Protocol of the Session on December 9, 2015

(Abg. Claus Schmiedel SPD: Das habt ihr jahrelang verschlafen!)

Ich möchte sagen: Wir – wer denn, wenn nicht wir? – müssen bei diesem Thema in der Bundesrepublik Deutschland viel weiter nach vorn kommen.

Ich möchte zum Ende meiner Rede auch einen persönlichen Dank an den Landes-Behindertenbeauftragten Weimer aus sprechen. Ich möchte ausdrücklich sagen, dass ich als Oppo sitionsabgeordneter es sehr erfrischend fand, wie offen er die

Themen behandelt hat und dass er keine Scheuklappen gehabt hat, der Landesregierung zu sagen, wo sie Defizite hat.

Herzlichen Dank.

(Beifall bei der CDU und Abgeordneten der FDP/ DVP)

Für die Fraktion GRÜNE erteile ich das Wort dem Kollegen Poreski.

Herr Präsident, meine sehr verehrten Damen und Herren! Lieber Herr Kollege Raab, der Landes-Behindertenbeauftragte hat meines Wissens an keiner Stelle Punkte gefunden, wo die Vorschläge der CDU-Land tagsfraktion in irgendeiner Weise inklusionsfördernder gewe sen wären als das, was die Landesregierung gemacht hat.

(Beifall bei den Grünen und Abgeordneten der SPD)

Wir wissen alle, dass die Geschichte der Menschenrechte, der Verwirklichung der grundlegenden Menschen- und Bürger rechte noch gar nicht so alt ist. Das wird in der tagesaktuellen Debatte oft übersehen. Wir haben hier im Landtag vor einer Woche eine Verfassungsänderung beschlossen, die allen Kin dern das Recht auf gewaltfreie Erziehung garantiert. Das wä re vor wenigen Jahren noch undenkbar gewesen. Die Rechte von Frauen und Kindern und die Gleichberechtigung von Min derheiten sind auch in Europa nicht von selbst entstanden, sondern waren über Jahrzehnte heftig umstritten und wurden in heftigen politischen Diskursen hart erstritten. Sie müssen immer wieder aufs Neue gesichert und verteidigt werden. Das lehrt uns nicht zuletzt die aktuelle Flüchtlingsdebatte.

Speziell die Entwicklung der Rechte von Menschen mit Be hinderungen zeigt, wie schwierig das ist. Von der Ächtung und Massenvernichtung über Strategien des Wegsperrens und Aus grenzens war es bis zur Integration, also der fürsorglichen Ak zeptanz von Menschen mit Behinderungen seit den Siebziger jahren, ein steiniger und sehr weiter Weg. Die Wegbereiter der Integration, darunter auch die Sonderpädagogik und die Be hinderteneinrichtungen, haben sich um unsere Gesellschaft verdient gemacht, indem sie menschenwürdige Lebensbedin gungen und auch das Recht auf Bildung für behinderte Men schen erstritten.

(Beifall bei den Grünen und Abgeordneten der SPD)

Die Einrichtung, in der ich bis zu meiner Wahl als Geschäfts führer tätig war, hatte bereits 1973 den bundesweit ersten Heimbeirat für Menschen mit geistiger Behinderung, der wirk liche Mitbestimmungsrechte hatte. Auch das war ein Meilen stein.

Die Integrationspioniere wurden aber bereits in den Siebzi gerjahren angetrieben von einer Selbsthilfebewegung behin derter Menschen, die mehr wollten. Die sogenannte Krüppel bewegung forderte nicht weniger als die volle gesellschaftli che Teilhabe und die Abkehr von jeglicher Sonderwelt. Es dauerte dann nochmals weitere Jahrzehnte bis 2009, bis die von der UN-Behindertenrechtskonvention geforderte volle ge sellschaftliche Teilhabe von Menschen mit Behinderungen, die sogenannte Inklusion, dann auch geltendes Recht in Deutsch land wurde.

Dennoch haben bis heute die meisten nicht behinderten Kin der während ihres Aufwachsens keinen wirklichen Kontakt zu behinderten Altersgenossen. Auch das gehört zur Realität. Auch an der Verankerung der UN-Behindertenrechtskonven tion in den Einzelgesetzen arbeiten wir bis heute.

Grün-Rot hat hier – auch das wird der Landes-Behinderten beauftragte bestätigen – in relativ kurzer Zeit sehr viel auf den Weg gebracht.

(Beifall bei Abgeordneten der Grünen)

Baden-Württemberg ist eben nicht mehr Schlusslicht im In klusionskonzert der Bundesländer – das waren wir –, sondern ganz vorn mit dabei.

Das Wunsch- und Wahlrecht auf inklusive Bildung ist hierfür ein Beispiel, ein Gesetz mit Augenmaß, das das individuelle Recht auf inklusive Bildung garantiert und zugleich eine or ganische regionale Schulentwicklung ermöglicht. Es ist also inklusiv und zugleich regional stimmig. Daran ändern auch die Märchen nichts, die Sie, Herr Raab, jetzt hier in diesem Zusammenhang gern wiederholen, wonach Grüne die Sonder schulen abschaffen würden.

(Abg. Werner Raab CDU: Wollen, nicht würden!)

Ich betone nochmals – Sie kennen mich –: Ich habe an mei ner Position – ich bin der zuständige fachpolitische Sprecher meiner Fraktion – in dieser Wahlperiode nichts ändern müs sen, sondern ich habe mich auf ganzer Linie durchgesetzt.

(Beifall bei Abgeordneten der Grünen)

Wir haben damit ein Gesetz geschaffen, das Veränderungen anstößt, aber nichts überstülpt, und allen Beteiligten mit Wert schätzung begegnet, mit Respekt für ganz unterschiedliche Traditionen und Entwicklungen in den Regionen und Kreisen unseres Landes. Wir haben inzwischen das bundesweit beste Landes-Behindertengleichstellungsgesetz – auch das ist eine Tatsache –, das Menschen mit Behinderungen sowohl auf der Landesebene als auch auf der kommunalen Ebene das Recht auf umfassende Mitbestimmung und Barrierefreiheit gibt.

(Beifall bei Abgeordneten der Grünen)

Wir haben mit großer öffentlicher Beteiligung unter der Fe derführung unseres Landes-Behindertenbeauftragten Gerd Weimer, dem auch ich zu großem Dank verpflichtet bin, ei nen Landesaktionsplan erstellt, der Inklusion für alle gesell schaftlichen Bereiche und Politikfelder durchbuchstabiert und der eine ebenso anspruchsvolle wie reizvolle politische Her ausforderung markiert. Wir schaffen mit vielen Förderinstru menten und regionalen Inklusionskonferenzen die Vorausset zung dafür, dass sich unglaublich viele Menschen in unserem Land auf den Weg machen und gemeinsame Wege suchen und erkunden.

Allerdings: Viele Menschen im Land haben noch immer Scheu und Vorurteile im Umgang mit Menschen mit Behinderungen, und zwar umso mehr, je mehr sie in getrennten Welten leben, und umso mehr, je weniger sie Menschen mit Behinderungen als einen bereichernden Teil gesellschaftlicher Normalität er leben konnten. Es muss also nicht nur um politische Rahmen setzung gehen, sondern zugleich auch um einen Wandel in den Köpfen.

Der Übergang von der Integration zur Inklusion steht für ein Kernstück grüner Sozialpolitik nach dem Grundsatz „Teilha be statt Fürsorge“. Viele Menschen bedürfen der staatlichen oder gesellschaftlichen Fürsorge. Diese steht ihnen selbstver ständlich auch zu. Vorrangig und vorgelagert ist aber das Prin zip der Befähigung, des Empowerments als Voraussetzung für gesellschaftliche Teilhabe. Auch benachteiligte Menschen müssen durch persönliche Unterstützung in die Lage versetzt werden, sich selbst zu vertreten, sich gleichberechtigt am kul turellen und sozialen Leben zu beteiligen, sich in der Gesell schaft ungehindert zu bewegen und auf Augenhöhe mit Be hörden zu sprechen. Das ist das Prinzip des Nachteilsaus gleichs. In einer hilfreichen Umgebung sind unterstützungs bedürftige Menschen eben nicht hilflos.

Dafür werden z. B. im Rahmen des Landes-Behinderten gleichstellungsgesetzes in allen Stadt- und Landkreisen unab hängige Behindertenbeauftragte geschaffen und vom Land fi nanziert. Sie beraten behinderte Menschen überparteilich und unabhängig von den Stadt- und Landkreisen über ihre Rech te und über den Umgang mit Behörden. In einem obrigkeits staatlichen Verwaltungsdenken ist das eine Provokation und nährt den Verdacht, hier würden Menschen aufgestachelt. In einer aufgeklärten sozialen Bürgergesellschaft ist das Bild aber ein ganz anderes: Menschen, die Unterstützung erfahren und über ihre Rechte aufgeklärt sind, können eine innere Sou veränität im Umgang mit Behörden gewinnen, und sie haben weniger Anlass, mit ohnmächtiger Wut zu reagieren.

(Beifall des Abg. Alexander Schoch GRÜNE)

Dass eine solche unabhängige Beratung inzwischen auch von vielen staatlichen Institutionen geschätzt wird, bestätigt den Mentalitätswandel auch dort. Denn so können viele Konflik te in einem konstruktiven Dialog geklärt werden.

(Beifall bei Abgeordneten der Grünen)

Die Betroffenen kommen zu ihrem Recht, verstehen zugleich, wo ein Widerspruch keinen Sinn macht, aber ebenso, wo ein Widerspruch oder ein Rechtsstreit aussichtsreich ist, neuer dings auch über ein eigenes Klagerecht für anerkannte Behin dertenverbände. Dass über dieses Empowerment auch die Ver mittlungschancen auf dem Arbeitsmarkt steigen, ist ein will kommener Nebeneffekt. Inklusion kommt – das ist offensicht lich – mit Grün-Rot gut voran.

Wir haben noch viel vor, von der inklusiven frühkindlichen Bildung über regionale Behindertenbeiräte bis hin zu einer verlässlichen Bedarfsbemessung sowie einer fairen Teilhabe am Arbeitsmarkt. Eine verlässliche Bedarfsbemessung, lieber Herr Kollege Raab, wäre die Voraussetzung dafür, dass keine vernünftige Behinderteneinrichtung noch finanzielle Nöte hät te, denn dann hätten wir eine objektive Bedarfsbemessung und nicht das Aushandeln auf Basarebene, das wir heute an vielen Stellen haben. Ich weiß auch vom Liga-Gespräch – das haben Sie offensichtlich anders interpretiert als ich –, dass man dies auch dort als das zentrale Problem und auch als den zentralen Lösungsansatz ansieht.

Das heißt, wir müssen uns nicht zuletzt über unsere BundLänder-Kooperation weiterhin für ein Bundesteilhabegesetz einsetzen, das endlich auch im Bundesrecht die UN-Behin dertenrechtskonvention ernst nimmt und die Eingliederungs

hilfe aus den Zwängen der Sozialhilfe befreit. Dann haben wir auch eine andere Bedarfsbemessung.

Vielen Dank.

(Beifall bei den Grünen)

Für die Fraktion der FDP/DVP erteile ich dem Kollegen Haußmann das Wort.

Sehr geehrter Herr Prä sident, liebe Kolleginnen und Kollegen! Ziel der Erklärung über die Rechte der Menschen mit Behinderung und der UNBehindertenrechtskonvention war und ist die Beseitigung von Diskriminierung, und es ist die gleichberechtigte Teilhabe für alle Menschen mit Behinderung.

Diskriminierung beginnt schon mit der Sprache. Noch immer ist es nicht selbstverständlich, den Menschen mit all seinen Talenten im Vordergrund zu sehen und sich bewusst zu sein, dass Behinderung eben nur ein Merkmal von vielen ist. Viel zu häufig wird nicht von Menschen mit Behinderungen ge sprochen, sondern von Behinderten. Wenn man den Titel der Aktuelle Debatte sieht, dann erkennt man, dass auch die SPD noch ein wenig Nachholbedarf hat, diesem Bewusstseinswan del gerecht zu werden. Wir sollten uns angewöhnen, von Men schen mit Behinderungen zu sprechen und nicht von Behin derten.

(Beifall bei der FDP/DVP und Abgeordneten der CDU – Zuruf des Abg. Claus Schmiedel SPD)

Die FDP/DVP Baden-Württemberg hat 2010 in Offenburg ei nen Leitantrag beschlossen: „Barrierefrei statt Hürdenlauf – Grundsätze einer liberalen Politik für Menschen mit Behin derung“. Ich zitiere daraus:

Die FDP/DVP Baden-Württemberg bekennt sich zu einer freien und vielfältigen Gesellschaft, in der sich Menschen mit und ohne Behinderung frei entfalten können und res pektvoll miteinander leben und umgehen. Das Recht auf selbstbestimmte und gleichberechtigte Teilhabe an allen Bereichen des Lebens darf niemandem aufgrund körper licher, geistiger oder seelischer Einschränkungen ver wehrt bleiben. Im Vordergrund steht die Achtung der Wür de, der Entscheidungsfreiheit sowie der Unabhängigkeit aller Menschen. Auf der Grundlage dieser individuellen Autonomie muss das Zusammenleben in der Gesellschaft freiheitlich gestaltet werden. Die in der UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderung veran kerten Ziele und Grundsätze bestimmen unser Handeln.... Daher ist der Gedanke der sozialen Inklusion Leitbild unserer Politik.

Meine Kolleginnen und Kollegen, vieles ist in den letzten Jahrzehnten erreicht worden, aber es stehen noch viele Her ausforderungen an. Meine Vorrednerinnen und Vorredner ha ben das auch schon ausgeführt. Ich will noch einige Stichwor te nennen.

Inklusion an Schulen: Eigentlich hätte es im Interesse aller im Landtag vertretenen Fraktionen sein müssen, ein gemeinsa mes Inklusionskonzept zu entwickeln. Eine interfraktionelle Arbeitsgruppe mit externen Sachverständigen hatte die FDP/ DVP-Fraktion dazu vorgeschlagen. Obwohl sich alle Sach

verständigen im Grundsatz zur Inklusion bekannt hatten, ha ben aber die kritischen und besorgten Stimmen bei Weitem überwogen, und zahlreiche Stimmen haben Nachbesserungs bedarf angemahnt.

Landes-Behindertengleichstellungsgesetz: Es sind viele gute Schritte in das Gesetz aufgenommen worden, aber es bleiben viele Fragen der Finanzierung noch offen. Unsere Fraktion hat kritisiert, die hauptamtlichen Behindertenbeauftragten in den Stadt- und Landkreisen zu implementieren, zu institutio nalisieren. Wir werden jedes Jahr 3 Millionen € für die insti tutionelle Förderung aufbringen müssen.

Wenn ich ein konkretes Beispiel ansprechen darf, dann möch te ich einmal auf Folgendes hinweisen: Seit ich im Landtag bin, fordere ich z. B. massiv die Barrierefreiheit an unseren S-Bahn-Haltestellen. Aber auch hier wird immer das Thema Finanzierung in den Mittelpunkt gestellt. Angesichts dessen möchte ich meine Forderung wiederholen, dass wir darauf achten müssen, dass wir nicht verstärkt in Institutionen inves tieren, sondern dass wir entsprechend in die Projekte inves tieren.

(Beifall bei der FDP/DVP)

Genauso ist es beim Landesaktionsplan. Darin befinden sich viele gute Ansätze; es ist ein guter Leitfaden. Aber eben auch dort sind sehr viele Finanzierungsfragen offen.

Die UN-Behindertenrechtskonvention beinhaltet sehr viele Absichtserklärungen. Aber wenn tatsächlich die Inklusion und die Optionen zur freien Wahl der Teilhabe – beispielsweise in der Schule, beim Wohnort oder bei den Wohnformen, beim Arbeitsplatz, bei der Gesundheitsversorgung und bei der Mo bilität – ausgeweitet werden sollen, scheitert es eben oft an ei ner ausreichenden Finanzierung.