Wir alle wissen auch, dass die Einführung der Werkrealschu le mit einem Sturmlauf an Kritik der Verbände, Lehrer und Eltern verbunden war. Heute ist aber nicht die Zeit zurückzu blicken, sondern wir blicken nach vorn. Darum werden wir die Werkrealschulen mit ihrem vorhandenen Potenzial wei terentwickeln und unterstützen.
Eine gute Werkrealschule ist ein erfolgreiches Etappenziel auf dem Weg zu vielfältigeren, wohnortnahen Schulen im ganzen Land. Wir sehen an vielen Werkrealschulen das Potenzial, sich eigenständig oder gemeinsam mit anderen Schulen zu Ge meinschaftsschulen weiterzuentwickeln
und somit eine Schule für eine noch breitere Schülerschaft zu werden. Diese Entwicklung ist aber nur möglich, wenn wir diesen Schulen jetzt die Zeit geben, sich weiterzuentwickeln, und dafür die erforderlichen Rahmenbedingungen bereitstel len.
(Abg. Karl-Wilhelm Röhm CDU: Da hätten Sie nicht so lange reden müssen! Damit hätten Sie beginnen können!)
Meine Damen und Her ren, ich habe die große Freude und Ehre, unter unseren Gäs ten auf der Zuhörertribüne den griechischen Generalkonsul Panayotis Partsos begrüßen zu dürfen. Herzlich willkommen im Landtag!
Herr Generalkonsul, ich wünsche Ihnen eine erfolgreiche Amtszeit und freue mich auf die Fortsetzung der guten Zu sammenarbeit zwischen dem Landtag von Baden-Württem berg und Ihrem Generalkonsulat.
Frau Präsidentin, meine sehr ge ehrten Kolleginnen und Kollegen! Die Zukunft der Werk realschule beschäftigt das Hohe Haus nicht erst mit der vom Staatssekretär vorgestellten Gesetzesänderung. Erst am 13. Ok tober dieses Jahres haben wir zum gleichen Thema intensiv
über einen Antrag der FDP/DVP-Fraktion beraten. Wie hat der Städtetag in seiner Stellungnahme zu dem Gesetzentwurf der Landesregierung so trefflich formuliert?
Keine andere Schulart ist in den letzten Jahrzehnten auch nur annähernd so oft und grundlegend mit Änderungen konfrontiert worden wie die Hauptschule und mit ihr die Werkrealschule.
Wenn an anderer Stelle deshalb von „Reformitis“ gesprochen wird, was sich wie eine Krankheit anhört, dann sage ich Ih nen, warum alle Ihre unterschiedlichen Ansätze zur Heilung gescheitert sind: Ihre Diagnose ist falsch. Die Krankheit be steht darin, dass alle Kinder nach der vierten Klasse getrennt werden, dass noch immer der Glaube vorherrscht, die besten Bildungserfolge würden in möglichst homogenen Gruppen erzielt.
Ich möchte nicht alles wiederholen, was ich in der letzten De batte über die früheren Versuche zur Rettung der Hauptschu le gesagt habe.
(Abg. Dr. Friedrich Bullinger FDP/DVP: Herzlichen Dank! – Heiterkeit des Abg. Karl-Wilhelm Röhm CDU)
Aber mir ist schon wichtig, eines festzuhalten: Dass heute nur noch 2 % der Eltern für ihre Kinder die Schulart Hauptschu le bzw. Werkrealschule bewusst auswählen, zeigt das Dilem ma, in dem sich all diejenigen befinden, die krampfhaft an der Dreigliedrigkeit des Schulwesens festhalten.
Ihre frühere Vordenkerin, Annette Schavan, hat dies erkannt. Sie, sehr geehrte Damen und Herren von CDU und FDP/DVP, werden dies auch noch erkennen. Erkenntnisgewinn tut manch mal weh, besonders dann, wenn man in kurzer Zeit in ver schiedensten Politikfeldern Kehrtwendungen vollziehen muss.
An diesen Fakten kommen Sie nicht vorbei, auch wenn Sie keine Gelegenheit auslassen, den Bildungsaufbruch der grünroten Landesregierung dafür verantwortlich zu machen. Wis sen Sie, was besonders bitter ist? Das außergewöhnliche En gagement von vielen Lehrerinnen und Lehrern, Eltern, Schul leitungen und Bildungspartnern konnte die Akzeptanz der Hauptschulen und Werkrealschulen nicht steigern, im Gegen teil. Diese Schulen haben ein tolles Profil.
Sie bringen sie nach vorbildlicher Berufsvorbereitung direkt im Beruf oder in weiterführenden beruflichen Schulen unter. Trotzdem finden sie keinen Zuspruch. Die Eltern sehen das Heil für ihre Kinder nur in der nächsten Realschule oder im Gymnasium.
Mit der beabsichtigten Gesetzesänderung wollen und können wir nicht das korrigieren, was sich über Jahre hinweg entwi ckelt hat und was auch die Erfindung der „Werkrealschule
neu“ nicht aufhalten konnte: den Trend zu einem höherwerti gen Bildungsabschluss, wobei das Wort „höherwertig“ durch aus kritisch zu hinterfragen ist.
Deswegen und auch wegen der weiter zurückgehenden Schü lerzahlen werden in den kommenden Jahren weitere Haupt schulen und Werkrealschulen ihre Pforten schließen. Denn die Abstimmung mit den Füßen geht weiter.
Wenn nun im kommenden Jahr auch einzügige Hauptschulen ein zehntes Schuljahr anbieten dürfen, so kann dies zu einer Stabilisierung der Situation vor Ort führen. Dies revidiert die unsägliche Einführung der „Werkrealschule neu“ und stellt fast den alten Zustand wieder her.
Weil sie von Schülern wie auch von Lehrern positiv aufge nommen wurden, behalten wir die Wahlpflichtfächer in den Klassen 8 und 9 und führen sie auch in Klasse 10 weiter. Der Wegfall der Notenhürde und die Möglichkeit, erst am Ende der zehnten Klasse den Hauptschulabschluss zu erhalten, er öffnet den Schulen die Möglichkeit, die Jugendlichen so lan ge zu begleiten, bis sie ihrem Lerntempo angepasst ausbil dungsreif sind.
Der Hauptschulabschluss der zwei Geschwindigkeiten kommt insbesondere den schwächeren Schülern zugute, denn diese brauchen mehr Zeit.
Zeit ist das, was unsere Kinder in einer immer komplexer wer denden Gesellschaft benötigen – übrigens auch eine gute Op tion für Schüler aus der Förderschule,
An dieser Stelle möchte ich nicht verhehlen, dass ich mich persönlich, ebenso wie viele Kolleginnen und Kollegen, mit der Einführung der Werkrealschule, des zehnten Schuljahrs und des mittleren Bildungsabschlusses Mitte der Neunziger jahre schwergetan habe. Die Akzeptanz dafür hat gefehlt. Vie le Schülerinnen und Schüler haben den bewährten Weg über eine zweijährige Berufsfachschule zur mittleren Reife gewählt oder sind direkt in den Beruf eingestiegen.
Die wenigen Standorte mit einem zehnten Schuljahr mussten immer bangen, genügend Schülerinnen und Schüler für eine zehnte Klasse zusammenzubekommen. Wenn dies nicht ge lang, wechselten diese Schüler für ein einziges weiteres Jahr an eine fremde Schule. Dort haben sie sich angestrengt und häufig einen ordentlichen Werkrealschulabschluss erreicht. Das Suggerieren der Vergleichbarkeit des Realschulabschlus ses mit dem Werkrealschulabschluss hat dann aber zu Irrita tionen geführt, verursacht durch bewusste oder unbewusste Irreführung.
Ihre letzte Novelle zur Hauptschule und zur Werkrealschule hatte zum Ziel, dass 50 % der Hauptschüler in ein zehntes Schuljahr wechseln. Diese Annahme lag ebenso daneben wie schon diejenige 15 Monate zuvor bei der Einführung der Werkrealschule. Im Schuljahr 2010/2011 entschieden sich lan desweit gerade einmal 17 % der Neuntklässler für die Werk realschule. Ob sich dies nun ändert, wissen wir nicht. Aber ich bin sicher, dass sich einige dieser Schulen auch auf den Weg machen, Gemeinschaftsschulen zu werden. Dort werden Kin der nicht ausgegrenzt und stigmatisiert, sondern dürfen sich ihrem Lerntempo und ihren Fähigkeiten entsprechend unter schiedlich entwickeln.
(Beifall bei der SPD und Abgeordneten der Grünen – Abg. Karl-Wilhelm Röhm CDU: Werden Kinder an Ihrer Schule stigmatisiert?)
Sehr geehrte Damen und Herren von CDU und FDP/DVP, ich finde, Sie machen es sich zu leicht, wenn Sie uns für Ihre Bil dungspolitik der vergangenen Jahrzehnte verantwortlich ma chen wollen.
Dass seit Jahren die Übergangszahlen in die Hauptschule schrumpfen und deswegen Schulstandorte aufgegeben wer den müssen, ist nicht das Verschulden der früheren Oppositi on und der heutigen Regierungsfraktionen. Mit Erlaubnis der Präsidentin zitiere ich aus dem Plenarprotokoll vom 13. Ok tober. Dort argumentieren Sie, Herr Kollege Müller, so: