Protocol of the Session on July 23, 2020

Herr Abg. Dr. Gedeon, Sie hatten sich zu Wort gemeldet.

Frau Präsidentin, meine Damen und Herren! Es ist leider ein historischer Durch bruch, nur in die falsche Richtung. Es geht nicht nur um Bil lionen, die verschleudert werden und die wir wirtschaftlich nicht überleben – mittelfristig nicht –, es geht um strukturel le Veränderungen, die einschneidendst sind.

Erstens: Dieser gemeinsame Corona-Aufbaufonds führt das Prinzip der Eurobonds ein, das heißt, die Vergemeinschaftung von Schulden. Einzig Herr Schweickert hat es kurz angespro chen. Aber das ist ein ganz entscheidender Zäsurschritt. Frau Merkel hat sich hier – bislang immer anders redend – um 180 Grad gedreht. Ein sicherer Weg in die Schuldenunion.

Zweitens: Die EU hat es geschafft, sich durch die Hintertür einen eigenen Haushalt aufzubauen. Der Wiederaufbaufonds gibt der EU, der Kommission, jetzt die Möglichkeit, über plus/ minus 750 Milliarden € zu verfügen. Das ist das, was sie am meisten will. Das ist letztlich ein Eingriff in die Souveränität der nationalen Parlamente, nur mit einer Zwischentür. Man gibt pauschal eine bestimmte Menge, aber was mit der Men ge geschieht, das entscheidet die Kommission. Das heißt, das ist eine Aushöhlung des königlichen Rechts der nationalen Parlamente.

Es gibt also zwei entscheidende Zäsurveränderungen, einen Durchbruch in einen totalen EU-Staat. Das ist ein Putsch, ein weiterer Weg der putschistischen Politik der Kommission ge gen die Nationalstaaten. Das müssen wir in den Vordergrund

stellen. Da müssen wir entsprechend reagieren und nicht so, wie das bis jetzt geschehen ist, dass wir das mehr oder weni ger noch begrüßen.

Danke schön.

Nun hat Herr Minister Guido Wolf das Wort.

Frau Prä sidentin, liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich will versuchen, die Diskussion wieder auf das eigentliche Thema zu bringen. Viele in diesem Hohen Haus fühlen sich ja diesem gemeinsa men Ziel, das Gegenstand der regelmäßigen europapolitischen Debatten ist, nämlich die Entwicklung Europas hier zum The ma zu machen, sich daran zu beteiligen, dieses Europa auch besser zu machen, verpflichtet. Es gibt andere, die hier gebets mühlenhaft in scheinheiliger Form zum Ausdruck bringen, dass sie zwar nichts gegen Europa, wohl aber alles gegen die Europäische Union hätten. Sie verweigern sich Europa. Sie wollen Europa zerstören. Das wollen wir nicht. Deswegen tre ten wir ihren Ausführungen auch dann, wenn sie in Form ei nes schlechten Märchens vorgetragen werden, entgegen.

(Lebhafter Beifall – Zuruf: Erklären Sie einmal den Wählern in diesem Land Ihren Wortbruch! – Weite re Zurufe)

Ob die Wähler solche Märchen verstehen, wie sie Herr Sän ze in diesem Haus vorgetragen hat, daran wage ich zu zwei feln. Im Gegenteil: Für mich war der Begriff „Märchen“ bis lang positiv besetzt. Nach dem, was Herr Sänze vorgetragen hat, wage ich zu bezweifeln, ob Sie überhaupt noch bereit sind, sich konstruktiv über die Entwicklung Europas ausein anderzusetzen.

(Vereinzelter Beifall – Zuruf: Aber nicht auf Kosten von unseren Kindern!)

Bekennen Sie sich dazu: Sie wollen Europa zerstören. Dann sagen Sie das auch offen und in deutlichen Worten!

(Beifall – Zurufe)

Meine lieben Kolleginnen und Kollegen,

Europa wird in Krisen geschmiedet, und es wird einst die Summe der Lösungen sein, die man für diese Krisen er sonnen hat.

Jean Monnet, einer der Gründerväter der Europäischen Uni on, konnte sich auf seine Erfahrungen berufen, als er diese Worte prägte. Sie könnten aber auch eine Überschrift für die Anstrengungen sein, die aktuelle Coronakrise zu überwinden.

Die gemeinsamen Herausforderungen der Pandemie, der dra matische Wirtschaftseinbruch und die weltpolitischen Verän derungen rufen nach gesamteuropäischen Antworten.

(Vereinzelter Beifall)

Nicht umsonst hat die Bundesregierung ihre Ratspräsident schaft – es wird in dieser deutschen Ratspräsidentschaft auf entscheidende Weichenstellungen ankommen – unter das Mot to „Gemeinsam. Europa wieder stark machen“ gestellt.

(Zuruf: Oh Gott!)

Eine erste und entscheidende Bewährungsprobe war der in den Morgenstunden des Dienstags beendete EU-Sondergip fel. Dieser Gipfel war und bleibt ohne Zweifel historisch. Er war nicht nur bezüglich seiner Länge historisch ein besonde rer Gipfel, er war es auch wegen der besonders emotionalen Aufladung bei diesem Spitzentreffen.

Es ist das größte Finanzpaket, das die Europäische Union in ihrer Geschichte geschnürt hat, und es ist von enormer Bedeu tung, dass es zu einer Einigung kam. Ich habe mich in den letzten Tagen genau in dieser Form ausgedrückt: Es besteht kein Anlass zur Euphorie,

(Zuruf)

aber es gibt Grund, durchzuatmen. Europa ist zu einer Eini gung gekommen. Wäre dies nicht gelungen, wäre das Wasser auf die Mühlen all derer gewesen, die nicht müde werden, deutlich zu machen, Europa sei nicht handlungsfähig. Euro pa ist handlungsfähig, liebe Kolleginnen und Kollegen.

(Beifall – Zurufe)

Auf dem Tisch liegt ein Kompromiss, über den man natürlich auch weiterhin differenziert diskutieren kann

(Zuruf von der AfD: Ja!)

ja, differenziert; damit habe ich nicht Ihre Argumentation gemeint.

(Vereinzelt Heiterkeit)

Gerade im Hinblick auf das Verhältnis zwischen Zuschüssen und Krediten ist ein gangbarer Weg gelungen. Er sichert den besonders betroffenen Staaten in ausreichendem Umfang Hil fe zu. Zugleich bleibt die Belastung für die Europäische Uni on und die Mitgliedsstaaten begrenzt.

Natürlich galt es, diese Balance angesichts der Vielfalt der Po sitionen zu finden. Das ist am Ende gelungen. Darauf kommt es an.

Ich halte es für wichtig, dass die nationalen Investitions- und Reformprogramme einer Kontrolle durch Rat und Kommis sion unterzogen werden. Nun müssen alle genau hinschauen und die Vorhaben der Mitgliedsstaaten kritisch prüfen, damit die europäischen Mittel auch wirklich zielgerichtet mit euro päischem Mehrwert eingesetzt werden können. Klar muss sein: Es geht um die Bekämpfung der Folgen der Coronapan demie und nicht um eine allgemeine Sanierung der nationa len Haushalte in verschiedenen Mitgliedsstaaten. Dafür stel len wir das Geld nicht zur Verfügung.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, für Baden-Württemberg als Exportland ist diese Einigung vor allem deshalb wichtig, weil wir damit eine Stabilisierung des Binnenmarkts erreichen wer den. Und davon profitiert in besonderer Weise Baden-Würt temberg. Das gilt umso mehr in einer zunehmend unsicheren Weltlage. Wir brauchen den EU-Binnenmarkt als sicheren Ha fen.

Mit dem Finanzpaket können wir europaweit dringliche The men, wie beispielsweise die digitale und die ökologische Transformation, voranbringen. Die Position der EU im welt

weiten Wettbewerb wird gestärkt. Wir haben jetzt die Chan ce, verlorenes Terrain im internationalen Wettlauf zurückzu gewinnen.

Allerdings hätten wir uns dafür im MFR, im Mehrjährigen Fi nanzrahmen, auch für das Forschungsprogramm „Horizont Europa“ mehr Mittel gewünscht. Das will ich deutlich anmer ken. Gerade die Forschung spielt jetzt eine zentrale Rolle. Ba den-Württemberg hat hier immer besonders von den EU-Mit teln profitiert. Ich setze darauf, dass auch Mittel aus dem Wie deraufbaufonds „Next Generation EU“ ergänzend in den For schungsbereich fließen.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, als Justizminister weiß ich: Ein funktionierender Rechtsstaat ist das A und O eines jeden Gemeinwesens. Das gilt für die Bereiche Sicherheit und Wirt schaft ebenso wie für den sozialen Frieden. Bei der Rechts staatskonditionalität haben wir in Baden-Württemberg eine klare Position. Das ist auch Gegenstand des Europa-Leitbilds, das wir hier in Baden-Württemberg erarbeitet haben. Viel leicht erinnern Sie sich: Günther Oettinger hat seinerzeit in dem von ihm vorgelegten Entwurf für einen Mehrjährigen Fi nanzrahmen diese Konditionalität ausdrücklich hergestellt, nämlich die Auszahlung von EU-Mitteln an die strikte Ein haltung rechtsstaatlicher Grundsätze zu knüpfen.

Deshalb verhehle ich nicht, dass wir uns hier mehr gewünscht hätten. Die Gipfelergebnisse bleiben deutlich hinter dem bis herigen Kommissionsvorschlag zurück. Ich setze nun darauf und mache mich dafür stark – da spreche ich für die badenwürttembergische Landesregierung insgesamt –, dass in dem konkreten Rechtstext, der nun von der Kommission ausgear beitet werden muss, hinsichtlich der Konditionalität alle Mög lichkeiten ausgeschöpft werden, die die Gipfelergebnisse zu lassen. Der Gipfel hat einen Interpretationsspielraum gelas sen, und diesen gilt es jetzt auszufüllen.

Es war ja schon bemerkenswert – das wissen Sie, wenn Sie die Statements der einzelnen Regierungschefs im Anschluss an die Einigung innerhalb der sozialen Medien gelesen haben –, wer sich da jeweils in welcher Form für seinen Verhand lungserfolg gerühmt hat. Diese Positionen übereinandergelegt passen irgendwie nicht so richtig zusammen. Das heißt, es gibt jetzt schon auch noch Interpretationsspielraum, den es zu nut zen gilt.

Im Europäischen Parlament – das will ich ganz aktuell hier einbringen – zeichnet sich eine breite Mehrheit für eine Ent schließung ab, in der ein ambitionierter Rechtsstaatsmecha nismus gefordert wird. Die Entschließung wird von der EVP, den Sozialdemokraten, den Liberalen, den Grünen und den Linken mitgetragen. Also hier gibt es ganz offensichtlich auch im Europäischen Parlament einen parteiübergreifenden Schul terschluss.

Das Parlament wird seine Forderung bekräftigen, dass auf Ba sis des Vorschlags von Günther Oettinger aus dem Jahr 2018 das bereits laufende Gesetzgebungsverfahren fortgesetzt wird. Das kann ich nur begrüßen, und das entspricht auch dem, was wir in unserem Europa-Leitbild zum Ausdruck gebracht ha ben.

Die für Fragen der Rechtsstaatlichkeit zuständige Vizepräsi dentin der Kommission, Vera Jourova, war bei uns im Rah men einer Veranstaltung im Zuge der deutschen Ratspräsi

dentschaft im KIT in Karlsruhe, und sie hat betont, die Ver letzung rechtsstaatlicher Grundprinzipien in einem Mitglieds staat erschüttert die gesamte Rechtsgemeinschaft der Europä ischen Union. Daher warb sie für eine bessere Kontrolle über einen neuen EU-Rechtsstaatsmechanismus. Wir dürfen auf den Kommissionsvorschlag gespannt sein, der im Herbst vor gelegt wird.

Ich darf an dieser Stelle – Kollege Becker hat es schon getan – auf die Bandbreite der Veranstaltungen hinweisen, die wir Baden-Württemberger uns für diese deutsche Ratspräsident schaft vorgenommen haben. Natürlich steht die eine oder an dere Veranstaltung unter dem Vorbehalt der Durchführbarkeit unter Coronabedingungen. Aber wir haben da schon sehr viel Herzblut hineingelegt.

Wir Baden-Württemberger wollen diese deutsche Ratspräsi dentschaft auch wirklich aktiv nutzen, um eigene europapoli tische Akzente zu setzen. Ich würde mich freuen, wenn auch Kolleginnen und Kollegen aus dem Landtag die eine oder an dere Veranstaltung besuchen, sei es in Präsenz oder online.

Dann natürlich der Brexit, der jetzt mit Blick auf das Jahres ende in die finale Runde geht. Bislang stehen wir vor einem tiefen Loch. Einen gemeinsamen Plan mit Großbritannien, wie die Brücke auf die jeweils andere Seite des Abgrunds gebaut werden kann, gibt es bis zur Stunde nicht.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, es ist schon dramatisch. Die EU hat ihre Pläne frühzeitig auf den Tisch gelegt. Wir möch ten eine Konstruktion aus einem Guss, die lange und nachhal tig trägt. Es ist traurig, aber wahr: Aufseiten der Briten ist bis lang nur klar, was sie nicht wollen. Damit lässt sich schwer lich ein Ergebnis zustande bringen. Das Vereinigte Königreich muss akzeptieren, dass es für eine enge Anbindung an den Binnenmarkt auch dessen Regeln beachten muss. Das ist auch mit Blick auf andere Mitgliedsstaaten wichtig. Man kann ei nen Kuchen nicht gleichzeitig essen und behalten wollen.

Wir können nicht zulassen, dass die hohen Standards der Eu ropäischen Union z. B. beim Verbraucherschutz oder beim Ar beitsrecht von Großbritannien unterlaufen werden. Wir haben in Baden-Württemberg als Grenzland zur Schweiz unsere Er fahrungen mit dem komplexen Geflecht bilateraler Verträge. Auch aus diesen Erfahrungen können wir die Europäische Union nur bestärken, einen möglichst kohärenten Vertrags rahmen anzustreben.

Ich hatte in den vergangenen Wochen gleich zweimal Gele genheit, dem Chefunterhändler der EU, Michel Barnier, un sere Anliegen zu erläutern. Ich hoffe sehr, dass eine Einigung vielleicht doch noch bis Mitte/Ende Oktober gelingt. Wir al le wissen, in solchen Verhandlungsmarathons gilt das Mika doprinzip: Wer sich zuerst bewegt, hat verloren. Der Druck wird immer größer, je finaler die Diskussion stattfindet. Inso fern darf man hier auch bis zur letzten Stunde letztlich die Hoffnung nicht aufgeben.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, die nächsten Monate wer den nicht nur wegen der Verhandlungen mit Großbritannien spannend. Die deutsche Ratspräsidentschaft hat sich eine Rei he wichtiger Themen vorgenommen. So rückt das Verhältnis zu China immer mehr in den Blick. Ich wünsche mir eine kla re Haltung und einen Dialog auf Augenhöhe.