Protocol of the Session on July 20, 2011

die nur rund 10 % bestehen. Es hat nicht zu den Glücklichen gehört.

Nun kommt es in die Hauptschule. Die Klassenlehrerin emp fängt eine Truppe von vermeintlichen Verlierern. Mit großem Engagement gelingt es ihr, die Kinder zu motivieren, ihr Selbstvertrauen zu stärken, und sie belohnt sie auch mit gu ten Noten. Zum Halbjahr, spätestens zum Ende des Schuljahrs ist das Ziel erreicht: Das Kind darf über die multilaterale Ver setzungsordnung in die Realschule. Obwohl in der Verord nung steht, dass es die nächsthöhere Klasse besuchen muss, „darf“ es in der Realschule nochmals in die fünfte Klasse. Die ses Schuljahr wird dann wie Sitzenbleiben gezählt. Das Kind beginnt also wieder in der fünften Klasse.

Dass diese Schüler und Schülerinnen dann ebenso sieben Jah re bis zur mittleren Reife brauchen wie Hauptschüler, die nach der Abschlussprüfung eine zweijährige Berufsfachschule be suchen, interessiert die Eltern nicht. Sie haben sich vom Stig ma Hauptschule befreit.

Noch etwas zur Legende von der „guten Beratung“: Schon jetzt haben alle Eltern die Möglichkeit, sich an der Schule ih res Kindes in Sachen Grundschulempfehlung beraten zu las sen. Was die allermeisten Eltern, die sich von sich aus auf den Weg zu einem solchen Gespräch machen, aber vorfinden, ist keine Beratung im eigentlichen Sinn, sondern lediglich eine Aussage darüber, ob ihr Kind eine Empfehlung für die Real schule oder für das Gymnasium erhält oder nicht.

Der Druck, den sich die Eltern auferlegen und der am Ende immer beim Kind landet, ist enorm. Dass immer mehr Kinder und Jugendliche Psychopharmaka einnehmen, hat direkt mit diesem Druck zu tun. Wir alle wissen aber, dass es sich in ei nem Klima der Versagensangst nicht gut lernt. Für diejenigen Kinder nämlich, die keine Empfehlung für die Schule ihrer Wahl bekommen, handelt es sich bei der derzeitigen Grund schulempfehlung um einen Wink mit dem Zaunpfahl, dass sie zu denjenigen zählen, die es nicht geschafft haben – eine Nie derlage, die diese Kinder zutiefst beschämt.

Das ist die Realität in baden-württembergischen Grundschu len. Seit Jahrzehnten sortieren wir die Kinder, mit all diesen negativen Begleiterscheinungen. Dabei findet eine unsägliche soziale Auslese statt. Kinder aus bildungsnahen Elternhäusern erreichen eine Empfehlung für die Realschule bzw. für das Gymnasium mit einer zweieinhalb Mal höheren Wahrschein lichkeit als Kinder aus bildungsfernen Schichten. Der dicke Geldbeutel betuchter Eltern macht Nachhilfe und Lernerfolg möglich. Alternativ werden Eltern zu Hilfslehrern der Nation.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, auch ich als Schulleiter freue mich über die künftige Wahlmöglichkeit der Schülerin

nen und Schüler – keine weinenden Eltern mehr, deren Welt zusammenbricht, wenn sie erfahren, dass ihr Kind in die Haupt schule muss. Ich persönlich hörte nicht nur einmal, dass ich versuchen wolle, meine Hauptschule mit guten Übergangs zahlen zu retten.

Der Wegfall der Grundschulempfehlung bedeutet nicht zuletzt auch eine Chance für die Eltern, mehr Verantwortung für die schulische Entwicklung ihrer Kinder zu übernehmen. Der Be griff von der Schule als Lebensraum beginnt nämlich genau hier, an jener Stelle, an der die Eltern nicht nur ins Boot ge holt werden, sondern auch das Ruder übernehmen.

Die geplanten Änderungen setzen auf die Eigenverantwor tung, eine stärkere Beteiligung der betroffenen Bürger an Ent scheidungen. Diese Beteiligung wird die Gewähr dafür sein, dass die Änderungen langfristig Bestand haben werden.

Zum Schluss noch eine Anmerkung zum Antrag der Fraktion der FDP/DVP, Drucksache 15/158: Sehr geehrte Kollegen, im Beschlussteil Ihres Antrags begehren Sie,

auch nach Abschaffung ihrer Verbindlichkeit an einer förmlichen Grundschulempfehlung festzuhalten.

Heißt das, die FDP/DVP begrüßt die Abschaffung der Ver bindlichkeit? Oder heißt das: „Wir wollen weiterhin ein förm liches Verfahren“ – also doch verbindlich? Ihnen als Libera len unterstelle ich einmal, dass Sie die Freiheit der Eltern gern gegen die Bevormundung durch den Staat schützen wollen.

(Beifall bei der SPD und den Grünen – Lachen des Abg. Dr. Friedrich Bullinger FDP/DVP)

Zum Verfahren schlage ich Ihnen vor, den Antrag an den Aus schuss für Kultus, Jugend und Sport überweisen zu lassen. Denn dort wurde er noch nicht behandelt.

Herzlichen Dank.

(Beifall bei der SPD und den Grünen – Abg. Andre as Stoch SPD: Sehr gut! – Abg. Karl-Wilhelm Röhm CDU: Schwächer geht es wirklich nicht mehr! Das war eine Märchenstunde! Unglaublich!)

Im Weiteren erhält jetzt der Ver treter der Fraktion der FDP/DVP, Herr Abg. Dr. Kern, das Wort. Bitte schön.

Herr Präsident, liebe Kol leginnen und Kollegen! Liberale Bildungspolitik denkt vom Individuum her. Die FDP will, dass nicht ein einziges Kind während seines Bildungswegs zurückgelassen wird.

(Abg. Muhterem Aras GRÜNE: Sehr gut!)

Jedem Kind soll ein Höchstmaß an Chancen eingeräumt wer den.

(Beifall der Abg. Andrea Lindlohr GRÜNE)

Ich denke, dass mir bei diesen liberalen Grundüberzeugungen in diesem Hohen Haus niemand widersprechen wird.

Als Nächstes möchte ich folgende Frage stellen: Welche Kon sequenzen hat es für einen jungen Menschen, wenn er seinen

Bildungsweg nach der Grundschule auf einer weiterführen den Schule fortsetzt und alle Beteiligten nach wenigen Wo chen oder Monaten feststellen, dass sich für das Kind auf grund seiner Talente und seiner Entwicklungsstufe eine ande re Schulart besser geeignet hätte?

Die Folgen sind in allererster Linie für das Kind verheerend: Es sind häufig wiederkehrende Frusterfahrungen. Lernen, Schule, Lehrerinnen und Lehrer – dies alles wird für Monate, in manchen Fällen vielleicht sogar für ein oder zwei Jahre mit intensiven, schmerzhaften Frust- und Angstgefühlen in Ver bindung gebracht. Ich glaube, dass wir uns in dieser Analyse weitgehend einig sind.

(Widerspruch bei den Grünen)

Jetzt müssen wir die Frage diskutieren, ob die Abschaffung der verbindlichen Grundschulempfehlung diese schlimmen Frustrationserfahrungen bei unseren Schülerinnen und Schü lern eher verhindert oder eher fördert. Wir sind uns vielleicht auch darin einig, dass die verbindliche Grundschulempfeh lung umstritten ist. Bei manchen Zeitgenossen hat sie den Ruf, ein „Grundschulabitur“ zu sein. Das ist natürlich weder in haltlich noch formal richtig. Ich bitte Sie alle hier im Haus, entsprechende Aufklärung zu betreiben und die Grundschul empfehlung nicht schlechtzureden.

(Beifall bei der FDP/DVP und Abgeordneten der CDU – Zuruf der Abg. Muhterem Aras GRÜNE)

Denn es handelt sich bei der Grundschulempfehlung um eine Entscheidung der Klassenkonferenz, die in einem Beratungs verfahren und danach – aber erst dann, wenn kein Einverneh men zwischen Lehrern und Eltern hergestellt werden konnte – in einer Aufnahmeprüfung überprüft werden kann.

Ich kann sehr gut nachvollziehen, dass eine große Mehrheit der Eltern eine Gymnasialempfehlung für ihr Kind wünscht. Das ist vor allem deshalb nachvollziehbar, weil die Eltern den weiteren Bildungsweg ihrer Kinder offenhalten wollen. Des halb ist der Grundsatz „Kein Abschluss ohne Anschluss“ ent scheidend. Wichtig ist, zu bemerken, dass in Baden-Württem berg 50 % der Schüler mit Hochschulzugangsberechtigung eben nicht vom allgemeinbildenden Gymnasium, sondern aus anderen Strängen kommen.

(Zuruf des Abg. Siegfried Lehmann GRÜNE)

Es ist ein Mythos, was Sie immer wieder erzählen: In BadenWürttemberg würden Bildungschancen vom Geldbeutel der Eltern abhängen. Das stimmt einfach nicht.

(Beifall bei der FDP/DVP und der CDU)

Ihre Aufgabe ist es, aufzuklären und nicht zu verunsichern. Entscheidend für die Bildungschancen eines Kindes ist nicht die verbindliche Grundschulempfehlung, sondern ein Schul system, das ausdifferenziert ist, das für jedes Kind maßge schneidert ist. Wir Liberalen wollen für das baden-württem bergische Bildungssystem den Maßanzug und nicht die Kla motten von der Stange.

(Beifall bei der FDP/DVP und Abgeordneten der CDU)

Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von den Regierungsfrak tionen, denken von der Struktur des Bildungssystems her, wir Liberalen denken vom Menschen her.

(Oh-Rufe von den Grünen und der SPD)

Sie wollen deshalb die Einheitsschule, und Sie wollen den Einheitslehrer, weil Sie vom Modell des Einheitsschülers aus gehen.

(Abg. Andreas Schwarz GRÜNE: Das stimmt nicht!)

Die verbindliche Grundschulempfehlung wollen Sie, meine Damen und Herren von den Regierungsfraktionen, also vor allem deshalb abschaffen, weil sie nicht in Ihr Weltbild passt. Schlimm daran ist weniger die Symbolpolitik als solche, son dern dass sie leichtfertig gemacht wird, ohne die Konsequen zen zu bedenken. Sie schaffen die verbindliche Grundschul empfehlung ab, ohne Vorkehrungen für die weiterführenden Schulen zu treffen.

(Abg. Georg Wacker CDU: So ist es!)

Wie sollen Ihrer Meinung nach Schulen damit umgehen, wenn sie für einen plötzlichen Ansturm nicht genügend Kapazitä ten haben? Sollen Schüler abgewiesen werden? Und wo sol len diese dann unterkommen?

(Abg. Karl-Wilhelm Röhm CDU: Losverfahren!)

Soll es gar wie in Berlin per Losverfahren gemacht werden? Und was ist mit den Schülern, die nach einiger Zeit ihre Schu le wieder verlassen müssen, weil sie dort nicht zurechtkamen?

(Abg. Muhterem Aras GRÜNE: Individuelle Förde rung, dann passiert das nicht!)

Mit Verlaub, Frau Ministerin: Verantwortliche Bildungspoli tik stelle ich mir anders vor.

(Beifall bei der FDP/DVP und Abgeordneten der CDU – Abg. Dr. Friedrich Bullinger FDP/DVP: Rich tig!)

Warum handeln Sie in dieser Frage denn so überstürzt, ohne beispielsweise Alternativen zu einer vollständigen Abschaf fung der Grundschulempfehlung zu prüfen? Man könnte bei spielsweise die Schulen in ihrer Eigenverantwortung dahin gehend stärken, dass sie in einem selbst gewählten Aufnah meverfahren einen Schüler auch ohne zureichende Empfeh lung aufnehmen, wenn sie zu der Auffassung gelangt sind, der Schüler könne bei ihnen den angestrebten Abschluss schaf fen.

(Abg. Muhterem Aras GRÜNE: Also Abiprüfung vorher!)

Oder wie wäre es mit einer Überprüfung der Grundschulemp fehlung z. B. am Ende der sechsten Klasse? Damit könnten zusätzliche Chancen eröffnet werden, ohne das Bestehende umzustürzen.