Protocol of the Session on April 29, 2020

Das ist doch der Unterschied zu den Wissenschaftlern. Jeder Wissenschaftler, dem man zuhört, spricht von „könnte“, „man

weiß es nicht“, von Gefahren, Risiko und Möglichkeiten. Ver bände sprechen von „öffnen“, andere sagen: „Vorsicht“. Die Politik aber muss entscheiden, und sie trägt die Verantwor tung. Das ist eben der Unterschied zur Wissenschaft.

Deshalb verstehe ich jeden, der sagt: „Wir gehen hier etwas vorsichtiger voran.“ Ich glaube, auch das ist entscheidend. Es ist immer die Frage: Ist eine Maßnahme vertretbar, ist sie ver hältnismäßig, ist sie angemessen? Darum wird es jetzt gehen – hoffentlich auch am Donnerstag. Ich plädiere für eine Lo ckerung.

(Beifall)

Ja, meine verehrten Kolleginnen und Kollegen, das heißt des halb genau: Es ist eine Frage der klugen Gestaltung, auch der praktizierten Vernunft und der mündigen Eigenverantwortung. Wir sollten immer auch den Begriff der Eigenverantwortung im Auge behalten. Denn auch darum wird es bei jedem Ein zelnen gehen. Wir können nicht nur alles mit Vorschriften vor geben. Damit können es nicht nur fixe Quadratmeterzahlen oder Branchenbeschränkungen sein.

Ich habe mich gefreut, dass sich der Ministerpräsident bei al len Fraktionschefs bedankt hat. Jeder von uns ist ja mit Dank unbegrenzt belastbar. Das wissen Sie, Herr Ministerpräsident. Ich will Ihnen sagen: Ich habe in jedem Punkt zugestimmt. Bei den 800 m2 hatte ich – ohne Vertrauliches zu verraten – eine andere Auffassung. Denn ich glaube, wir hätten uns man che Gerichtsprobleme erspart, wenn man dem Vorschlag, den Sie, den Ihre Regierung hatte, gefolgt wäre: wenn überhaupt, dann vielleicht 20 m2 pro Kunde – also eine andere, klare Re gelung zu finden, ohne dass man bei Gericht immer über die sen Gleichheitsgrundsatz hätte streiten müssen. Auch das ge hört, denke ich, zu dieser Frage.

(Beifall)

Denn das Ziel bei allen Verhaltensweisen muss sein: In Zu kunft – das wurde auch von vielen, die hier Interviews gege ben haben etc., betont – ist der oberste Satz der Normzweck „Infektionsschutz“. Das ist die Leitlinie, und das muss auch der Normzweck sein. Unter diesem Obersatz erfolgen hoffent lich auch die kommenden Beratungen am Donnerstag – des halb sage ich das heute hier – zwischen der Kanzlerin und al len 16 Regierungschefs der Länder.

Eine besondere Herausforderung haben momentan auch die Schulen und die Familien zu Hause zu bestehen. Wir wissen, wie sehr Eltern und Familien die Frage beschäftigt, wie der Schulbetrieb wieder hochläuft und was das für die Schülerin nen und Schüler konkret bedeutet. Niemand bestreitet: Die Lage, in die uns das Virus gezwungen hat, ist für Eltern, für Schüler, für Lehrer angespannt, teilweise auch unbefriedigend. Das kann auch gar nicht anders sein. Und natürlich war und ist der Shutdown der Schulen auch bildungspolitisch nicht das, was wir uns wünschen.

Die Kultusministerin wie auch die CDU-Fraktion stehen für Bildungsqualität, und zwar durch bestmöglichen Unterricht. Deshalb tut es natürlich weh, wenn Unterricht, wenn über haupt, nur stark eingeschränkt oder gar nicht stattfinden kann.

Es beeindruckt mich sehr, wie engagiert die Schulen digitale Lernformate möglich gemacht haben. Davon, was hier in kür zester Zeit an Know-how entstanden ist, werden wir sicher

auch in Zukunft profitieren können. Natürlich gibt es auch da große Unterschiede, aber auch der beste Video- oder Audio chat kann das reale Geschehen in der Klasse nicht ersetzen.

(Vereinzelt Beifall – Zurufe: Jawohl!)

Das Kultusministerium, die Schulämter, die Schulleitungen, die Kollegien, die Schulträger arbeiten rund um die Uhr an den Szenarien, wie eine gestufte Rückkehr in die Klassenzim mer aussehen kann. Aber wir werden in diesem Jahr nicht mehr in den Status quo ante zurückkehren können.

Viele Menschen im Land entwickeln hier höchsten Einsatz mit großer Kreativität, auch Lösungen und Perspektiven. Auch ihnen sage ich hierfür herzlichen Dank.

Wir werden am 4. Mai mit den ersten Jahrgängen starten. Die Notbetreuung wird ausgeweitet. Hoffentlich werden bald wei tere Schritte folgen können. Aber auch hier gibt es nicht die reine Lehre, auch hier geht es um ein kontrolliertes Vortasten. Auch hier sind wir einig, dass der Gesundheitsschutz immer vorgehen muss. Man muss kein Virologe sein, um zu verste hen: Mit Kindern ist es besonders anspruchsvoll, den Infekti onsschutz einzuhalten. Hygienekonzepte und Abstandsregeln kommen eben bei Sechs- oder Achtjährigen schnell an ihre Grenzen.

Ich habe selbst zwei Kinder, die noch die Schule besuchen. Insofern kann ich nur sagen: Wenn Kinder daheim mal in ei ner Videoschalte mit der Schule konferieren, lässt sich das nicht mit Präsenzunterricht vor Ort vergleichen.

Deshalb ist es mit pauschalen Forderungen auch nicht getan. Die Wahrheit ist konkret. Ich denke, das wird Herr Kollege Stoch, der nach mir spricht, am besten unterstreichen können, denn er ist ja als ehemaliger Kultusminister erfahren in dieser Branche.

Wir brauchen differenzierte Angebote für lernschwache Schü ler. Wir müssen Risikogruppen berücksichtigen, müssen auch die unterschiedlichen Anforderungen bedenken. All das hat die Kultusministerin im Blick, und sie nimmt diese schwierige Verantwortung auch hervorragend wahr. Deshalb vielen Dank auch ihr für den exzellenten Job, den sie in diesen Tagen zu erbringen hat.

(Beifall)

Klar ist, verehrte Kolleginnen und Kollegen: Irgendwann kommt eine Zeit nach Corona. Daran müssen wir denken,

(Zuruf des Abg. Sascha Binder SPD)

dafür müssen wir uns rüsten, Herr Kollege Binder. Denn der Wiederaufbau nach der Pandemie wird uns lange in Anspruch nehmen und vielleicht sogar dieses ganze Jahrzehnt prägen.

Es wurde oft betont: Corona ist ein symmetrischer Schock. Er betrifft alle Volkswirtschaften und damit natürlich auch ganz Europa. Als überzeugter Europäer will ich festhalten: Wir ha ben gar keine andere Wahl, als den Coronafolgen auch euro päisch zu begegnen, wie das angesprochen wurde. Deshalb ist es richtig, dass Europa Mittel mobilisiert. Allerdings sind das Mittel über die Europäische Investitionsbank – übrigens steht ihr mit Herrn Hoyer von der FDP ein Deutscher vor –, darü

ber hinaus über den ESM, über ein europäisches Kurzarbei tergeld. Die EU-Kommission hat auch einen Schirm gespannt, ebenso wie die EZB, Frau Lagarde.

Wir unterstützen auch die Pläne für einen europäischen Wie deraufbaufonds. Europa ist solidarisch und steht zusammen. Aber Solidarität darf nicht heißen, dass wir in Europa Kredit karten ohne Limit verteilen. Deshalb können Eurobonds aus unserer Sicht auch nicht die Antwort sein.

(Beifall – Zurufe, u. a.: Genau! – Sehr gut! – Bravo!)

Insoweit wollen wir dort schon auch in die Zukunft blicken. Für Deutschland und für uns hier im Land wird die Corona zeit große Aufgaben hinterlassen. Roosevelts „New Deal“ dachte den Weg aus der damaligen großen Depression in drei Phasen: Relief – Erleichterung und Nothilfe –, Recovery – Er holung und Wiederherstellung der Wirtschaftskraft – und Re form, also Modernisierung und Erneuerung. Wir sind im Mo ment noch in Phase 1.

Wir werden in der nächsten Phase starke Stimuli für die Kon junktur brauchen – von Investitionen bis hin zu aktiven Nach frageimpulsen –, um wieder Schub zu geben. Natürlich wird das auch die erwähnten Themen umfassen, Herr Kollege Schwarz. Es geht in dem ganzen Bereich nicht nur um Hilfe für Solo selbstständige, Messe, Schausteller, Busse, Kultur, Künstler, Einzelhandel, Gastro, Mittelstand, Wirtschaft. Vielmehr gilt es auch, in die Zukunft zu denken – bei der Digitalisierung, der Innovation, der Nachhaltigkeit, auch beim Klima. Aber es wird eines der großen Themen und eine der Herausforderun gen sein, dass wir diesen Transfer jetzt klug ins Auge fassen.

Deshalb: Wir brauchen längerfristige Strategien, Konzepte, wie wir Deutschland nach der Krise stärker und stabiler ma chen. Wir brauchen ein Zukunftsprogramm, das über den Sta tus quo ante und über die reine Verteilungspolitik hinausgeht. Das heißt, wir müssen mehr über Innovation sprechen, über technologische Erneuerung, über Wissen und Forschung, über leistungsfähige Infrastrukturen, Digitalisierung, Wettbewerbs fähigkeit, robustere Wertschöpfungsketten. Sozial ist, was Ar beit schafft. Das gilt heute noch genauso wie früher.

(Beifall)

Deshalb wird es um die Frage gehen, welchen Platz wir nach Corona in der Welt finden.

Lassen Sie mich zum Abschluss kommen. Wir haben hier oft debattiert. Aber die Frage zwischen „America first“ und Chi nas neuer Seidenstraße wird die Herausforderung bleiben. Es wird darauf ankommen, wie wir die katalytische Kraft dieser Krise nutzen. Für mich sind dabei einmal mehr die klassischen Themen und Tugenden der sozialen Marktwirtschaft die Richt schnur, nämlich: sichere Arbeitsplätze, Wohlstand für alle, gu te Ordnungspolitik und Innovation durch Wettbewerb.

So müssen wir die Zeit des Wiederaufbaus angehen. Und ich füge als leidenschaftlicher Parlamentarier hinzu: Es ist gut und wichtig, dass wir diese Debatten auch hier führen.

Ich möchte mich auch bei den Kolleginnen und Kollegen von SPD und FDP/DVP für ihre besonnene und kooperative Hal tung in dieser schwierigen Zeit ausdrücklich bedanken. Wir haben ja am 19. März sehr rasch gemeinsam gehandelt.

Es ist klar, dass sich inzwischen auch wieder verstärkt der op positionelle Geist regt. Das ist auch wichtig, das ist konstitu tiv für Demokratie, auch für Regierungshandeln.

Ich bin überzeugt: Je länger die Ausnahmelage dauert, desto mehr brauchen wir eine gute Balance zwischen legitimieren der Parlamentsbeteiligung und schneller Handlungsfähigkeit der Exekutive. Demokratie kann nicht auf Dauer im Notbe trieb funktionieren. Deshalb gehören die wesentlichen Ent scheidungen in dieses Parlament, auf den Tisch der gewähl ten Abgeordneten.

Wir haben in den letzten Wochen gesehen: Wenn es wirklich zählt, legen wir auch Differenzen beiseite. Es ist nicht die Zeit der schneidigen Sprüche und der plakativen Textkacheln. Es ist die Zeit der Verantwortung. Wir haben bewiesen: Unsere Demokratie ist krisenfest; überall im Land hält der Kitt in un serer Gesellschaft. Es ist ein neuer Gemeinsinn eingekehrt.

Vor diesem Hintergrund sage ich: Ich glaube, es ist eine gute Erfahrung in diesen Tagen. Ich glaube, mehr Nähe als in die ser Zeit der sozialen Distanz gab es lange nicht. Knüpfen wir daran an. Bleiben wir zusammen in der Verantwortung. Stel len wir uns dieser Krise als starkes Land Baden-Württemberg. Die Menschen zeigen derzeit vielfach ihr Bestes, hat der Bun despräsident gesagt. Tun wir das auch, dann werden wir auch diese Krise als Chance der Veränderung bewältigen.

(Beifall)

Nun hat Herr Fraktions vorsitzender Stoch das Wort für die SPD.

Frau Präsidentin, liebe Kollegin nen, liebe Kollegen! Ich glaube, ich spreche im Namen von Ihnen allen, dass wir in der Zeit, seit wir das letzte Mal hier im Landtag zusammengekommen sind, nämlich vor gut sechs Wochen, Dinge in unserem Land erlebt haben, die wir so nicht für möglich gehalten haben. Ich glaube, auch wenn diese Dis kussion teilweise hier im Haus schon aufbricht und draußen in der Gesellschaft geführt wird: Wir müssen immer noch ganz klar sagen, dass wir angesichts der Entwicklung dieser Pan demie, dieser Viruserkrankung, die für viele Menschen in un serem Land hochgefährlich, ja lebensgefährlich ist, angesichts dieser Gefahr überhaupt nicht sagen können, wir hätten schon irgendetwas geschafft oder erreicht. Deswegen, meine sehr geehrten Damen und Herren, verbietet es sich, glaube ich, an gesichts von Menschen, die um ihr Leben kämpfen, leichtfer tig darüber zu reden, was der Wert eines Menschenlebens ist.

(Vereinzelt Beifall)

Wer wie der Oberbürgermeister von Tübingen das Leben von jemandem, der vielleicht noch ein halbes Jahr zu leben hat, in einer Weise abwertet, wie es geschehen ist, hat weder das christliche Menschenbild noch unser Grundgesetz noch den Grundsatz der Solidarität verstanden, meine sehr geehrten Da men und Herren.

(Beifall)

Ja, wir befinden uns in einer weltweiten Krise, aber – inso weit möchte ich auch dem Herrn Ministerpräsidenten meinen Dank aussprechen – wir haben in Deutschland und auch in

Baden-Württemberg eine Lage, die weit weniger verheerend ist als in anderen Ländern dieses Globus. Wir haben in Deutsch land schneller reagiert, als es anderswo der Fall war, wir ha ben schneller und effizienter mit den Tests begonnen, und wir haben auch bereits Konsequenzen gezogen. Als es um eine beängstigende Zahl von Infektionen ging, haben wir reagiert, während anderswo die Entscheidung von Ärzten getroffen werden musste, wer ärztlich behandelt wird und wer nicht.

Deswegen, meine sehr geehrten Damen und Herren, zeigen sich gerade in einer solchen Situation der Wert einer Demo kratie, der Wert eines solidarischen Gemeinwesens und eben auch der Unwert von Menschen wie einem US-Präsidenten, der den Menschen empfiehlt, Desinfektionsmittel zu spritzen. Das ist der Wert einer freiheitlichen Demokratie, und das ist auch das Gelingen einer freiheitlichen Demokratie, liebe Kol leginnen, liebe Kollegen.

(Beifall)

Die Geschichte, die heute hier wieder erzählt wird, die Ge schichte, die wieder damit begonnen wird, dass Grundrechte entzogen würden, spricht, meine sehr geehrten Damen und Herren, von ganz erheblicher Unkenntnis, vor allem auch rechtlicher Unkenntnis.

(Vereinzelt Widerspruch)