Meine Damen und Herren, um zu verstehen, mit welchen Ent wicklungen man es tatsächlich und nicht gefühlt zu tun hat, muss man diesen Prozess allerdings offen und nicht ideolo gisch vorgeprägt analysieren. Nur dann kann man die rich tigen Fragen stellen und die richtigen Antworten finden. Dann zeigt sich – auch das muss ich leider noch mal gegenüber Herrn Balzer sagen –, dass das Thema „Sicherheit im öffent lichen Raum und im öffentlichen Nahverkehr“ im Zusammen hang mit der Frage der Migration und der Flüchtlingsbewe gung, des Multikulturalismus bei einer drohenden Spaltung der Gesellschaft keine zentrale Rolle spielt.
Die tatsächliche Situation sieht anders aus. Die Studie der Ber telsmann Stiftung legt auch belastbares Material für das Ver hältnis zwischen Migration und Zusammenhalt vor. Das Er gebnis ist, dass man – ich zitiere aus der Studie – „keinen Zu sammenhang zwischen dem Bevölkerungsanteil an Auslän dern und Migranten und der Qualität des Zusammenlebens feststellen“ kann.
Nein. – Meine Damen und Herren, gerade diese Feststellung gilt übrigens auch für Baden-Württemberg, das bei dieser Umfrage in Bezug auf den sozialen Zusammenhalt als Land sehr gut abschneidet, gera de weil hier eine lange positive Erfahrung mit Zuwanderung und gesellschaftlicher Vielfalt vorliegt.
Wir machen also in Baden-Württemberg eine ganze Menge richtig, und daran ändert sich nichts, auch wenn manche im mer wieder das Gegenteil behaupten.
Wenn ich Ihnen, lieber Herr Balzer und liebe Damen und Herren von der AfD, zuhöre, wie Sie in den letzten Monaten und auch heute immer wieder die gleichen Unwahrheiten be haupten, dann muss ich an Winston Churchill denken, der ein mal gesagt hat:
Ein Fanatiker ist ein Mensch, der seine Ansicht nicht än dern kann und das Thema nicht wechseln will.
(Beifall bei den Grünen, der CDU, der SPD und der FDP/DVP – Abg. Bernd Gögel AfD: Das haben wir 50 Jahre lang erlebt! 50 Jahre ertragen wir das! – Abg. Thomas Axel Palka AfD: Sie reden immer von sich selbst! – Zuruf des Abg. Stefan Räpple AfD)
Meine Damen und Herren, trotzdem wäre es fahrlässig, wenn man die zentralen Probleme, die wir haben, nicht benennen würde. Dabei bietet die Kultur nicht nur Handlungsmöglich keiten, sie ist auch ein Feld, auf dem die Debatte – –
Sie ist auch ein Feld, auf dem die Debatte, die Auseinandersetzung mit gesellschaft lichen, philosophischen und politischen Grundfragen ausge tragen wird.
Im Hintergrund stehen – wir haben das auch heute schon ge hört – tief greifende Problemfelder und Konflikte: die großen Ungleichheiten bei Vermögen und Bildungschancen zwischen, aber auch innerhalb von Nationen, die Integration von Men schen nicht nur anderer Herkunft, sondern auch aller Alters gruppen, Schichten und Bildungsniveaus. Es geht um die Kon sequenzen der Globalisierung, des Klimawandels, um Per spektiven im Umgang mit unseren begrenzten Ressourcen
Es geht aber auch darum, die Entwicklung hin zu immer mehr Individualisierung und, wie es der Soziologe Andreas Reck witz nennt, der stärkeren Ausprägung singulärer Lebenskon zepte mit den Interessen der Gemeinschaft in Einklang zu bringen.
Viele Kulturschaffende schätzen die Lage durchaus brisant ein und finden klare Worte. Der japanisch-britische Litera turnobelpreisträger Kazuo Ishiguro beispielsweise sprach vor wenigen Wochen bei der Verleihung des Nobelpreises sehr deutlich von den vergangenen etwa 30 Jahren als einer – ich zitiere – „Epoche der Selbstgefälligkeit und der vertanen Ge legenheiten“, was dazu geführt habe, dass sich rechtsextreme Ideologien und völkische Nationalismen rasant ausbreiten, dass Rassismus – Zitat –,
ob traditioneller Prägung oder in seinen moderneren, professioneller vermarkteten Erscheinungsformen
Meine Damen und Herren, es geht vielen dieser Rassisten und Nationalisten nicht um ein positives Weltbild, sondern um Machtgewinn. Dafür ist ihnen jedes rhetorische Mittel recht: Abwertung, Destruktion, Zersetzung.
Was wir aber brauchen, sind neue progressive, einigende Ideen und Vorstellungen für eine vielfältige Gesellschaft der Zukunft.
Kunst ist Freiheit, liebe Frau Gentges, aber sie ist mehr als das. Und freier Eintritt allein macht noch keinen Zusammen halt.
Versteht man Kunst und Kultur im Sinne eines freien Feldes der Möglichkeiten und des Experiments und eben nicht als Leitkultur, so können über Kunst gewonnene Erfahrungen auf grund ihres kreativen Potenzials gesellschaftliche Differenzen überbrücken, Verbindendes schaffen, über Klasse, Stand, Re ligion, Sprache und individuelle Prägung hinweg.
Kunst ist Umgang mit Vielfalt. Sie bietet Spielräume, um Neues auch im Umgang miteinander zu erproben.
Wir brauchen die Freiheit der Kunst und mit ihr die Freiheit der kritischen Stimme, des offenen Wortes, des unverstellten Blickes. Es kann nicht darum gehen, anderen unsere Kultur vorstellungen aufzuzwingen.
Aber machen wir uns nichts vor. Kunst und Kultur können auch trennen, spalten, ausgrenzen, wenn sie bestimmte klas sen- oder bildungsspezifische Codes bedienen.
Trotzdem hat Kultur das Potenzial, Menschen zusammenzu bringen. Sie ermöglicht gesellschaftliche Teilhabe und schafft dadurch auch so etwas wie Heimat in dem Sinn, in dem es Mi nisterpräsident Winfried Kretschmann kürzlich in der FAZ be schrieben hat, als eine – ich zitiere –
Kultur ist also ein Baustein für „kulturelle Demokratie“, wie es der Europarat schon in den 1970er-Jahren formuliert hat.
Der Kulturpolitik, der Öffnung der Kultureinrichtungen und insbesondere der kulturellen Bildung für alle Altersgruppen, nicht nur für Kinder und Jugendliche, kommt in diesem Sinn eine zentrale Rolle für die Stärkung und Entwicklung einer aufgeklärten, offenen Gesellschaft zu.
Meine Damen und Herren, wir haben eine reiche Kulturszene – wir haben es gehört – in Baden-Württemberg, sowohl in den Städten als auch im ländlichen Raum. Sehr viele Menschen nutzen das Angebot. Die Kultureinrichtungen, die Künstle rinnen und Künstler leisten heute schon einen wesentlichen Beitrag zum Zusammenhalt vor Ort in den Gemeinden, in den Städten, in den Kreisen, aber auch darüber hinaus. Und sie ha ben in der Vermittlung heute breitere Teile der Gesellschaft im Blick als noch vor ein paar Jahren. Die Themen sind an gesprochen worden: neue Orte, neue Formen der Vermittlung, neue Kooperationen, und zwar über die ganze Spannbreite hinweg. Ich bin ja ganz begeistert, dass die FDP/DVP auch schon die Energie und Kraft der Soziokultur in diesem Zu sammenhang heute erkannt hat.
Gerade in den vergangenen zwei, drei Jahren haben die Künst lerinnen und Künstler in Deutschland gesellschaftliche, teil weise auch politische Fragen, Themen und Modelle in ihre Arbeit und Methodik verstärkt aufgenommen. Dass Kunst auf
die Gesellschaft bezogen ist, ist eben keine Ideologie. Kunst hat immer mit dem Menschen zu tun. Sie arbeitet mit der Ge sellschaft, und manchmal arbeitet sie sich auch an ihr ab. Kunst gibt mit ihren eigenen Mitteln ein Bild vom Zustand unserer Welt. Sie schafft Räume, in denen Menschen sich selbst und die Welt, in der sie leben, erfahren können. Diese Entwicklung müssen wir weiter stärken.
Denn – um ein einfaches Beispiel zu nennen – wer einmal auf einer Bühne in die Rolle eines anderen geschlüpft ist, hat ei ne Erfahrung gemacht, die Fremdes und Eigenes in ein an deres Verhältnis bringt. Oder wer einmal im Chor gesungen hat, der kennt die geradezu körperliche Erfahrung, ganz bei sich, bei seiner Stimme bleiben zu können und zu müssen und doch ein gemeinschaftliches Erlebnis mitzutragen, über das Singen Gemeinschaft zu bilden.
(Beifall bei den Grünen und der Abg. Gabriele Reich- Gutjahr FDP/DVP – Vereinzelt Beifall bei der CDU)