Wir sind jetzt den Weg gegangen, den jeder verfolgen kann, so gut wie möglich auch präventiv zu reagieren, aber die Maß nahmen auch immer so einzusetzen, dass sie dem Abwägungs vorgang unterliegen: Was richtet das Virus an, und was rich ten die Maßnahmen gegen das Virus an? Das genau ist der Ab wägungsprozess, unter dem wir laufend stehen und den wir ernst nehmen, sonst bräuchten wir uns nämlich gar nicht zu treffen. Dann würde man einfach das, was uns die Wissen schaft über dieses Virus und dessen Bekämpfung sagt, einfach umsetzen, und das hieße, scharfe oder schärfste Maßnahmen. Man bekommt eine Pandemie in die Knie, wenn man ein ganz rigoroses Ausgangsverbot verhängt. Denn es ist klar: Das Vi rus lebt davon, dass Menschen mobil sind und nicht zu Hau se bleiben. Wenn wir das in einer harten Konsequenz tun, kommt die Pandemie zum Erliegen.
Herr Ministerpräsident, ich möch te durch meine Zwischenfrage möglicherweise eine zweite Runde vermeiden. Ich möchte Ihnen einfach folgende Frage stellen – ich glaube, das war auch das, was der Kollege Rül ke angesprochen hat.
Sie argumentieren gerade aus einer situativen Entscheidung: Wie reagieren wir auf steigende Inzidenzzahlen? Machen wir einen totalen Lockdown? Machen wir einzelne Beschränkun gen?
Der Vorwurf, den Kollege Rülke und ich heute Morgen hier im Parlament erhoben haben, war, dass über die Zeit der Som mermonate, in denen die Inzidenzen gering waren, nicht in Szenarien gedacht wurde: Was passiert, wenn bestimmte Wer te überschritten werden?
Herr Kollege Lucha, ich höre Sie. – Der Versuch, anhand eines Ampelsystems mit verschiedenen Inzidenzschwellen zu definieren, was dann passieren muss, war relativ schnell ge scheitert.
Die Forderung, die jetzt im Raum steht, ist, dass heute, Ende November, auch die weitere Entwicklung bis in den Januar hinein in den Blick genommen wird und aufgezeigt wird – das erwarten die Menschen –: Was tun wir, wenn die Inzidenzzah len z. B. auf einen bestimmten Wert sinken, der dann als un kritisch betrachtet wird? Welche zusätzlichen Maßnahmen er greifen wir möglicherweise, wenn die Inzidenzen nicht sin ken? Was tun wir bei steigenden Inzidenzen?
Wir sprachen von der Berücksichtigung unterschiedlicher Sze narien. Das meint Planbarkeit, Voraussehbarkeit. Es meint nicht, ein Szenario vorherzusagen, sondern meint, für be stimmte Szenarien Alternativen zu entwickeln, um darauf zu reagieren. Das war die Frage.
Deswegen die Frage an Sie: Warum hat die Landesregierung das über den Sommer nicht getan, und warum kann jetzt auch nicht über den 20. Dezember oder den 1. Januar hinausge blickt werden?
(Vereinzelt Beifall – Abg. Dr. Hans-Ulrich Rülke FDP/DVP: Ich schließe mich dieser Zwischenfrage an! – Gegenruf des Abg. Karl Zimmermann CDU: Er schließt sich dem Szenario an!)
Also, beim Ver lauf einer solchen Pandemie gibt es drei Möglichkeiten: Ent weder der R-Faktor liegt über 1, dann nimmt die Pandemie einen exponentiellen Verlauf an; je nachdem, wie hoch der Faktor über 1 ist, ist der Verlauf der Kurve steiler oder flacher. Oder der R-Faktor liegt unter 1, dann schwächt sich die Aus breitung der Pandemie ab. Liegt er wenig unter 1, schwächt sie sich langsam ab, liegt er stark unter 1 – etwa bei 0,7 –, schwächt sich die Ausbreitung stark ab, und die Pandemie kommt zum Erliegen.
Bei R gleich 1 – in diesem Stadium sind wir offenkundig; es schwankt immer leicht um den Faktor 1 – haben wir eine Seit wärtsbewegung. Das ist genau der Zustand, in dem wir uns befinden. Warum das genau so ist, kann ich Ihnen nicht sagen, und andere können das auch nicht.
Die Maßnahmen, die ergriffen werden können, wenn sich die se drei Bewegungen zeigen, sind überschaubar. Sie kennen die zwei Säulen der Pandemiebekämpfung: Wir können die Kontakte einschränken, und wir können schauen, dass wir die Kontakte nachverfolgen können. Das sind die beiden generel len Mittel, die wir haben, um die Pandemie einzuschränken. Einen größeren Instrumentenkasten haben wir erst mal vor der Impfung gar nicht. Das sind die Instrumente, die man hat.
Können wir Infektionsquellen orten, wie das im Frühjahr noch weitgehend der Fall war, als wir bestimmte Nester – oder wie wir sagen: Cluster – festgestellt hatten, dann können wir ge zielte Maßnahmen ergreifen, um diese ortbaren Infektions quellen einzudämmen.
Aber selbst jetzt in Hildburghausen in Thüringen mit einem Inzidenzwert über 600 sind keine Cluster ausmachbar. Selbst in diesem Kreis hat die Pandemie offensichtlich eine hohe Dif fusität. Wenn diese Diffusität gegeben ist – das ist leider der Fall –, dann kann man auch nur mit diffusen Maßnahmen da rauf reagieren, nämlich mit der Maßnahme, überall dort, wo Kontakte stattfinden, diese Kontakte einzuschränken.
Herr Kollege Rülke, Sie monieren immer mit Ihrer Frage: Sind die Infektionsherde nachgewiesen? Das haben Sie auch heute wieder getan. Das kann man bei Schulen oder Sonsti gem immer fragen. Das machen wir auch alle. Aufgrund der Diffusität können wir das bei einem Großteil der Infizierten leider nicht mehr machen. Das ist das Problem bei der Reak tion auf die Krise.
Wenn ich mir das immer alles anhöre, wo man sich wahr scheinlich nicht infiziert, frage ich mich: Wo infiziert man sich dann eigentlich?
(Abg. Dr. Hans-Ulrich Rülke FDP/DVP: Hauptsäch lich im privaten Bereich! – Zuruf des Abg. Andreas Stoch SPD)
Ich mache ja niemandem einen Vorwurf. Ich mache wirk lich niemandem einen Vorwurf. Man kann die Dinge unter schiedlich sehen. Ich will nur sagen: Wir sind in einer kom plexen Lage sowohl in Bezug auf die Analyse der Infektionen als auch ihre Bekämpfung.
Jedenfalls ergreifen wir jetzt aufgrund der Diffusität der Pan demie andere Maßnahmen als in der ersten Welle. Die Maß nahmen der ersten Welle haben vor allem auf Kontaktvermei dung gezielt. In der Frühjahrswelle konnten wir noch geziel ter agieren, weil wir die Cluster damals größtenteils ausma chen konnten.
Das ist der Instrumentenkasten, den wir haben, und dessen be dienen wir uns. Nichts anderes tun wir.
Herr Ministerpräsident, Herr Abg. Dr. Podeswa möchte gern eine Zwischenfrage stel len. Lassen Sie die zu?
Wissen Sie: Wenn man dieser Auffassung ist, ergibt sich die Logik, das alle Maßnahmen unsinnig sind.