Das ist klar. Harte Maßnahmen gegen etwas Harmloses zu machen ist natürlich Unsinn. Aber wir teilen Ihre Meinung nicht. Deswegen ist eine Debatte mit Ihnen einfach nicht sinn voll führbar.
Herr Ministerpräsident, ich muss Sie trotzdem noch einmal fragen. Auch Herr Abg. Stein möchte fragen. Lassen Sie das zu?
Nein. – Die Menschheit hat auf solche Pandemien nicht so reagiert, wie Sie es mit der Ansage „Wir leben jetzt mit diesen Krankheits erregern zusammen“ tun. Dann hätten wir nämlich noch im mer die Pest.
Die Menschheit hat sich darangemacht, gegen die Krankhei ten Medikamente zu entwickeln. Das ist der Weg einer aufge klärten Menschheit.
Also noch einmal: Das ist der Instrumentenkasten, den wir ha ben, und dessen bedienen wir uns. Das ist klar. Etwas ande res haben wir nicht.
Wodurch ist die Inzidenzzahl 50 überhaupt in das Infektions schutzgesetz des Bundes gekommen? Das ist in etwa eine Größenordnung, bei der wir nach Erfahrungen davon ausge hen konnten, dass es bei dieser Inzidenzzahl beginnt, dass die Kontakte nicht mehr richtig nachverfolgbar sind. Das ist die Begründung dafür. In dieser Situation sind wir.
Deswegen können wir jetzt leider nicht mehr wirklich sagen, woher die Infektionen kommen, was die Infektionsherde sind. Wir müssen deswegen zu allgemeinen Maßnahmen der Kon taktreduktion greifen. Das ist einfach das Dilemma, in dem wir stecken. Das hat nichts mit Unvermögen zu tun
Wir können nur die Instrumente wählen, die uns bei einer dif fusen Lage überhaupt zur Verfügung stehen.
Dies bitte ich einfach noch mal zu berücksichtigen. Deswe gen kann man dafür auch nicht einfach einen langfristigen Plan aufstellen. Die Szenarien, die Sie fordern, haben wir na türlich auch im Kopf. Das ist ganz einfach: Wenn die Pande mie hochrast, musst du scharfe Maßnahmen der Kontaktbe schränkungen erlassen, wenn sie sich auf einer mittleren Li nie bewegt, eher das, was wir jetzt tun. Wenn die Zahlen he runtergehen, kann man die Maßnahmen lockern. Andere gro ße Szenarien sehe ich erst einmal nicht. Das einfach noch ein mal zur Erklärung.
Das heißt, wir sind schon ein bisschen bei dem, was Sie JoJo-Strategie nennen. Man muss eben immer auf Sicht auf das reagieren, was geschieht.
Wir konnten nun aufgrund von Aussagen der Wissenschaft annehmen: Wenn es uns gelingt, mit unseren Maßnahmen die Kontakte um 75 % zu reduzieren, kommen wir tatsächlich auf eine Inzidenz unter 50. Das ist aber nicht gelungen. Insofern
war das zwar kein Rohrkrepierer, es war aber auch kein ziel genauer Schuss. Das kann man einfach nicht bestreiten.
Wir müssen jetzt sozusagen nachschärfen, weil sich das er wartete Ziel nicht eingestellt hat. Das ist ganz schlicht der Grund dafür. Jetzt gehen wir einfach davon aus, dass diese weiter gehenden Maßnahmen Wirkung erzielen, damit wir hoffentlich noch in diesem Jahr an eine Inzidenz von 50 ge langen. Sehr wahrscheinlich ist das allerdings noch nicht; das will ich offen sagen.
Aber das sind jetzt erst einmal die Maßnahmen in einem Ab wägungsvorgang. Darauf haben auch Sie noch einmal hinge wiesen. Das ist richtig: Wir müssen abwägen.
Natürlich kann man in einem solchen Abwägungsprozess zu unterschiedlichen Ergebnissen kommen. Ein Beispiel ist die Debatte über Wechselunterricht: Welche Vorteile hat er pan demisch? Welche Nachteile hat er pädagogisch? Das müssen Sie abwägen. Darüber kann man unterschiedlicher Auffassung sein.
Auch die Überlegung, was vorgezogene Weihnachtsferien be wirken, ist natürlich immer ein Abwägungsvorgang – sonst hätte die Konferenz auch nicht sieben Stunden lang gedauert. Dazu gibt es ganz unterschiedliche Auffassungen, welche Stei ne man auf welche Seite der Waage legen sollte und ob sich die Waagschale dann da oder dort neigt. Hier kann man zu un terschiedlichen Ergebnissen kommen; das kann doch gar nie mand bestreiten.
Natürlich sehen das nicht alle gleich. Kultusminister sehen das bestimmt etwas anders als ich. Ich weiß jetzt gar nicht, was daran so überraschend sein soll
und weshalb man da gleich große Differenzen in der Koaliti on konstruieren will; das ist nämlich überhaupt nicht der Fall. Es sind ganz normale Unterschiede in der Beurteilung einer Sachlage; das erfolgt ganz normal.
Auch in der Konferenz der Ministerpräsidenten mit der Kanz lerin geht es nicht anders her. Dieses Format ist nun einmal so. Irgendjemand muss ja etwas vorbereiten, Herr Rülke. Die Vorlage wurde durchgestochen, das ist nun einmal Tatsache. Leider hat das manchmal unangenehme Folgen. Beispielswei se haben wir gar nicht beschlossen, dass man sich nur mit ei nem Freund oder einer Freundin treffen darf. Es stand aber in einer Vorlage, die durchgestochen wurde. Die Bevölkerung dachte, das sei schon beschlossen. Das setzt sich dann fest, und Sie müssen sich einer Kritik an etwas stellen, was Sie gar nicht beschlossen haben. Das sind dann schon Kollateralschä den, die sich ergeben.
Diese Durchstecherei macht das Regieren wirklich nicht leich ter. Was der Sinn des Ganzen sein soll, sollten sich diejeni gen, die das tun, einmal überlegen. Das ergibt nämlich keinen Sinn. Es ist nur schädlich und stiftet im schlechtesten Fall Ver wirrung in der Bevölkerung. Aber es ist, wie es ist. Man muss, Herr Rülke, eben auch unter solchen Bedingungen zu Ergeb nissen kommen.
Deswegen werden wir das noch einmal zu besprechen haben. Jetzt ist nämlich vorgesehen, dass wir ab sehr, sehr hohen In zidenzen tatsächlich noch einmal schauen müssen, dass die Abstände auch im Unterricht gewahrt bleiben. Dann muss man so etwas wie Wechselunterricht, Hybridunterricht oder was auch immer einführen oder Klassen an andere Orte ver legen. Das werden wir zu besprechen haben, ob das in dieser kurzen Zeit sinnvoll umsetzbar ist. Das wollte ich Ihnen noch einmal grundsätzlich sagen.
Wir versuchen, einen Ausblick auf die Tage nach Weihnach ten und ins neue Jahr zu geben. Aber der Bundesgesetzgeber hat im Infektionsschutzgesetz des Bundes nun einmal eine Frist von vier Wochen festgelegt. Das heißt, wir müssen nach vier Wochen entweder neu begründen, warum wir verlängern, oder müssen ganz neue Verordnungen erstellen. Schon auf grund dieses Bundesgesetzes können wir Verordnungen nicht in längeren Linien als vier Wochen vorsehen. Wir können al so nur Hinweise geben, wie es bei der jeweiligen Infektions lage wohl laufen wird.
Das haben wir in dem Beschluss auch getan: Man kann nicht annehmen, dass die Welle so deutlich gebrochen wird, in ei ner solchen Tiefe, dass wir schon zu Lockerungen kommen können. Deshalb haben wir hineingeschrieben, dass Gastro nomen, Künstler usw., also alle Institutionen, die wir geschlos sen haben, leider nicht darauf hoffen können, dass in diesem Jahr noch geöffnet wird.
Ich verstehe – das will ich noch einmal sagen – die große Frus tration nicht nur bei Unternehmen, sondern auch bei Künst lern. Ihnen ist ja auch nicht allein mit wirtschaftlicher Hilfe geholfen. Wenn ein Künstler wirklich monatelang einfach nicht auftreten kann, treibt ihn das natürlich um. Es gehört zu seinem Beruf, dass er sich darstellen kann. Das alles verstehe ich sehr gut. Aber dies führt nun einmal zu Kontakten; des wegen schränken wir es ja ein.
Man muss sagen, dass sie natürlich schon auch einen Preis da für mitbezahlen, dass wir andere Bereiche nicht in diesem Maß einschränken. Mein Gott, der Unterricht ist die letzte Großveranstaltung, die wir in Baden-Württemberg zulassen. Das betrifft immerhin eine Million Menschen. Aber das ist ei ne bewusste Entscheidung, wenn man das zulässt. Auch wenn bei Kleinkindern die Infektiosität geringer ist – ab 15 Jahren gleicht sie sich der der Gesamtbevölkerung an und ist in den Inzidenzen teilweise sogar höher. Wenn man das trotzdem so belässt, muss man wegen der Kontakte, die dort entstehen, an anderer Stelle Kontakte mindern. Das ist doch die Wahrheit bei dieser Geschichte.
Jetzt will ich zum Schluss noch etwas zu Weihnachten sagen. Ich muss sagen, Herr Kollege Stoch, Sie haben sich da sehr, sehr klar positioniert und die Ausnahmen für Weihnachten kri tisiert. Das hat mich überrascht. Aber natürlich kann man die se Ansicht vertreten, keine Frage. Ich will nur sagen, dass dies bisher eigentlich von keinem Ministerpräsidenten ins Spiel gebracht worden ist, auch nicht von der Bundeskanzlerin. Wir alle gingen davon aus, dass der Charakter von Weihnachten als das Familienfest schlechthin es einfach erfordert, dass wir – nah an den Menschen – doch auch berücksichtigen, wie wichtig ihnen das ist. Deswegen haben wir die Kontaktmög lichkeiten hierfür erweitert.
Ministerpräsidenten haben vielleicht einen Hang zum Über pragmatismus; das möchte ich nicht völlig bestreiten. Aber es ist jetzt nicht so, dass wir etwas ohne eine verfassungsrecht liche Grundlage beschließen würden; das möchte ich schon einmal betonen.
Artikel 140 unseres Grundgesetzes besagt, dass gemäß Arti kel 139 der Weimarer Reichsverfassung die Sonn- und Feier tage „als Tage der Arbeitsruhe und der seelischen Erhebung gesetzlich geschützt“ bleiben. Das ist die einzige quasi-reli giöse Formulierung, die wir im Grundgesetz überhaupt haben, was immer man unter „seelischer Erhebung“ verstehen kann. Jedenfalls steht es dort. Das steht im Grundgesetz und ist aus der Weimarer Reichsverfassung übernommen: Sie bleiben ge schützt. Dort steht nicht, sie „sind“ geschützt, sondern sie „bleiben“ geschützt. Das heißt, schon die Weimarer Verfas sung hat das als Traditionsbestand vordemokratischer Verhält nisse übernommen.
Das ist, glaube ich, ganz wichtig. Jeder weiß nun, dass das Weihnachtsfest eine hohe Bedeutung hat, die sich letztlich da raus ergibt. Für die Christen ist es immerhin der Feiertag, an dem gefeiert wird, dass Gott Mensch geworden ist – aus Sicht der Christen ein epochaler Einbruch in die menschliche Ge schichte.
Auch wenn das jetzt nicht alle glauben und glauben müssen und es auch dem Staat nicht zusteht, das zu bewerten, so schwingt das doch an Weihnachten immer mit, wie profan es letztlich auch gestaltet wird; das muss man sehen.
Insofern sind wir bei der Formulierung, dass die Feiertage als Tage der Arbeitsruhe und der seelischen Erhebung geschützt sind, nicht frei von einer verfassungsmäßigen Rücksicht, die solch eine Ausnahme auch rechtfertigt. Das will ich schon ein mal deutlich sagen.
Wir werden uns in der Regierung noch über die Länge der Ausnahme besprechen. Es kann ja längstens bis zum 1. Janu ar so geschehen. Mir scheint das zu lange. Ich will Ihnen auch den Grund sagen: Das wären dann praktisch zehn Tage. Das kann natürlich eine Infektionskette auslösen. Wenn das ge schieht, brauchen wir aufgrund der Inkubationszeit noch mal zehn Tage, bis wir das feststellen. Darum erscheint es mir schon aus diesem Grund sinnvoll, es auf die Weihnachtstage zu beschränken. Aber das müssen wir noch besprechen und uns einigen.
Ich möchte Ihnen noch mal sagen: Es ist mir wichtig, das zu begründen. Wir haben es so festgelegt im Bewusstsein der großen Tradition dieses Feiertags als ein Fest des Friedens, der Familie, der Freude, der Hoffnung und wissen, dass gera de in Deutschland dieses Fest eine der höchsten Wertschät zungen aller Feiertage erfährt. Deswegen diese doch modera te Ausnahmegenehmigung. Ich hoffe, dass das alle nachvoll ziehen können.