dies ebenfalls so. Sie sehen sich als überzeugte Europäerinnen und Europäer.

(Beifall bei den Grünen und Abgeordneten der CDU)

Nicht ohne Grund haben viele junge Leute in Großbritannien für den Verbleib in der Europäischen Union gestimmt.

Umso verbitterter bin ich über das Ergebnis des Referendums. Wir müssen ein solches demokratisches Votum akzeptieren – das ist selbstverständlich. Wir brauchen jetzt schnell Klarheit, wie es weitergeht. Das Austrittsverfahren darf nicht zur Hän gepartie werden. Das sorgt nur für Verunsicherung. Wichtig ist jetzt, die Regeln für die künftige Zusammenarbeit mit dem Vereinigten Königreich zügig festzulegen.

Der Ministerpräsident hat es dargelegt: 12 Milliarden € be trägt das Volumen der Wirtschaftsgüter und Dienstleistungen zwischen Baden-Württemberg und Großbritannien. Wir ha ben schon aus Gründen dieses wirtschaftspolitischen Effekts ein Interesse daran, die Regeln für die künftige Zusammenar beit mit Großbritannien sehr zügig zu fixieren, liebe Kollegin nen und Kollegen.

Wir müssen das Referendum als Auftrag begreifen. Das Vo tum der Menschen im Vereinigten Königreich zeigt, dass die EU für einige Menschen ihre Strahlkraft verloren hat. Es ist unser aller Aufgabe, der EU wieder zu diesem Glanz zu ver helfen; denn Europa sind wir, liebe Kolleginnen und Kolle gen.

(Beifall bei den Grünen sowie der Abg. Sylvia Fel der CDU und Dr. Timm Kern FDP/DVP)

Wir sind Europa, wir haben ein europäisches Lebensgefühl, eine europäische Identität. Aber für uns, insbesondere in Ba den-Württemberg, ist Europa auch etwas Konkretes. Für mich ist Europa Freiheit, die Freiheit, während des Studiums ohne Schwierigkeiten ein ERASMUS-Jahr in einem anderen EULand verbringen zu können, oder dort gleich einen komplet ten Masterstudiengang absolvieren zu können. Dieser Aus tausch fördert nicht nur den europäischen Gedanken; er ist für den Wissenschaftsstandort Baden-Württemberg Gold wert.

Inzwischen – das ist für Baden-Württemberg natürlich nicht minder wichtig – gibt es einen solchen Austausch mit dem Programm Erasmus+ auch außerhalb des Studiums, z. B. im Rahmen der handwerklichen Ausbildung. Das nenne ich ge lebte Integration, und diese betrifft nicht nur Akademikerin nen und Akademiker, sondern von ihr profitieren in breitem Maß der Mittelstand und das Handwerk.

(Beifall bei den Grünen und Abgeordneten der CDU sowie des Abg. Dr. Ulrich Goll FDP/DVP)

Go.for.europe ist z. B. ein Gemeinschaftsprojekt, an dem sich die baden-württembergische Wirtschaft, der Handwerkskam

mertag, die Industrie- und Handelskammern, Südwestmetall und das Land Baden-Württemberg beteiligen. Hier werden Auslandspraktika innerhalb der Europäischen Union geför dert. Das nenne ich gelebten Zusammenhalt.

Die Europäische Union schafft Entwicklungsräume für junge Köpfe mit neuen Ideen. Das INTERREG-Programm – um nur eines von vielen Beispielen zu nennen – bringt grenzüber schreitend durch Technologiescouts, Innovationsmotoren klei nere und mittlere Unternehmen mit Innovation und Forsche rinnen und Forschern zusammen. Dieses Programm hilft zu dem, die Ausbildungssysteme der Nachbarländer zu harmo nisieren. So finden junge, gut ausgebildete Facharbeiterinnen und Facharbeiter leichter einen Arbeitsplatz – diesseits oder jenseits der Grenzen –, und wir in Baden-Württemberg kom men somit bei der Suche nach dringend benötigten Fachkräf ten voran.

Fachkräftegewinnung ist einer der großen Vorteile, die uns die Europäische Union ganz konkret bringt. Und, Herr Kollege Stoch, das ist für mich gerade Ausdruck einer europäischen Solidarität. Wenn Sie das Sonderprogramm MobiPro nehmen: Gerade dieses Programm leistet einen Beitrag dazu, Jugend arbeitslosigkeit abzubauen und Ländern mit hoher Jugendar beitslosigkeit eine Perspektive zu bieten. Junge Leute können in Deutschland eine geförderte betriebliche Ausbildung ab solvieren. Letztendlich profitieren sowohl die jungen Leute, die Wirtschaft in Baden-Württemberg als auch die Unterneh men in den Heimatländern der jungen Leute davon – eine klas sische Win-win-Situation, liebe Kolleginnen und Kollegen.

(Beifall bei den Grünen und Abgeordneten der CDU)

Nehmen Sie den Oberrheinrat, nehmen Sie die Donauraum strategie: Grenzüberschreitende europäische Zusammenarbeit hat in Baden-Württemberg Tradition, sei es im Bereich der Kooperation der Polizei, der Feuerwehren, sei es bei grenz überschreitenden Naturschutzprojekten, sei es bei der Verbes serung der Umweltbedingungen oder bei gemeinsamen Par lamentarierkonferenzen. Das ist für mich gelebtes Europa.

Gerade für unsere Natur und Umwelt ist die Europäische Uni on ein echter Gewinn. Über das europäische Schutzgebiets netz Natura 2000 schaffen wir zusammenhängende und ver netzte Habitate für Pflanzen und Tiere. Das ist biologische Vielfalt, ein Teil der Grundlagen unseres Wohlstands. Das ist europäische Kooperation. Das ist Garant für eine gesunde Na tur in Europa.

(Beifall bei den Grünen und Abgeordneten der CDU)

Gleichzeitig wächst Europa durch Infrastrukturprogramme zusammen. Als treibende Kraft für den Ausbau der Rheintal bahn unterstützt die EU diesen wichtigen Korridor zwischen Genua und den Nordseehäfen, der gerade bei uns in BadenWürttemberg wichtig ist, um Güter auf die Schiene zu verla gern.

Meine Damen und Herren, Sie sehen: Europa ist nicht nur ei ne bloße Überschrift, Europa ist ganz konkret. Wir in BadenWürttemberg profitieren ungemein von der europäischen Ei nigung, und das soll auch künftig so bleiben.

Damit das so bleiben kann, muss die Europäische Union ihre integrative Kraft wieder stärker herausstellen. Sie muss stär

ker Bezugspunkt werden, damit auch künftige Generationen sagen können: „Ich bin Europäer“, „Ich bin Europäerin“, „Ich bin ein überzeugter Europäer“. Das sollen künftige Generati onen wieder sagen können. Daran müssen wir gemeinsam ar beiten, auch hier im Landtag, liebe Kolleginnen und Kolle gen.

(Beifall bei den Grünen und Abgeordneten der CDU – Vereinzelt Beifall bei der SPD)

Es gibt eine Voraussetzung: Die Europäische Union muss de mokratischer und transparenter werden. Sie muss sich von un ten entwickeln und nicht von oben.

(Beifall des Abg. Daniel Rottmann AfD)

Sie muss im besten Sinn näher an den Menschen dran sein, sie muss die Menschen mitnehmen, sie muss den Bürgerin nen und Bürgern die Möglichkeit zur Identifikation, zur Teil habe, zur Mitsprache bieten.

(Beifall bei Abgeordneten der AfD)

Kurzum: Die EU muss wieder eine positive Geschichte erzäh len.

Das geht nicht ohne Reformen. Noch stärker als auf anderen Ebenen haben viele Menschen das Gefühl, dass sie in Brüs sel kaum Gehör finden. Deswegen dürfen diese notwendigen Reformen nicht in Hinterzimmern ausgehandelt werden. Das würde den Populisten nur Vorschub leisten. Nein, die Euro päische Union muss jetzt in einem breiten Beteiligungspro zess von unten weiterentwickelt werden. Die Bürgerinnen und Bürger müssen hier aktiv einbezogen werden.

Schon vor zehn Jahren sprach Erwin Teufel im Rahmen des Verfassungskonvents davon, Europa wieder vom Kopf auf die Füße zu stellen. Das mahnen wir an. Wir wollen eine Europä ische Union der Bürgerinnen und Bürger.

(Beifall bei den Grünen und der CDU – Vereinzelt Beifall bei der AfD)