Protocol of the Session on April 29, 2020

Freiheitsrechte sind auch immer Abwehrrechte gegen den Staat. Das ist völlig richtig. Aber: Es gibt eine Wechselwir kung, und es gibt dazu auch einen Gesetzesvorbehalt für Frei heitsrechte, wenn sie eingeschränkt werden müssen. Da geht es schon darum, dass man wechselseitig Prioritäten sieht und vor allem auch die Ermächtigungsgrundlage betrachtet auf der Basis – weil Sie gerade die Freizügigkeit ansprechen – – In Artikel 11 des Grundgesetzes – das wurde zu Recht erwähnt – ist die Epidemie von den Verfassungsvätern ausdrücklich als Ermächtigungsgrund für die Einschränkung der Freizügig keit etabliert worden. Auf der Ermächtigungsgrundlage des Gesetzesvorbehalts ist auch das Infektionsschutzgesetz erlas sen worden.

Das ist auch die Ermächtigung dafür, dass diese Regierung im Moment Verordnungen erlässt. Aber ich will hier bewusst un terstreichen und auch sagen – dazu komme ich noch –: Natür lich ist auch die Stunde des Parlaments demnächst immer mehr gefordert. Das kann nicht uferlos und ewig gehen. Das ist doch ganz klar.

(Beifall)

Natürlich gilt hier überall der Grundsatz der Verhältnismäßig keit.

(Zuruf: Wer stellt die fest?)

Das ist überhaupt keine Frage. Wenn Eingriffe erfolgen, müs sen diese geeignet, erforderlich, notwendig und auch ange messen sein.

Aber hier so zu tun, als sei unsere Demokratie in Gefahr und seien die Freiheitsrechte abgeschafft – – Das will ich schon relativieren. Ich vertraue unserer Demokratie, auch dem poli tischen Wettbewerb. Denn auch dieser politische Wettbewerb erträgt Abgeordnete, wie wir das heute Morgen erlebt haben.

(Beifall – Zurufe)

Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen, wir haben des halb viel für die Zeit nach der Pandemie getan. Klar ist: Die Coronakrise fordert uns täglich neu. Wir müssen damit auch unser Krisenmanagement ständig überprüfen, anpassen, auch neu austarieren. Wir werden dabei leider nicht jeden Schaden wettmachen und jeden Nachteil ausgleichen können. Das wür de auch den Staat überfordern. Deshalb ist es richtig, dass wir darüber nachdenken, dann eben auch Prioritäten setzen zu müssen.

Denn den hundertprozentigen Rettungsschirm für alle wird es nicht geben. Der Staat kann nicht alles auffangen. Auch das wird in diesem Zusammenhang zur Wahrheit gehören müs sen.

Schon heute wissen wir: Die Steuerausfälle – wir werden die Steuerschätzung am 19. Mai bekommen – werden enorme Lö cher in die öffentlichen Haushalte reißen. Ich bin einmal ge spannt, ob die 4-Milliarden-€-Prognose, die von der Finanz ministerin heruntergebrochen wurde, dann noch stabil ist und die Realität darstellt.

(Zuruf: Keinesfalls)

Ich befürchte, dass wir mit einer neuen grausamen Wirklich keit konfrontiert werden. Deshalb müssen wir gezielt helfen, vorrangig dort, wo die Not am größten ist. Das gilt ganz si cher für Gastronomie und Tourismus. Kaum ein Wirtschafts zweig war früher, härter oder anhaltender von Beschränkun gen bedroht und betroffen. Es ist ein echter Durchbruch und ein wichtiges Signal, dass jetzt, auch auf unsere Forderung hin, die Mehrwertsteuer für die ganze Speisegastronomie ge senkt wurde – das haben wir gefordert, auch Regierungsmit glieder, der Tourismusminister, die Kultusministerin, die Wirt schaftsministerin.

Aber viele Unternehmen haben schon jetzt einen wichtigen Teil der kompletten Saison verloren. Sie brauchen unsere Un terstützung. Deshalb wurde vorgeschlagen, zusätzliche wei tere Hilfen dort ins Auge zu fassen. Ich habe mich gefreut, dass man das heute schon umfassend auch so sieht und gehört hat. Wir müssen hier weiter vorankommen.

Wir brauchen natürlich auch in anderen Bereichen zukünfti ge Hilfen. Aber wir treten auch dafür ein, im Gastgewerbe vorsichtige und verantwortbare Öffnungen möglich zu ma chen. Wir sehen, Österreich macht es Mitte Mai; Söder hat heute verkündet, er werde die Biergärten an Pfingsten, am 31. Mai, eröffnen, wenn das vertretbar sei. Ich kann nur sa gen, ich bin überzeugt davon – – Natürlich sagen manche, die Gefahr einer zweiten Infektionswelle ist immer da, vor allem übrigens im Herbst und Winter. Das ist ja auch die Angst der Virologen. Aber ich glaube, wir müssen dort, wo eine beson nene Rückkehr zur Normalität, dort, wo Lockerungen mög lich und verhältnismäßig sind, diese mit allen Sicherheitsvor schriften auch ermöglichen. Auch das gehört dazu.

(Beifall)

Es handelt sich oft um kleine Familienbetriebe. Sie brauchen eine Perspektive; das ist wichtig. Das Land wäre ohne ihre Gastfreundschaft um vieles ärmer, und wir wollen, dass un ser Land auch in Zukunft ein Land der Gastlichkeit bleibt.

Auch im Kampf gegen die Pandemie sind Kreise, Städte und Gemeinden unsere wichtigen Partner. Wir sehen, dass viele Krisenfolgen in den Kommunen ankommen und dort Lösun gen verlangen. Die Kommunen ziehen die Kindergartenbei träge nicht mehr ein. Sie wollen Lösungen für die Tageseltern finden, sie verlieren Gebühreneinnahmen bei ihren Musik schulen und Volkshochschulen, sie haben Probleme bei den Schülerfahrkarten. Da muss man einspringen.

Wir kennen die sehr prekäre Lage der mittelständischen Bus unternehmen, die ja Teil der kritischen Infrastruktur sind. Auch das Ehrenamt in den Vereinen – oft das Herz des kom munalen Lebens und die Quelle des Zusammenhalts – braucht unsere Begleitung.

Wir lassen die kommunale Familie sowie die Bürgerinnen und Bürger damit nicht allein. Wir stellen uns den Aufgaben als Verantwortungsgemeinschaft für die Familie und für das Mit einander vor Ort, für eine starke Daseinsvorsorge. Deshalb haben wir den Kommunen auch einen Sofortabschlag – mitt lerweile in Höhe von 200 Millionen € – avisiert.

Ich will aber auch sagen: Nach der Steuerschätzung müssen wir über ein Gesamtpaket für einen fairen und tragfähigen Lastenausgleich insgesamt sprechen. Ich sage auch: Wenn es in Zukunft um dreistellige Millionensummen geht, müssen auch das Parlament und der Finanzausschuss beteiligt wer den.

(Beifall)

Denn hier ist der Haushaltsgesetzgeber. Ich finde, auch das gehört zur Wahrheit.

Wir wollen sicherstellen, dass die Kommunen ihre Aufgaben für die Menschen erfüllen können, dass ihre Haushalte geneh migungsfähig bleiben. Wir wollen auch appellieren: Natürlich müssen wir in dieser schwierigen Zeit die Kräfte bündeln, und Hilfsgelder des Landes müssen auch dort ankommen, wo sie gebraucht werden.

Jede Seite muss und wird ihren Beitrag leisten – Europa, Bund, Land und Kommunen, jede Seite. Wir sollten uns nicht gegenseitig mit Forderungen belauern oder gar überbieten. Für uns ist klar: Gerade in dieser Krise müssen Land und Kommunen an einem Strang ziehen.

Wir sind jetzt auf dem schwierigen und unerforschten Weg heraus aus dem Shutdown. Dabei ist es in der Tat wie beim Bergsteigen: Der gefährlichste Teil ist der Rückweg. Man sieht sich buchstäblich über dem Berg, übernimmt sich, wird eventuell nachlässig, macht beim Abstieg Fehler. Fest steht: Es gibt leider nicht den goldenen Weg durch diese Krise. Das zeigen uns auch die Entwicklungen in Singapur oder in Schwe den.

Weil vorhin auf Schweden verwiesen wurde: Herr Kollege Gögel, schauen Sie sich heute einmal FOCUS Online an: die Todesrate beträgt ein Vielfaches. Und vor allem: Dort stürzt

die Wirtschaft genauso ab, und man hat viel größere Proble me. Insoweit wurde zu Recht gesagt, dass dieser Weg – sei es am Anfang in Großbritannien oder in Schweden – ein Irrweg war. Da muss man nur sagen: Der vorsichtige und schrittwei se Weg in Deutschland war auch unter dem Gesichtspunkt der Sicherheit der bessere und der richtigere.

(Beifall)

Natürlich wird noch lange das Prinzip der Vorsicht gelten. Und die Maßnahmen, die wir heute ergreifen, spiegeln sich natür lich erst in der Infektionskurve in zwei Wochen wider. Ande rerseits brauchen wir auch Schritte in die Zukunft. Dazu ge hört: Wir brauchen eine risikosensible, differenzierte Öffnung, die uns schrittweise und kontrolliert, dafür aber auch verläss lich aus der Krise bringt. Das geht logischerweise nicht ohne Widersprüche oder Unstimmigkeiten, über die wir bei jedem Schritt neu beraten und natürlich auch öffentlich diskutieren müssen.

Wir müssen verschiedene Ziele miteinander verbinden. Es gilt, die weitere Ausbreitung des Virus zu verhindern, das Gesund heitswesen weiter zu stärken, Risikogruppen wirksam zu schüt zen, zugleich aber vor allem auch das Wirtschaftsleben wie der zu ermöglichen und die Grundrechtseingriffe zu beschrän ken.

(Beifall)

Das gelingt nur, indem wir uns jetzt langsam und Stück für Stück auch in die Normalität vorarbeiten. Dafür brauchen wir Geduld und Disziplin. Erste Schritte haben wir gemacht. Vie le Türen im Land haben sich mittlerweile wieder geöffnet. Am 4. Mai folgen die Friseursalons unter strengen Auflagen. Al lein dort können 30 000 Menschen wieder zurück an die Ar beit.

Auch die Kirchenpforten stehen bald wieder offen, wie wir gehört haben. Ich gehe mal davon aus, dass all diejenigen, die diese Öffnung gefordert haben, auch regelmäßig in die Kir che gehen.

(Zuruf: Da bin ich einmal gespannt! – Abg. Dr. Hans- Ulrich Rülke FDP/DVP: Sie können ja mit gutem Beispiel vorangehen!)

Denn solche Forderungen wurden in letzter Zeit ja sehr häu fig erhoben. Aber zumindest tut das gut. Es kehrt wieder et was Leben zurück. Und wir haben auch gut gelernt – das ist, finde ich, ein wichtiger Punkt –, die Abstands- und Hygiene regeln umzusetzen. Wir zeigen Anstand durch Abstand. Und die Leitlinie für die nächsten Schritte muss jetzt sein: Überall dort, wo der Infektionsschutz zuverlässig eingehalten werden kann, muss auch eine Öffnung möglich sein.

(Beifall)

Es ist oft genug eine Frage – –

Herr Abg. Professor Dr. Reinhart, lassen Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abg. Klos zu?

Bitte sehr, Herr Klos.

Danke, Herr Professor Dr. Reinhart, für das Zulassen der Zwischenfrage. – Meine Sorge – und ich denke, das ist die Sorge von uns allen – gilt der Tourismus branche: 400 000 Arbeitsplätze in Gastronomie, Gaststätten gewerbe und Hotels. Wir öffnen jetzt die Friseursalons, wo nun wirklich ein enger Körperkontakt besteht. Sehen Sie an gesichts dessen nicht die Möglichkeit – bei Beibehaltung der ganzen Schutzmaßnahmen –, in der Tourismusbranche schnel ler zu einer Lockerung zu kommen? Denn wir haben doch ein Problem: Wir haben keine unternehmensspezifischen Risiken, die sich dort verwirklichen. Vielmehr ist diesen Betrieben auf grund von staatlichen Maßnahmen das komplette Geschäfts modell weggebrochen.

Über diese Frage wird ja jeden Tag öffentlichkeitswirksam diskutiert. Natürlich geht es hier um eine Frage der Abwägung, auch um vorsichtige Schritte und damit um Verantwortung und Vertretbarkeit. Im Grunde bin ich überzeugt davon, dass jeder sich wünscht, dass man lieber gestern als morgen wieder miteinander ein Bier trinken kann, und dies am besten sogar in der Weise, dass man die Gläser miteinander anstoßen kann. Ich denke, das ist un ser aller – ich sage mal – Hoffnung und wünschbares Bestre ben.

Nur: Eines ist auch klar – das hat übrigens auch der Bundes gesundheitsminister gesagt; das sind auch die Punkte, auf die sich die Regierung hier bezieht, auch wenn man mit dem Kanzleramtsminister spricht, und ist das, was auch die Kanz lerin vertritt –: Wir müssen alles tun,...

(Unruhe – Glocke der Präsidentin)

Ich muss um etwas mehr Ruhe bitten. Entschuldigung, Herr Abg. Dr. Reinhart, aber Ge spräche über einen Abstand von mehr als 1 m sind automa tisch lauter. Und es werden gerade viele im Raum geführt.

(Heiterkeit)

... dass man unter dem Gesichtspunkt der Verantwortbarkeit auch mit der Gastrono mie spricht, wie die Sicherheitsregeln eingehalten werden können. Dazu gehört natürlich Abstand, dazu gehört Hygie ne, dazu gehört beispielsweise die Diskussion – wie wir jetzt lesen –, dass an kleinen Tischen nur eine Person sitzen darf und, und, und.

Das sind eben Vorschriften – – Ich war gestern Abend in ei nem Hotel hier in Stuttgart. Ich kann Ihnen sagen: Da hat man Geistererlebnisse. Man kommt in ein Hotel, in dem es keinen Frühstücksraum mehr gibt, in dem es auch keine geöffnete Bar mehr gibt. Da ist man morgens dankbar, wenn eventuell ein Kaffee an die Tür gebracht wird.

(Unruhe)

Insoweit – davon bin ich überzeugt – wird es unser aller Be streben sein, dass man unter Wahrung der Verhältnismäßig keit, mit Verantwortbarkeit und vor allem unter Berücksich tigung der Entwicklung der Zahlen – auch der Infektionszah len, ob eben auch der R-Faktor noch deutlich unter 1 bleibt – eine Lockerung verantworten kann.

Das ist doch der Unterschied zu den Wissenschaftlern. Jeder Wissenschaftler, dem man zuhört, spricht von „könnte“, „man