(Beifall bei der FDP/DVP und Abgeordneten der CDU – Abg. Dr. Friedrich Bullinger FDP/DVP: Sehr gut!)
Sehr geehrter Herr Prä sident, Kolleginnen und Kollegen! Ich denke, es ist durchaus sinnvoll, sich hier wieder einmal über dieses Thema zu unter halten, denn die Welt dreht sich weiter. Es gibt mittlerweile dazu einen Bundestagsbeschluss, und es gibt auch Parteien, die hier auf Landesebene nach der Moderne suchen und sich neue oder schon bisher vorhandene Bevölkerungsgruppen wieder als Wählerinnen erschließen wollen. Ich denke, in die sem Kontext ist es sinnvoll, hier noch einmal darüber zu dis kutieren,
ob die jetzige Lösung des Betreuungsgelds den ursprünglich einmal gemeinsam angepeilten Zielen entspricht und welche Folgen wir damit eigentlich auslösen.
Ich will zu Beginn noch einmal darauf hinweisen, dass es sich bei dem Betreuungsgeld und auch bei dem Ausbauprogramm für die U-3-Betreuung nicht um ein singuläres Thema handelt, das aus Jux und Tollerei irgendwann einmal vor fünf Jahren auf die Agenda kam. Vielmehr ist es das Ergebnis des Krip pengipfels vom 2. April 2007 und der nachfolgenden Einigun gen.
Das Ganze hat auch viel damit zu tun, dass man ursprünglich einmal das dreijährige Erziehungsgeld auf das Elterngeld um gestellt hat und daher unter Zugzwang kam, damit die Eltern, wenn das Elterngeld nach zwölf oder 14 Monaten ausläuft, anschließend überhaupt die Chance haben, wieder in das Be rufsleben zurückzukehren. Daher gibt es eine logische Kon sequenz: Wer sagt, dass das Elterngeld seine Berechtigung ha be, muss dann in der Konsequenz aber auch sicherstellen, dass für jedes Kind ab der Vollendung des ersten Lebensjahrs ein Betreuungsplatz zur Verfügung steht.
Das war das wesentliche Ziel der damaligen Vereinbarung. In der Tat hat die SPD damals – das ist ja bekannt – dieser auch zustimmen müssen. Denn sonst wäre nicht einmal dieser ers te Schritt erfolgreich gewesen, und wir hätten uns weiter bei den Eltern daran versündigt, dass wir auf der einen Seite die Unterstützungsleistungen nach zwölf oder 14 Monaten ein stellen und auf der anderen Seite aber bis zum dritten Lebens jahr des Kindes, wenn dann der vorherige Rechtsanspruch gilt, keine Chance besteht, überhaupt das Recht in Anspruch zu nehmen, wieder in den Beruf zurückzukehren. Das war der Hintergrund der damaligen Einigung. Aber nachdem Sie sich nun aus der sozialistischen Umklammerung im Bund befreit haben, könnten Sie ja über diese Dinge noch einmal neu nach denken.
Im Jahr 2012, also vier bis fünf Jahre später, können wir fest stellen, dass der damals vorgesehene Ausbau in Baden-Würt temberg zunächst einmal zu langsam vonstattengegangen ist. Das hat ursächlich etwas damit zu tun, dass man die Kommu nen beim Betrieb der Kindertagesstätten zunächst völlig al leingelassen hat.
Deshalb ist es kein Zufall, dass der Ausbau in Baden-Würt temberg erst dann richtig in Gang gekommen ist, als es die neue Landesregierung den Kommunen durch die Verdreifa chung der Betriebskostenzuschüsse überhaupt erst ermöglicht hat, nicht nur zu investieren, sondern anschließend auch mit dem Betrieb zurechtzukommen.
Daher kann man jetzt darüber mäkeln, dass wir hier relativ weit hinterherhängen. Aber nur durch den Regierungswech sel wird es überhaupt erst möglich, die Quote annähernd zu erfüllen.
Nun zur zweiten Feststellung, die sich nach vier bzw. fünf Jah ren zeigt, wobei das aber eigentlich keine neue Erkenntnis ist. Die ursprünglich bundesweit zugrunde gelegte Quote von 35 % basierte schon immer auf einer fiktiven Annahme, die mehr etwas mit der Höhe des Bundeszuschusses von 4 Milli arden € und dessen Umrechnung auf Tagesplätze zu tun hat te, aber weniger mit einer echten Bedarfserhebung.
Wer jetzt von 35 % redet, dem muss klar sein, dass von An fang an jeder gewusst hat, dass das eine durchschnittliche Quote ist und dass es die Aufgabe jedes Umsetzenden vor Ort war, eine individuelle Bedarfserhebung zu erbringen und da raufhin den entsprechenden Ausbau zu gestalten.
Insofern ist jetzt nicht nur deutlich geworden, was ohnehin schon alle wussten, dass es nämlich mit dieser Quote von bun desweit 35 % womöglich nicht getan ist, sondern es ist auch deutlich geworden, dass die ursprünglich zugrunde gelegten Investitionskostenzuschüsse in Höhe von 4 Milliarden € nicht ausreichen.
Ich kann anfügen: Es ist daher schon peinlich, dass es die Län der nur durch eine Verknüpfung mit dem Fiskalpakt geschafft haben, fast 600 Millionen € zusätzlich zu bekommen. Bei der Bundesregierung hätte eigentlich von allein die Erkenntnis gegeben sein sollen, dass man das automatisch machen muss, damit man die Vorgaben des Gesetzes aus dem Jahr 2008 über haupt erfüllen kann.
Auch diese zusätzlichen fast 600 Millionen € reichen nicht aus. Das können wir jetzt schon feststellen. Daher sollten wir uns überlegen, wie wir noch mehr Mittel vom Bund akquirie ren können, anstatt uns gegenseitig vorzuwerfen, wir würden die Situation falsch einschätzen.
Nun zum dritten Punkt. Damals ist unterstellt worden, dass die Tagespflege einen großen Beitrag zur Erfüllung der Be treuungsquote leisten würde. Wir stellen fest, dass dies noch nicht der Fall ist. Erst durch die neuen Mittel der Landesre gierung, die eine Erhöhung der Tagessätze für Tagesmütter und -väter ermöglichen, und durch die Empfehlung, dass die Kosten für einen Tagespflegeplatz nicht größer als die Kosten für einen Krippenplatz sein sollten, ist zum ersten Mal wie der Bewegung in den Laden gekommen. Nun verzeichnen wir ein stärkeres Interesse von Eltern an der Tagespflege und ein größeres Interesse von Frauen und Männern, in die Tagespfle ge einzusteigen. Auch das ist ein Versäumnis, das erst seit Kurzem ausgeräumt wird.
In manchen Landkreisen werden für einen Tagespflegeplatz immer noch bis zu 900 € erhoben. Man kann sich sehr genau anschauen, welche Landkreise dies sind. Insofern stelle ich fest, dass die Tagespflege immer noch keine gleichwertige Chance hat. Diese zu erreichen ist auch deshalb notwendig, weil wir den Betreuungsanspruch sonst überhaupt nicht erfül len können. Auch hierbei zeigt sich Nachbesserungsbedarf, auf den Sie sehr positiv einwirken könnten.
Im Jahr 2012 zeigten sich aber noch weitere Erkenntnisse. Es gibt beispielsweise eine Untersuchung des in Bonn ansässi gen Forschungsinstituts zur Zukunft der Arbeit, die bereits im Frühjahr vorgestellt wurde. Dabei wurden die Auswirkungen der Einführung des Betreuungsgelds in Thüringen untersucht.
Im Rahmen dieser Untersuchung ist festgestellt worden, dass es nicht eine individuelle Wahlfreiheit ist, die Mütter und Vä ter motiviert, das Betreuungsgeld in Anspruch zu nehmen. Vielmehr sind es überwiegend Alleinerziehende, Geringqua lifizierte sowie niedrig bezahlte Arbeitnehmerinnen und Ar
beitnehmer, die das Betreuungsgeld in Anspruch nehmen, und zwar aus rein finanziellen Gründen, was nachvollziehbar ist. Diese profitieren von der Einführung des Betreuungsgelds oft auch noch dadurch zusätzlich, dass sie dann ihre Kinder im Alter zwischen drei und sechs Jahren wieder von der Kinder tagesstätte abmelden, um eine weitere Ersparnis zu erzielen. Das kann aber doch nicht der Anreiz sein, der mit der Einfüh rung eines Betreuungsgelds unter der Überschrift der Wahl freiheit gesetzt werden sollte.
Zudem ist nachgewiesen, dass vor allem Geringqualifizierte größere Schwierigkeiten haben, in das Erwerbsleben zurück zukehren, je länger sie sich selbst dem Erwerbsleben entzo gen haben.
Dies sind zwei ganz wichtige Befunde, die uns das Betreu ungsgeld sehr kritisch hinterfragen lassen müssten.
Zudem haben wir auch die wissenschaftliche Erkenntnis, dass sich eine frühe, qualifizierte, außerfamiliäre Kinderbetreuung positiv auf die Entwicklung und auch auf die Bildung aller Kinder auswirkt, nicht nur auf die Kinder aus bildungsfernen Schichten, sondern auch auf Kinder, die aus Elternhäusern kommen, die in der Lage sind, ihre Kinder optimal zu fördern. Selbst diese Kinder profitieren von einem Krippenbesuch, und zwar mit einem Vorsprung von bis zu einem Jahr, was sozia le Kompetenzen, was Sprachfähigkeit und anderes betrifft. Umso mehr gilt das für die Kinder, die dieses Umfeld zu Hau se nicht vorfinden.
Wenn ich das mit dem Ergebnis aus Thüringen verknüpfe, dass vor allem genau aus diesen Familien die Kinder dann nicht nur nicht zugeführt, sondern auch noch abgemeldet wer den, dann muss ich mir schon die Frage stellen, ob das Be treuungsgeld überhaupt mit dem Anspruch des Artikels 11 der Landesverfassung in Übereinstimmung zu bringen ist, der das Land verpflichtet, sicherzustellen, dass alle Kinder entspre chend ihren Fähigkeiten und Talenten ausreichend gebildet und gefördert werden. Auch das müssen wir an dieser Stelle berücksichtigen.
Nun will ich hier gar nicht mit Ihnen darüber in Streit gera ten, ob es richtig ist, eine Wahlfreiheit einzuräumen oder nicht. Ich halte das grundsätzlich für einen berechtigten Anspruch. Aber wenn Sie Wahlfreiheit ernst nehmen und wenn Sie sa gen: „Jemand sollte die Möglichkeit haben, sich auch bis zur Vollendung des dritten Lebensjahrs des Kindes frei dafür zu entscheiden, zu Hause zu bleiben“, dann müssten wir über die Erweiterung des Elterngelds bis zum vollendeten dritten Le bensjahr des Kindes diskutieren. Denn nur das sichert die wirt schaftliche Existenz der jeweiligen Person, weil es einkom mensabhängig ist und dann ein entsprechender Ausgleich ge geben ist.
Wenn Sie diese Wahlfreiheit aber an das Betreuungsgeld knüpfen und das Betreuungsgeld 100 oder 150 € beträgt,
dann ist es nur eine Wahlfreiheit für die Eltern, die ansonsten zu wenig verdienen, gar nichts verdienen, oder für die Allein erziehenden, die nicht die Chance haben, überhaupt etwas zu
Was noch schlimmer ist: Sie verknüpfen die Wahlfreiheit, beim Kind zu Hause zu bleiben und dafür dann das Betreuungsgeld zu bekommen, damit, dass man auf eine außerfamiliäre Kin derbetreuung verzichtet. Sie verknüpfen damit die Wahlfreiheit mit einem Verzicht auf eine anerkannt positive zusätzliche Bil dungsinstitution, auf ein anerkannt positives zusätzliches Bil dungsangebot für die Kinder. Das ist ja nun überhaupt nicht zu verantworten. Wenn Sie Wahlfreiheit wollen, dann sollten Sie die Erweiterung des Elterngelds verlangen, aber dieses nicht zulasten von Bildung und entsprechenden zusätzlichen Ent wicklungsmöglichkeiten für die Kinder ansetzen.
Das Betreuungsgeld setzt die falschen Anreize, es verknüpft das Thema des Besuchs einer außerfamiliären Bildungs- und Betreuungseinrichtung mit einer scheinbaren Wahlfreiheit. Wenn Sie Wahlfreiheit ohne Nachteile für die Kinder ernst nehmen wollten, dann müssten Sie auch die Eltern zur Teil nahme ihres Kindes an diesem Bildungsangebot motivieren, die sich für eine Erziehung zu Hause entscheiden.
Das Geld fehlt zudem zuvorderst woanders: Wir brauchten diese 1,1 Milliarden € dringend für den weiteren Ausbau der Kinderbetreuung. Denn Wahlfreiheit setzt auch voraus, dass es überhaupt erst einmal genug Plätze gibt, um diese Wahl freiheit zu ermöglichen.
Daher setzen Sie, setzen wir mit dem Betreuungsgeld die fal schen Prioritäten. Deshalb wäre es angemessener gewesen, kritisch zu reflektieren, welches die Grundlagen für die Ent scheidung im Jahr 2007 bzw. 2008 waren, und jetzt festzustel len, dass wir hier die falschen Anreize setzen, dass wir mit un serem Ausbau der Betreuungsangebote nicht das erfüllen kön nen, was eigentlich gemeinsam vereinbart war, dass wir dann auch noch Geld an der falschen Stelle einsetzen.
Das Ganze verschleiert auch noch, dass wir eigentlich über et was ganz anderes sprechen müssten, nämlich: Wie wollen wir zusammen mit den Kommunen den Rechtsanspruch eigentlich erfüllen? Mit welchen Mechanismen wollen wir sicherstellen, dass wir das, was wir den Eltern versprochen haben, im nächs ten Sommer überhaupt umsetzen können? Wie wollen wir da mit umgehen, dass die Kosten beispielsweise für die Tagespfle ge zum Teil noch so hoch sind, dass die Inanspruchnahme die ser Angebote für die Eltern immer noch nicht attraktiv und in teressant wird? Wie wollen wir uns dann am Ende überhaupt auch dem Thema nähern, wie es bei der Erhöhung der Gebur tenrate und der Erwerbstätigenquote weitergeht? Denn das sind ursprünglich auch einmal die Ansätze gewesen, die uns in die se Diskussion geführt haben. Sie scheinen mir im Moment et was leichtfertig in Vergessenheit zu geraten.
(Beifall bei den Grünen und der SPD – Abg. Dr. Timm Kern FDP/DVP: Sie haben doch die Aktuelle Debatte beantragt!)
Kolleginnen und Kollegen! Ich bin gespannt, ob ich später im Protokoll bei den Ausfüh rungen von Herrn Dr. Mentrup den Vermerk finde: „Betrete nes Schweigen bei der Opposition“.