Man muss sich schon fragen, warum eine große Nation wie Russland solche Geschichten aus ihrer Vergangenheit fürch tet.
Meine Damen und Herren, Ministerpräsident Winfried Kretsch mann hat anlässlich der Premiere von „Hänsel und Gretel“ ge sagt, waschechte Demokraten brauchten keine Angst vor der Kunst zu haben. Darum geht es.
Aber auch wenn wir das wissen, gibt es Gründe, warum wir genauer hinschauen müssen, denn Serebrennikov ist kein Ein zelfall; das haben wir heute teilweise schon gehört.
Als Anfang April hier in Stuttgart der Theodor-Heuss-Preis verliehen wurde, konnte die mit einer Medaille ausgezeichne te Schriftstellerin Asli Erdogan nicht zur Verleihung kommen, weil ihr die Ausreise aus der Türkei verweigert wurde. Sie gilt als Fürsprecherin der kurdischen Minderheit; ihr wird u. a. Volksverhetzung vorgeworfen.
Ähnliche Fälle gab es immer wieder – Frau Kurtz, Herr Wein mann, Sie haben sie genannt –: Ai Weiwei, Liu Xiaobo. Aber China ist weit weg, und es ist einfach, sich als westliches Sys tem anklagend davon zu distanzieren. Jetzt sehen wir, dass die Beschränkung der künstlerischen Freiheit als Ausdruck von Macht näher rückt.
Meine Damen und Herren, die Situation in Deutschland ist eindeutig; das wurde gesagt. Artikel 5 Absatz 3 des Grundge setzes regelt, dass die Kunst ebenso wie Wissenschaft, For schung und Lehre frei ist. Damit haben sich die Mütter und Väter unserer Bundesrepublik klar gegen den Kunstbegriff des Nationalsozialismus positioniert und ein Autonomiever ständnis festgeschrieben, das sich in Deutschland und Euro pa vor etwa 200 Jahren für die Kunst herausgebildet hat. Die freie künstlerische Betätigung und die freie Präsentation der Werke in der Öffentlichkeit im Grundgesetz vorbehaltlos zu verbürgen war und ist mehr als ein symbolischer Akt. Dieses
Recht ist eine wesentliche Grundlage für unsere Demokratie. Daher steht es an dieser frühen Stelle im Gesetz und ist unter allen Umständen zu verteidigen.
Denn unsere eigene Geschichte zeigt uns, dass Kunst und Kul tur Gradmesser für den Zustand und die Stabilität einer demo kratischen Gesellschaft sind und dass Einschränkungen zuerst hier beginnen, bevor sie eine Nation als Ganzes treffen. Mit der Beschneidung der Kunst beginnt immer wieder auch die Beschneidung der Demokratie. Diese Einschränkungen, mei ne Damen und Herren, beginnen in der Regel langsam. Sie schleichen sich quasi in die Gesellschaft ein.
Blicken wir noch einmal nach Russland: Dort gibt es offiziell keine Zensur. Mehr noch, die russische Verfassung verbietet Zensur ausdrücklich. Trotzdem gibt es zahlreiche Fälle, in de nen Zensur, oft indirekt, ausgeübt wird.
Offiziell werden Serebrennikov – das ist ein Unterschied zu der Situation in der Türkei – nicht seine künstlerische Hal tung, Art und Inhalt seiner Arbeit vorgeworfen. Stattdessen wird behauptet, er habe Fördermittel des Staates nicht recht mäßig verwendet. Dass das nicht stimmen kann, ist nachge wiesen, aber das ist nicht der Punkt. Der Verdacht liegt nahe, dass Serebrennikov – international gefeiert – zu einem klei nen Verbrecher herabgebrochen werden soll, der Steuergelder veruntreut haben soll. Es geht offensichtlich nicht nur darum, dass er aufgrund von Hausarrest, Fußfessel und Kommunika tionsverbot nicht mehr arbeiten kann, sondern darum, von der kraftvollen Wirkung seiner Kunst abzulenken.
Staatlich gefördert wird in Russland nur das, was die nationa listischen Ideologien stärkt. Wer sich daran nicht hält, hat kei ne Chance, künstlerisch zu überleben, und wird quasi unsicht bar, es sei denn, die internationale Solidarität sorgt dafür, dass dies nicht passieren kann. Deshalb ist der offene Einsatz für Serebrennikov trotz der Angst, von der ich am Anfang gespro chen habe, von großer Bedeutung.
Aber blicken wir zurück in unser eigenes Land. Meine Da men und Herren, die Situation in Russland zeigt: Die Freiheit der Kunst ist die Haltung einer Gesellschaft; sie hängt aber zusammen mit der Frage, wie wir diese Haltung in Politik um setzen. Es ist unsere Verantwortung, durch die staatliche För derung der Künste Freiheit zu garantieren und das doch so fra gile System der Kunst zu schützen. Dass dies immer wieder grenzwertig ist, haben Sie, Frau Kurtz, angesprochen. Es gibt in Bereichen, die auch Sie genannt haben, immer wieder Mo mente, in denen wir uns fragen müssen, ob wir das noch tun.
Russland vor Augen wird aber deutlich, wofür und wogegen wir in einem demokratischen Deutschland kämpfen müssen – in der öffentlichen Debatte, aber auch in der Praxis unserer Kulturförderung. Wir müssen kämpfen gegen die Vorstellung einer national verordneten Leitkultur, die staatlichen Ideolo gien, die politischen Interessen und nicht künstlerischen Inte ressen folgt. Es muss darum gehen, offene Rahmenbedingun gen zu schaffen, Möglichkeitsräume für künstlerische Inno vation zu eröffnen und dies als Chance für unsere Gesellschaft zu begreifen.
Es geht eben nicht, lieber Herr Balzer, um Ihren persönlichen Geschmack, und es geht auch nicht um meinen persönlichen Geschmack. Ob die „Salome“-Inszenierung erfolgreich war oder nicht, sollten wir hier nicht beurteilen;
Meine Damen und Herren, man muss sich auch klarmachen: Es geht in der Kunst nicht um eine Freiheit, die irgendwo au ßerhalb von uns liegt und die mit uns nicht wirklich etwas zu tun hat. Es geht in der Kunst immer um unsere eigene Frei heit. Diese Freiheit ist – wir haben es gesehen – keine Gewiss heit; sie muss immer wieder neu verhandelt, verteidigt und er stritten werden – im Moment, hier in Deutschland, gegen Kräfte, die diese Freiheit instrumentalisieren, einschränken und regulieren wollen. Die Haushaltsdebatten des vergange nen Jahres hier im Landtag sind schon genannt worden.
(Abg. Rüdiger Klos AfD: Heiko Maas! – Gegenruf des Abg. Anton Baron AfD: Ja, Heiko Maas, der Zen surminister! – Gegenruf des Abg. Andreas Stoch SPD)
Schatten der Vergangenheit holen uns ein, wenn wir in Wahl programmen anderer Landesgruppen der AfD lesen, dass Kul tureinrichtungen in der Pflicht seien, einen positiven Bezug zur Heimat zu fördern, und dass Theaterstücke so inszeniert werden sollen, dass sie zur Identifikation mit unserem Land anregen;
Wer frei vom „Zwang des Moralischen“ über Freiheit redet, wie Sie, lieber Herr Balzer, sollte sich solche Texte anschau en.
Meine Damen und Herren, im Programmheft zu der Stuttgar ter Inszenierung von „Hänsel und Gretel“, die vom Stuttgar ter Opernteam mit Materialien von Serebrennikov in einer vorläufigen Fassung hergestellt wurde, findet sich zu Beginn ein Zitat des Künstlers und Gründers des Living Theatre, Ju lian Beck, der über sein erstes Opernerlebnis berichtet, das er mit „Hänsel und Gretel“ hatte. – Es ist schon interessant, dass wir heute gleichermaßen auch über den Wolf und über die He xe reden; das Böse ist heute Morgen präsent.
(Abg. Martin Rivoir SPD: Aber das Gute auch! – Abg. Andreas Deuschle CDU: Der Peter war aber auch da!)
Alles, was ich je auf dem Theater gemacht habe, ist ein Versuch gewesen, die Sehnsucht Freiheit freizusetzen, und den Effekt dieser Freiheit, dieser world to be, jenseits von dem Gefängnis einer Hexe, das das „Hänsel und Gretel“Erlebnis mir eingab.
Meine Damen und Herren, um diese Sehnsucht nach Freiheit zu verstehen, reichen Worte und Plenardebatten nicht aus. Da zu braucht es die Kunst. Gehen Sie in die Oper – es sind nur ein paar Schritte von hier. Freiheit ist ein Gefühl, das man durch Kunst erleben kann – u. a., indem man Angst überwin det.
Herr Kollege Weinmann, wünschen Sie noch einmal das Wort für die FDP/DVP-Frak tion? Damit wären Sie der Einzige. – Sie dürfen selbstver ständlich.
Alles, meine Damen und Herren, von der Kunst bis zum Sport, wird instrumentalisiert, um Russland geopolitisch zu isolie ren.
Im Sport tut man so, als würde nur in Russland gedopt. Der Herr Nawalny – wissen Sie, wer Herr Nawalny ist? der ist so rechts, dass er rechts neben der NPD steht – würde hier im Gefängnis sitzen.