Protocol of the Session on June 6, 2018

Schließlich erfolgte – fünftens – die Einführung der Gemein schaftsschule als weiterer Weg, in neun Jahren zum Abitur zu gelangen. Die Attraktivität dieser Option zeigt sich schon heu te an den Standorten, insbesondere jenen, die über die Pers pektive einer gymnasialen Oberstufe verfügen.

Es gibt also viele Wege, in neun Jahren zum Abitur zu gelan gen. Warum aber reißt die Kritik weiterhin nicht ab? Warum entscheiden sich viele Eltern, die die Wahl zwischen G 9 und G 8 haben, weiterhin mehrheitlich für die neunjährige Vari ante? Folgt man den Studien zu G 8, so hat man in der Tat den Eindruck: Alles in Butter; im direkten Vergleich zu G 9 zei gen sich keine Unterschiede bei der Leistung, bei der Studier fähigkeit, beim Freizeitverhalten oder bei Belastung und Stress.

Für Aufmerksamkeit hat allerdings eine neuere Untersuchung eines jungen Wissenschaftlers des Mannheimer ZEW, Sebas tian Camarero Garcia, gesorgt, die Anfang Mai in der FAZ diskutiert wurde. Ihm zufolge gibt es auf Grundlage einer Me tastudie über alle Bundesländer hinweg valide Hinweise dar auf, dass G 8 zu einer starken sozialen Selektion geführt hat. Während zu Beginn der sogenannten Reform alle Gesell schaftsschichten litten, konnten ab Mitte der 2000er-Jahre demnach vor allem Begüterte und Gebildete die Defizite aus gleichen, die mit einer Schulzeitverkürzung einhergingen. Ge litten haben diejenigen, die sich nicht die höchsten Nachhil fekosten in ganz Deutschland – das ist baden-württembergi sche Realität – leisten können. Insbesondere in Mathe und Na turwissenschaften ist das Maß an Ungleichheit danach beson ders angestiegen. Kurz: Nach dieser Studie bedeutet G 8 eine deutliche soziale Selektion: Geld schlägt Begabung. Das ist ein unmöglicher Zustand.

(Beifall bei der SPD)

Was muss also geschehen? Erstens sollte das Kultusministe rium den Mut haben, die gegenwärtigen Probleme an unseren Gymnasien genau unter die Lupe zu nehmen. Frau Felder, bei allem Respekt, aber das alte G 8 können Sie überhaupt nicht mit dem neuen G 8 vergleichen, weil dem ein ganz anderer Bildungsplan zugrunde liegt.

Auf Grundlage einer möglichen Studie – diese sollte eine Eva luation zu G 9 beinhalten – könnten wir dann entscheiden, an

welchen Stellschrauben gedreht werden muss und wie sich das Gymnasium weiterentwickeln kann. Wenn zu den Lösun gen eine Verlängerung der Schulzeit und damit eine Rückkehr zu G 9 gehören könnte, sollte darüber ernsthaft diskutiert wer den. Eine pauschale Rückkehr als pauschale Lösung wird aber keinen Erfolg bringen.

Zweitens muss die Deckelung der Oberstufen an Gemein schaftsschulen bei Bedarf aufgehoben werden.

Drittens müssen allgemeinbildende und berufliche Gymnasi en endlich alle Lehrerstellen erhalten, die sie brauchen. Der Skandal ist doch, dass Grün-Schwarz zu Beginn dieses Schul jahrs über 1 000 Lehrerstellen gestrichen hat und dass an den Gymnasien und den beruflichen Schulen der Unterrichtsaus fall neue Höchstwerte erreicht. Zugleich sitzen 2 500 junge Lehrerinnen und Lehrer mit entsprechender Qualifikation auf der Straße. Das ist der Skandal. Lehrerstellenstreichung in Ba den-Württemberg hat drei Namen: Eisenmann, Sitzmann, Kretschmann.

(Heiterkeit der Abg. Dr. Christina Baum AfD)

Der ökokonservative Abbau von Lehrerstellen muss zurück genommen werden,

(Beifall bei der SPD – Zuruf der Abg. Gabi Rolland SPD)

und dann können wir auch deutlich besser die empfundenen Defizite beim G 8 in den Griff bekommen.

Ich danke Ihnen.

(Beifall bei der SPD)

Für die FDP/DVP-Fraktion er teile ich das Wort Herrn Abg. Dr. Kern.

(Staatssekretärin Friedlinde Gurr-Hirsch: Ein Kern anliegen!)

Frau Präsidentin, liebe Kol leginnen und Kollegen! Für uns Freie Demokraten sind Wahl freiheit und Chancengerechtigkeit zentrale Pfeiler in der Bil dungspolitik. Dass die damalige, grün-rote Landesregierung davon nur wenig hielt, zeigte der sogenannte Schulversuch mit G 9. Im Landkreis Lörrach wusste sich die Schulverwal tung nicht anders zu helfen, als die G-9-Plätze zu verlosen. Es ist an Absurdität kaum noch zu überbieten, dass die Bildungs biografie eines Kindes in Baden-Württemberg unter der da maligen, grün-roten Landesregierung also auch vom Losglück abhing, liebe Kolleginnen und Kollegen.

(Beifall des Abg. Dr. Hans-Ulrich Rülke FDP/DVP – Vereinzelt Beifall bei der AfD)

Auch die aktuelle Regierung aus Grünen und CDU hat diesen Schulversuch verlängert, statt eine langfristige und tragfähi ge Lösung zu erarbeiten. „Komplementärkompromiss“ nen nen Sie diese Politik; wir nennen es schlicht: schlechte Bil dungspolitik für die Menschen in unserem Land, liebe Kolle ginnen und Kollegen.

(Beifall bei der FDP/DVP)

Darum werbe ich heute noch einmal für unseren Vorstoß ei ner G-8/G-9-Wahlfreiheit zu gleichen und fairen Bedingun gen. Nach wie vor stehen wir zu G 8 und lehnen eine allge meine Rückkehr zum neunjährigen allgemeinbildenden Gym nasium ab; denn die beruflichen Gymnasien als abgestimm ter Anschluss an die mittlere Reife bilden für uns die regulä re neunjährige Alternative zum achtjährigen Gymnasium.

Als konstruktive Oppositionskraft haben wir nach dem von Grün-Rot eingeführten, überflüssigen Schulversuch G 9 an 44 Standorten einen eigenen Vorschlag zur Lösung der aufgewor fenen Gerechtigkeitsfrage skizziert. Alle Gymnasien sollten im Verhältnis zur jeweiligen Schülerzahl die gleiche Personal ausstattung erhalten. Parallel dazu bestünde die Möglichkeit, neben dem Standardweg eines Abiturs in acht Jahren einen neunjährigen Bildungsgang anzubieten, diesen z. B. für Schü lerinnen und Schüler, die sich intensiv ihren Talenten und In teressen in Musik, Sport oder dem Ehrenamt widmen wollen.

Den mit zusätzlichen Lehrerwochenstunden privilegierten Schulversuch G 9 wollen wir beenden bzw. auslaufen lassen.

(Vereinzelt Beifall bei der FDP)

Leider lehnte die damalige, grün-rote Landesregierung unse ren Vorschlag ab. Die aktuelle, grün-schwarze Landesregie rung beschränkte sich dann darauf, diesen Schulversuch zu verlängern.

Wir, die FDP/DVP, aber halten an unserem Vorschlag fest. Sehr geehrte Frau Kultusministerin Eisenmann, wir Freien Demokraten fordern Sie heute auf, zu unserem Vorschlag Stel lung zu beziehen. Denn den Schulversuch einfach zu verlän gern, ist nicht mehr als ein fauler Komplementärkompromiss, wie er für diese grün-schwarze Landesregierung in der Bil dungspolitik mittlerweile leider so typisch geworden ist.

(Zuruf des Abg. Dr. Friedrich Bullinger FDP/DVP)

Eine inhaltliche Schnittmenge ist bei dieser Frage nicht vor handen, weil die Grünen mit G 9 den Gemeinschaftsschulen keine Konkurrenz machen wollen und die CDU ganz allge mein eine Wahlfreiheit G 8/G 9 fordert, und dies übrigens in bemerkenswerter Abkehr von der Linie der damaligen CDUKultusministerin Annette Schavan, die das achtjährige Gym nasium eingeführt hat. In dieser Pattsituation war die Verlän gerung des Schulversuchs G 9 schlicht der Weg des gerings ten Widerstands und damit die schlechteste der denkbaren Al ternativen – und das Gegenteil einer Lösung für die verfahre ne Situation.

Ich betone, dass es bei unserer G-8/G-9-Wahlfreiheit um glei che Bedingungen für Gymnasien geht. Denn dass die G-9-Gym nasien im Rahmen des Schulversuchs zwölf Lehrerwochen stunden zusätzlich erhalten, bedeutet sehr wohl eine Privile gierung gegenüber den G-8-Gymnasien. Diese zwölf Stunden sollen laut Kultusministerium für Zusatzstunden insbesonde re in Deutsch, Mathematik und Fremdsprachen verwendet werden.

Ich frage die Kultusministerin, Frau Dr. Eisenmann: Sollte diese Möglichkeit nicht allen Gymnasien zur Verfügung ste hen, egal ob G 8 oder G 9, wenn es die Mittel zulassen? Eine liberale Wahlfreiheit würde jedem Gymnasium dieselbe Zahl von Lehrerwochenstunden zur Verfügung stellen, und wenn

allgemein feststeht, dass die derzeitigen 194 Wochenstunden nicht ausreichen, setzen wir Freien Demokraten uns für eine Erhöhung dieses Budgets in finanzierbarem Rahmen, bei spielsweise im Zusammenhang mit einer Ganztagskonzeption, ein – aber bitte für alle Gymnasien gleichermaßen.

(Beifall bei der FDP/DVP)

Ich fürchte jedoch, dass diese Landesregierung – wie hier bei den Gymnasien – weitere Baustellen im Bildungsbereich lie gen lässt, statt sich auf eine in sich schlüssige, vernünftige Bil dungspolitik zu einigen.

Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit und bin sehr ge spannt auf die Stellungnahme der Kultusministerin zu unse rem Vorschlag.

Vielen Dank.

(Beifall bei der FDP/DVP)

Für die Landesregierung er teile ich das Wort Frau Ministerin Dr. Eisenmann.

Frau Präsidentin, meine sehr geehrten Damen und Herren! G 8/G 9, das ist eine Diskussion analog zu dem, was Eltern momentan als Petition – das wurde ja als Begründung genannt – einbringen. Zunächst kann man sagen: Es ist im mer sinnvoll, sich über Schularten auszutauschen. Es macht auch Sinn, über das Gymnasium zu diskutieren. Deshalb freue ich mich über die Gelegenheit heute Morgen, und ich kann vorneweg sagen: Unsere Gymnasien in Baden-Württemberg stehen sehr gut da, die Lehrerinnen und Lehrer machen dort eine exzellente Arbeit.

(Zuruf des Abg. Dr. Friedrich Bullinger FDP/DVP)

Übrigens können sich auch die Qualitätsgrundlagen bei unse ren Gymnasien im bundesweiten Vergleich bestens sehen las sen. Wir haben die höchsten Übertrittsquoten ins Gymnasi um, inzwischen über 44 %. Deshalb tue ich mich etwas schwer mit der Behauptung, dass das G 8 nicht attraktiv sein soll.

(Beifall bei der CDU und Abgeordneten der Grünen)

Ich weiß auch, dass in der Politik gern gefühlte Wahrheiten eine Rolle spielen. Eine solche gefühlte Wahrheit ist, dass der G-8-Schüler, die G-8-Schülerin keine Zeit mehr für irgendet was anderes habe. Dann schauen Sie sich bitte einmal Ver einsmitgliedschaften an, im Sport-, im Kultur- und Musikbe reich. Schauen Sie sich die Struktur dieser Mitgliedschaften an, schauen Sie sich das Engagement der Ehrenamtlichen an. Wie kommen Sie bitte auf die Idee, es hätte dort nachgelas sen? Ganz im Gegenteil: Dankenswerterweise ist das Enga gement der jungen Leute, übrigens gerade auch der Gymna siasten, in diesen Bereichen, vom Musikverein über den Sport verein bis zur Freiwilligen Feuerwehr, größer denn je.

(Beifall bei den Grünen und der CDU)

Gefühlte Wahrheit und Realität: Auch da empfehle ich drin gend, sich in der Bildungspolitik eher der Realität anzunähern als dem, was der Bauch einem sagt. Das heißt, ich kann über haupt keine mangelnde Attraktivität feststellen.

Natürlich haben Sie, Herr Dr. Fulst-Blei, recht, wenn Sie sa gen, dass das G 8 von damals anders war. Als das G 8 einge führt wurde, war die Übergangsquote übrigens deutlich gerin ger. Das hat sich inzwischen alles auf hohem Niveau stabili siert, weil wir natürlich Bildungspläne überarbeitet haben. Deshalb haben Sie recht: Das G 8 von damals ist mit dem von heute nicht mehr vergleichbar.

Wir haben das Gymnasium weiterentwickelt. Wir haben erst vor Kurzem die gymnasiale Oberstufe ab 2019 den neuen He rausforderungen angepasst. Die Bildungspläne sind angepasst worden.

Deshalb behaupte ich mit voller Überzeugung: Es gibt keine Stimmung gegen das G 8. Auch das ist gefühlte Wahrheit.

(Beifall bei Abgeordneten der Grünen, der CDU und der FDP/DVP)

Ich habe gleichwohl großen Respekt, wenn Eltern sagen: „Ich wünsche mir das G 9, ich wünsche mir mehr Zeit für mein Kind.“ Auch da bin ich sehr dankbar, dass wir in Baden-Würt temberg hierfür ein flächendeckendes Angebot machen kön nen.

Wir haben übrigens im Gegensatz zu den Kolleginnen und Kollegen in Bayern, wo das nicht der Fall ist, das G 9 flächen deckend in Baden-Württemberg – in den Städten, in ländli chen Gebieten –, und zwar auf hohem Niveau. Das ist wich tig für den Bildungsstandort, wichtig für die Wahlfreiheit der Schülerinnen und Schüler, wichtig auch für den Wirtschafts standort. Ferner sind – über der Realschule und künftig der Gemeinschaftsschule – unsere beruflichen Gymnasien zu nen nen; sie wurden von manchen Rednern beiläufig erwähnt. Sta bil über 35 % der Abiturientinnen und Abiturienten machen auf einem beruflichen Gymnasium ihr Abitur.