Protocol of the Session on October 30, 2020

(Unruhe)

Frau Kollegin ReichGutjahr, Sie fragen: Was macht Sie sicher? Wenn es jeman den gäbe, der eine solche Frage hier mit Sicherheit beantwor ten könnte,

(Abg. Nicole Razavi CDU: Genau!)

wären wir klüger und viel weiter.

(Zuruf der Abg. Nicole Razavi CDU)

Wir sind ein lernendes System und können nur anhand der Kenntnisse, die wir aktuell haben, daraus die beste Einschät zungsprärogative – so nennt man das – unter Einbeziehung der Wissenschaft vornehmen.

(Unruhe)

Eine bessere Grundlage haben wir derzeit nicht.

(Beifall bei der CDU und Abgeordneten der Grünen – Abg. Sabine Wölfle SPD meldet sich.)

Die Fakten, das, was wir wissen, hat ja der Ministerpräsident angesprochen. Wir haben eine akute nationale Gesundheits notlage, und er hat betont, wie sich die Entwicklung zuspitzt. Die Kanzlerin hat gestern im Bundestag von „dramatisch“ ge sprochen. Wir alle kennen die Kurvenverläufe, und Statisti ker sehen inzwischen eine sogenannte superexponentielle Zu nahme der Infektionszahlen, weil sich das exponentielle Wachstum selbst auch in seiner Dynamik weiter steigert.

Jetzt will ich eines zugeben: Als die Kanzlerin vor zwei Wo chen, glaube ich, gesagt hat, an Weihnachten drohten 19 000 Neuinfektionen pro Tag,

(Abg. Dr. Rainer Balzer AfD: Wie viele Kranke?)

haben viele von uns gedacht: Das ist Angstmacherei. Jetzt wis sen wir, dass bereits heute die Zahl von 18 000 Neuinfektio nen pro Tag überschritten ist.

(Zuruf des Abg. Bernd Gögel AfD)

Das heißt, eine solche Entwicklung ist sogar schneller zur Re alität geworden, als wir es überhaupt nur gemutmaßt hatten.

(Abg. Anton Baron AfD: Wie viele sind davon krank?)

Wir haben es nicht nur mit einer behaupteten Gefahr zu tun, wie manche immer noch meinen oder auch glauben machen wollen.

Gestern Abend war Professor J., Medizinischer Vorstand und Vorstandsvorsitzender des Klinikums Stuttgart, im Fernsehen. Ich finde, er hat eindrucksvoll betont, dass es jetzt wichtig ist, das Gesundheitspersonal, auch die Leistungsgrenze im Auge zu haben. Deshalb ist es unverantwortlich, wenn Verschwö rungstheoretiker derzeit die Coronasituation auch noch leug nen. Das ist unverantwortlich!

(Beifall bei der CDU, den Grünen und der SPD)

Herr Abg. Dr. Reinhart, lassen Sie eine Zwischenfrage der Frau Abg. Wölfle zu?

Bitte.

Vielen Dank für das Zulassen der Frage. Ich wollte sie eigentlich dem Herrn Ministerpräsiden ten stellen. Aber es waren keine Zwischenfragen erlaubt.

Frau Kollegin Reich-Gutjahr hat indirekt gerade noch einmal gefragt, ob es für Sie eventuell auch klar ist, dass es immer

weitere Lockdowns gibt. Sie haben gesagt, das sei nach dem momentanen Stand des Wissens wahrscheinlich alternativlos; so ungefähr haben Sie sich gerade ausgedrückt.

(Zuruf des Abg. Winfried Mack CDU)

Halten Sie das für eine langfristige Strategie? Wäre es nicht eher einmal eine Überlegung wert – – Natürlich müssen wir jetzt im Moment diese sogenannte Welle brechen, um unsere Gesundheitssysteme nicht zu überlasten. Das ist, glaube ich, alternativlos. Aber wir können doch nicht jedes Mal, wenn die Welle wieder hochkommt, wieder mit dem gleichen Instru mentarium reagieren.

Wäre es nicht sinnvoll, dass man tatsächlich mit den Minis terpräsidenten – auch beim nächsten Gespräch mit der Frau Bundeskanzlerin – eine Gesamtstrategie diskutiert, wie wir lernen, mit diesem Virus zu leben, wie wir vulnerable Grup pen schützen können? Vor allem muss dies eingebettet sein in eine gesamteuropäische Strategie. Denn wir können ja hier machen, was wir wollen; wenn alle Länder um uns herum ho he Infektionszahlen haben, werden die Infektionen immer wieder auch über die Grenze kommen.

Also, wir brauchen eine gesamteuropäische Strategie: Wie le ben wir in Zukunft mit diesem Virus, ohne jedes Mal die Wirt schaft herunterzufahren? Das wäre meine Frage an Sie.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der FDP/ DVP)

Frau Kollegin Wölfle, ich glaube, dass wir da gar keinen Dissens haben. Schauen Sie sich einmal die Rede Ihrer Parteikollegin Malu Dreyer an, die sie gestern im Bundestag gehalten hat, schauen Sie sich die Rede von Frau von der Leyen an, die sie in dieser Woche als Kommissionspräsidentin gehalten hat, schauen Sie auch die Überlegungen an, die im Grunde genommen aus dem Papier der MPK folgen: Ich glaube, wir müssen mit dem Coronavi rus leben – ja –, aber wir alle haben doch die Hoffnung – das hat auch der Kollege Schwarz angesprochen –, dass mögli cherweise schon zum Jahreswechsel sowohl CureVac als auch BioNTech und auch andere Impfstoffe präsentieren können. Das wäre eine Hoffnung. Dann werden wir – zweitens – mit schnelleren Tests reagieren können. Kollege Teufel hat mir heute gesagt, wie die „Testen, testen, testen“-Zahlen hochge gangen sind.

Das Dritte ist: Man kann nur dafür werben, dass die CoronaWarn-App nicht nur von 21 Millionen, sondern von noch mehr genutzt wird.

(Beifall des Abg. Andreas Schwarz GRÜNE)

Ja. – Man wird auch schauen müssen, dass man – da bin ich ja bei Ihnen, Frau Kollegin Wölfle – die besonders gefährde ten Risikogruppen natürlich auch besonders schützt, sie aber nicht absperrt oder aussperrt. Denn wir haben mittlerweile psychosoziale Abwägungen zu treffen; auch das gehört zur Gesamtbetrachtung.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU)

Sie haben völlig zu Recht Europa angesprochen. Schauen Sie mal – der Ministerpräsident hat es angesprochen –: In Belgi en können die Krankenhäuser schon keine Patienten mehr auf nehmen. Übrigens – Schweden wird ja oft zitiert –: Schwe den hat eine vierfach höhere Todesrate, und die Wirtschaft ist dort noch stärker gebeutelt. In Belgien drohen schon ähnliche Szenen wie im Frühjahr in Bergamo oder in New York.

Wir alle hoffen, mit einer niedrigen Todesrate durch den Win ter zu kommen. Das hat auch der Kanzleramtsminister dieser Tage unterstrichen und betont. Präsident Macron hat in dieser Woche bereits vor einer erneuten Triage in Frankreich ge warnt, und auch bei uns sind allein seit Anfang des Monats über 600 Menschen am Virus gestorben. Die Zahl der an Co vid-19 erkrankten Intensivpatienten hat sich im gleichen Zeit raum fast verfünffacht. In 14 Tagen kommen selbst die gro ßen Behandlungszentren unter maximale Belastung, sagt der Präsident der Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin voraus.

Das können wir nicht einfach abwarten. Das kann man doch auch nicht aussitzen.

Und um hier auch einmal der Mythenbildung zur Übersterb lichkeit entgegenzutreten: Dieser Tage hat Eurostat die neu esten Zahlen für den Zeitraum März bis Juni veröffentlicht: europaweit 168 000 Todesfälle mehr als in anderen Jahren. Das heißt: Die Gefahr ist real. Sie lässt sich nicht verleugnen. Sie betrifft reale Menschen und ihre Gesundheit, und sie wird leider auch nicht kleiner, nur weil sie länger anhält.

Verantwortungsvolle Politik kann das nicht ignorieren, son dern man muss dann handeln. Ich will hier nicht verhehlen: Am Sonntagabend hatten auch 16 Fraktionsvorsitzendenkol legen eine Videoschalte mit der Kanzlerin. Sie hat auf die Ent wicklung der Zahlen der Intensivbetten – die teilweise dop pelt belegt wären – und der Zahlen der zu Beatmenden hin gewiesen. Auch bei der Nachverfolgung der Infektionsketten ist schon jetzt die Leistungsfähigkeitsgrenze erreicht.

Übrigens an dieser Stelle, Herr Kollege Gögel: Den Freiwil ligen Polizeidienst da zu diskreditieren, halte ich für völlig unangebracht.

(Beifall bei der CDU sowie Abgeordneten der Grü nen und der SPD)

Schauen Sie mal: Wir sollten an einem solchen Tag der Bun deswehr danken, die die Gesundheitsämter verstärkt. Wir soll ten an einem solchen Tag auch Polizeibeamten danken. Wir sollten an einem solchen Tag allen in der Gesundheit Tätigen danken. Denn die werden belastet, und sie sorgen dafür, dass die Infektionsketten überhaupt noch nachverfolgt werden kön nen.

(Beifall bei der CDU sowie Abgeordneten der Grü nen und der SPD)

Herr Abg. Dr. Reinhart, lassen Sie zwei Zwischenfragen zu? Es liegen zwei Wünsche vor; zum einen hat sich Herr Abg. Baron gemeldet, und dann hat sich noch Herr Abg. Dr. Balzer gemeldet. Lassen Sie diese Zwischenfragen zu oder nicht?

Bitte sehr.

Vielen Dank für das Zulassen der Frage. – Herr Reinhart, Sie hatten ja vorhin den Impfstoff er wähnt. Sie wissen, dass wir auch einen Grippeimpfstoff ha ben und dennoch das Grippevirus nicht ausgerottet ist. Höchst wahrscheinlich wird es ja auch so sein, dass das Coronavirus mutiert. Darüber hinaus hat der Impfstoff auch nur eine Wirk samkeit von – wenn es ein guter Impfstoff ist – ca. 75 %. Da her kann ich mich eigentlich den Ausführungen von Frau Wölfle nur anschließen: Wir werden dieses Virus nicht aus rotten können –

(Zurufe: Frage!)

vor allem dann nicht, wenn wir offene Grenzen haben.

(Unruhe)