Verehrte Kolleginnen und Kollegen, lassen wir Europa 60 Jah re nach den Römischen Verträgen wieder neu von unten wach
sen. Machen wir uns stark für unsere gemeinsame europäi sche Zukunft. Vertrauen wir auf ein Europa der Regionen. Dann hat auch dieses Europa für die nächsten 60 Jahre eine gute Zukunft.
Frau Präsidentin, liebe Kol leginnen und Kollegen! 60 Jahre Römische Verträge – wahr lich ein Grund zum Feiern. Schauen Sie diese Woche in die Tageszeitungen. Die Bundesregierung hat diese Broschüre flä chendeckend verteilt.
Schaut man auf die erste Seite, liest man: „Chaos? Frust? Kri se?“ Nein, das ist nicht Europa, sondern – blättern Sie die Bro schüre auf –: „Chance, Frieden, Kraft“. Dafür steht Europa. Wir in Baden-Württemberg haben von dem Wohlstand profi tiert, den uns die Europäische Union hier bereitet hat.
60 % der europäischen Exporte werden in Ländern innerhalb der Europäischen Union realisiert. Die Stärke des Binnen markts der Europäischen Union hat unsere Wettbewerbsfähig keit international gesichert, und der Wohlstand, den wir in Ba den-Württemberg haben, ist eben ein europäischer Erfolg. Wir profitieren enorm von Europa, nicht nur ökonomisch, sondern auch in anderen Bereichen. Nehmen Sie das ERASMUS-Aus tauschprogramm. Das ist Gold wert für unsere Wissenschaft. Oder nehmen Sie Erasmus+. Das ist das Pendant für den Aus tausch im Handwerk, für ein starkes Handwerk in Europa. Hier profitieren wir in Baden-Württemberg von Europa.
Auch für unsere Natur ist die Europäische Union ein echter Gewinn. Das europäische Schutzgebietsnetz Natura 2000 schafft zusammenhängende und vernetzte Lebensräume
für Pflanzen und Tiere. Die biologische Vielfalt ist als Grund lage unseres Wohlstands damit europäisch verankert, und Eu ropa ist damit der Garant für eine gesunde Natur.
Gleichzeitig wächst Europa durch Infrastrukturprogramme mehr und mehr zusammen. Die Europäische Union ist eine der Wegbereiterinnen für den Ausbau der Rheintalbahn, ei nem Korridor zwischen den Nordseehäfen und dem Mittel meer, um Güterverkehr auf die Schiene zu verlagern. Für mich ist daher ganz klar: Die Europäische Union ist in Baden-Würt temberg Staatsräson, und sie muss es auch bleiben, liebe Kol leginnen und Kollegen.
Die Entwicklung der Europäischen Union verlief nie ohne Wi dersprüche und Rückschläge. Es gab immer wieder einmal
Krisen. Dazu trägt auch bei, dass die europäischen Mitglieds staaten immer seltener mit einer gemeinsamen Stimme spre chen.
Welche Konsequenzen ziehen wir daraus? Die Schlussfolge rungen liegen auf der Hand. Die Europäische Union muss ih re integrative Kraft wieder stärker herausstellen, sie muss Ver trauen schaffen. Dafür braucht die Europäische Union einen weiteren Schub in der Entwicklung. Sie muss demokratischer und transparenter werden.
Sie muss von unten weiterentwickelt werden – nicht von oben –, und sie muss im besten Sinn des Wortes näher an den Men schen sein.
Sie muss die Menschen mitnehmen auf einem Weg zu einer demokratischen und transparenten Europäischen Union. Sie muss Identifikation und Mitsprache ermöglichen und sich am Prinzip der Subsidiarität orientieren.
Um die Europäische Union demokratischer und handlungsfä higer zu machen, brauchen wir keine weiteren Vertragsände rungen. Die erforderliche Einstimmigkeit im Rat wäre derzeit auch völlig unrealistisch. Der Vertrag von Lissabon bietet be reits heute vielfältige Möglichkeiten an. Daher sind weitere Vertragsänderungen nicht notwendig.
Die Europäische Union hat aktuell aber eine ganz wichtige Aufgabe. Frau Präsidentin, Sie haben es selbst bereits kurz angesprochen. Eine neue Aufgabe der Europäischen Union sehen wir in der Festlegung einer neuen Türkei-Strategie. Die Mitgliedsstaaten der Europäischen Union müssen in der wich tigen Frage: „Wie geht es weiter mit der Türkei?“ an einem Strang ziehen. Wir müssen gemeinsam klarstellen, dass die geplanten Verfassungsänderungen in der Türkei das Aus für eine Beitrittsperspektive der Türkei bedeuten würden.
Die Türkei ist für uns nach wie vor ein wichtiger Partner. Wir haben in Deutschland und in der gesamten Europäischen Uni on ein strategisches Interesse daran, dass die Türkei nicht in Richtung Russland driftet. Wir wollen nicht, dass in der Tür kei ein fundamentaler Islam oder ein Ultranationalismus er starkt.
In der Türkei-Frage, liebe Kolleginnen und Kollegen, kann die Europäische Union Flagge zeigen. Das ist ein Thema für die Europäische Union, dem sie sich widmen muss.
In der nächsten Woche kommt der Gipfel in Rom zusammen. Ich wünsche dem Gipfel, dass es gelingt, nationale Egoismen unter den Mitgliedsstaaten zu überwinden und ein Signal für ein starkes Europa auszusenden.
Sehr geehrte Frau Präsidentin, geschätzte Kollegen Abgeordnete, meine Damen und Herren! Am Samstag jährt sich – wir haben es gehört – die Unterzeich nung der Römischen Verträge zum 60. Mal. Sie stellten lan ge Zeit das Fundament für die wirtschaftliche Integration und den Frieden des europäischen Projekts dar, des europäischen Projekts, das in der ursprünglich angedachten und lange Zeit auch praktizierten Form ein Projekt war, das auch wir seitens der Alternative für Deutschland unterstützt hätten und das wir ausdrücklich bejahen.
Doch in den 60 Jahren nach der Unterzeichnung der Römi schen Verträge hat sich viel getan. Der Titel der heutigen De batte „60 Jahre Römische Verträge – Europa neu beleben“ – so hat es die CDU eingebracht – suggeriert mit Recht ein we nig, dass Europa ein todkranker Patient ist, dem man wieder auf die Beine helfen müsste,
auch wenn ich diese unterschwellige, hier auch anklingende, fast schon notorische Gleichsetzung Europas mit der Europä ischen Union zutiefst ablehne.
Das haben Sie, Herr Reinhart, und auch Sie, Herr Schwarz, gemacht. Es wird immer von Europa gesprochen. Doch ge hört nicht auch Norwegen, gehört nicht auch die Schweiz, ge hört nicht auch Serbien, gehört nicht auch Belarus zu Euro pa? Doch, selbstverständlich.
Wir reden über die Europäische Union. Die Gleichsetzung Eu ropas mit der Europäischen Union ist eigentlich nicht zuläs sig.
Ich weiß durchaus, worauf die heutige Debatte anspielt: auf den desolaten Zustand der Europäischen Union. Ja, ich stim me Ihnen ausdrücklich zu. Die EU ist ein kranker Patient, dem es schlecht geht. Ja, man könnte sinnbildlich sagen: „Die EU gehört auf die Couch.“ Ja, die EU sollte schnellstmöglich neu belebt werden. Auch darin stimmen wir Ihnen zu. Aber bitte nicht mit Ihren – nämlich den grundfalschen – Rezepten.
Um den Patienten EU neu zu beleben, muss er erst einmal von seinen Krankheiten geheilt werden. Die Diagnose zum gegen wärtigen Zustand der EU fällt leider niederschmetternd aus. Die EU leidet an einem exorbitanten Zentralisierungswahn.
Da kann man noch so sehr in Sonntagsreden – manchmal auch mittwochs hier im Plenum – das Subsidiaritätsprinzip be
schwören. Die Umsetzung bleibt faktisch doch ein Etiketten schwindel, eine kontrafaktische Täuschung, eine gefährliche Irreführung.
Das, was ich hier von meinen Vorrednern gehört habe, erin nert mich – mit Verlaub – ein wenig an ein Phrasenfestival, wobei ich Ihnen den guten Willen ausdrücklich abnehme.
Die EU leidet auch an ihrem Brüsseler Paragrafenrausch, der sich nicht nur in den allseits bekannten Gurkenkrümmungs-, Glühbirnen- und Staubsaugerregulierungen manifestiert, son dern der sich auch auf entscheidendere Politikfelder erstreckt, etwa im Bereich der Wirtschafts-, der Gesundheits-, der Bil dungs-, der Umwelt- und auch der Einwanderungspolitik, und das mit zum Teil fatalen Folgen. Das Subsidiaritätsprinzip wird von den Brüsseler Eurokraten dabei komplett auf den Kopf gestellt und leider in sein Gegenteil verkehrt.