Aktuelle Debatte – 100 Tage Polizeireform – erste Bilanz eines fehlgestarteten Projekts – beantragt von der Frakti on der CDU
Das Präsidium hat eine Gesamtredezeit von 40 Minuten fest gelegt. Darauf wird die Redezeit der Regierung nicht ange rechnet. Für die einleitenden Erklärungen und für die Redner in der zweiten Runde gilt jeweils eine Redezeit von fünf Mi nuten.
Herr Präsident, werte Kollegin nen und Kollegen! Heute vor 102 Jahren startete die Titanic zu ihrer Jungfernfahrt.
Auch dort war im Maschinenraum alles in Ordnung – um ein Bild aufzugreifen –, aber auf der Brücke hat es geklemmt.
Heute, am Tag 100 der Polizeireform in Baden-Württemberg, kann ich feststellen: Auch bei uns ist im Maschinenraum al les in Ordnung, Probleme gibt es auf der Brücke.
Allerdings: Im Maschinenraum, der gut arbeitet und funktio niert, leidet die Motivation, und uns erreichen unzählige Be schwerden aus der Polizei, aus der Justiz, aus der Bevölke rung.
Heute, 100 Tage nach dem Start, ist es noch zu früh, ein end gültiges Fazit zu ziehen. Aber es ist jetzt dringend an der Zeit, eine 100-Tage-Bilanz zu ziehen, da Fehler, die systembedingt angelegt sind, jetzt schon sichtbar werden und zum Tragen kommen.
Viele haben gewarnt, insbesondere dass die Polizeireform bür gerferne Mammutbehörden schaffe, die die Steuerzahler Mil lionen Euro kosten werden.
Die Kritik an Ihrer Reform, meine Damen und Herren, ist nicht mehr zu überhören. Zuletzt ließ der GdP-Landesvorsit zende, der bisher nicht zu den Hauptkritikern gehörte, via „Stuttgarter Zeitung“ ausrichten: „Es hakt und klemmt an al len Ecken und Enden.“ Der Mann hat recht. Diese Einsicht kommt ein bisschen spät, aber er hat recht.
Der Hechinger Oberstaatsanwalt hegt die Besorgnis, dass die Polizeireform die Arbeit der Justizbehörden belastet. „Es hol pert“, so heißt es in der „Hohenzollerischen Zeitung“.
(Zuruf des Ministers Reinhold Gall – Gegenruf des Abg. Helmut Walter Rüeck CDU: Keine Zurufe von der Ministerbank!)
Der Oberstaatsanwalt ist überzeugt, dass die neue Ferne der Polizei zur Staatsanwaltschaft zu massiv steigenden Verfah rensdauern führen wird.
Meine Damen und Herren, nicht nur wir haben uns den Mund darüber fusselig geredet, dass durch die Schaffung der neuen Mammutpräsidien die Entfernungen zu groß geworden sind.
Die Entfernungen reichen von Büsingen am Hochrhein bis nach Isny – dazwischen ist der Bodensee –, von Philippsburg bis nach Nagold – dazwischen ist der Schwarzwald. Selbst die nach eigener Lesart ausreichend großen Behörden – das alte PP Mannheim und die PD Heidelberg – werden zusammen gelegt. Von Geisingen im Kreis Tuttlingen über Burladingen im Zollernalbkreis bis Baiersbronn im Nordschwarzwald: fünf Landkreise, drei Regierungsbezirke, eine Mammutbehörde. Gleichzeitig werden bedeutende Oberzentren wie Pforzheim oder Ravensburg zu weißen Flecken.
Hinzu kommt der kolossale Fehlstart der Reform mit der Füh rungslosigkeit der Präsidien zu Beginn, also gerade dann, wenn Führung besonders vonnöten ist,
aufgrund der Klage des Vorsitzenden des Hauptpersonalrats und Leitenden Polizeidirektors Joachim Lautensack.
Meine Damen und Herren, wir hören jetzt, dass sich in der zweiten Ausschreibungsrunde jeweils mehrere Personen auf die Führungspositionen in den Präsidien beworben haben. Das begrüße ich schon deshalb, weil es sich damit jetzt um eine Bestenauswahl handelt, wie es vorgesehen ist, und nicht um eine Besetzung nach Gutdünken.
Aber was machen Sie jetzt eigentlich, Herr Minister? Sie kön nen es jetzt eigentlich kaum mehr richtig machen. Variante 1: Sie bestätigen das bisherige Personaltableau, wie Sie es ange kündigt haben. Dann tragen die Entscheidungen den Stempel der Rechtswidrigkeit, und neue Klagen werden kommen. So ist es schon angekündigt gewesen. Variante 2: Wird einer oder werden mehrere der neuen Bewerber genommen, dann stoßen Sie doch die vorher Ernannten, die für qualifiziert gehalten wurden, vor den Kopf, und es wäre darüber hinaus das Ein geständnis, dass Sie vorher eine falsche Entscheidung getrof fen haben. Was nun? Und vor allem: Wie lange dauert es noch, bis wir hier endlich Sicherheit haben?
Meine Damen und Herren, ein weiteres Thema im Zusam menhang mit mangelnder Fürsorge ist folgendes: Viele Poli zisten erhalten derzeit wegen der immensen Entfernungen Trennungsgeld. Mit Erhalt des Gehaltszettels gab es aber ein böses Erwachen. Denn dieses Trennungsgeld deckt längst nicht alle Lasten ab, die durch die Versetzungen ausgelöst wurden. Denn man muss feststellen, dass die Kosten für die Fährkarte von Meersburg nach Konstanz oder von Friedrichs hafen nach Konstanz
Ja, es ist tatsächlich so: Sie bringen mehr Polizisten auf die Straße. Denn jetzt gibt es die Polizeiarbeit der langen Wege. Sie haben Strukturen geschaffen, die zwar für Ballungsräume tauglich sein mögen, aber für den ländlichen Raum schlicht ungeeignet sind.
Dem Kollegen Beck wurde Folgendes berichtet: Nach einem unnatürlichen Todesfall im Landkreis Freudenstadt sagte der alarmierte zuständige Kriminaldauerdienst des Polizeipräsi diums Tuttlingen – das war in den frühen Abendstunden –:
Meine Damen und Herren, wie lange geht das mit der Unter besetzung der Kriminaldauerdienste noch so weiter? Und wie lange wird es eigentlich noch so weitergehen, dass Beamte aus den Kommissariaten, die jetzt eigentlich Tagesdienst ma chen sollen, an Wochenenden und bei Nacht abkommandiert werden, um die Aufgabenwahrnehmung überhaupt noch auf rechterhalten zu können?
Zweites Beispiel: der zentralisierte Verkehrsunfallaufnahme dienst. Dem Kollegen Müller wurde Folgendes berichtet: Nach einem Verkehrsunfall auf der B 31 in der Nähe von Friedrichs hafen am Bodensee war zwar die Streife sofort vor Ort und hät te wie früher gern sofort den Unfall aufgenommen und alles ge klärt, musste aber zwei Stunden warten, bis endlich jemand vom neuen Verkehrsunfallaufnahmedienst anrückte. Sie mussten warten, bis sich das entsprechende Fahrzeug durch den aufge bauten Stau gequält hat, dessen Ursache der Unfallaufnahme dienst eigentlich hätte abbauen sollen. Was für ein Bild der Po lizei ist das eigentlich, das dabei an die Bevölkerung vermittelt wird? Da stehen sich zwei Beamte die Füße in den Bauch und dürfen nichts machen. Das ist ein verheerendes Bild, das die Polizei hier für die Bürger abgibt.
Das sind eklatante Fehler, die im System angelegt sind. Das sind keine Anfangsholperer, das sind Fehler im System. Der Kriminaldauerdienst und der Verkehrsunfallaufnahmedienst sind gute Einrichtungen für Ballungsräume, und dort gibt es sie auch schon seit jeher. Aber jetzt wurden geografische Mammutgebilde im ländlichen Raum geschaffen, und ihm wurden Strukturen übergestülpt, die nur für den Ballungsraum geeignet sind. Das musste schiefgehen, meine Damen und Herren.
Herr Minister, ich appelliere an Sie: Zeigen Sie Größe, steu ern Sie jetzt entgegen, und korrigieren Sie Fehler, die jetzt auftreten. Die Bürgerinnen und Bürger in unserem Land kön nen nicht so lange warten, bis die politischen Mehrheiten in diesem Haus wieder so sind, dass wir das erledigen können.
Ich wage weiter die Prognose, dass nicht zuletzt die langen Fahrtstrecken und anderes dazu führen werden, dass die oh nehin schon knappen Budgets der Präsidien alsbald aufge braucht sein werden. Ich frage mich – Sie sind ja für die Auf stellung des neuen Haushalts verantwortlich –: Werden auf die Präsidien zusätzlich zu diesen Lasten noch weitere Spar auflagen zukommen? Wir würden gern heute, 100 Tage nach Inkrafttreten der Polizeireform, eine Antwort auf die Frage bekommen, ob es weitere Sparauflagen für die Präsidien ge ben wird.
Meine Damen und Herren, unsere Kritik richtet sich nicht ge gen die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Polizei im Land. Diese machen im sogenannten Maschinenraum – Ihre Worte – einen super Job. Das Problem liegt auf der Brücke, bei Ih nen, Kapitän Gall. Das muss ich leider so sagen.
Da wundert es doch nicht, wenn wir jetzt schon negative Er gebnisse für die Bevölkerung im Land sehen. So hat die Zahl der Wohnungseinbrüche im vergangenen Jahr – vor der Poli zeireform – um mehr als 30 % zugenommen.